fK 2/02 Beller

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Eingewöhnung in die Krippe

Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress

von E. Kuno Beller

Eingewöhnung ist häufig für alle Beteiligten eine Stresssituation. Aus diesem Grund sollte die Gestaltung der Eingewöhnung in die Krippe alle Beteiligten berücksichtigen: die verantwortlichen familiären Betreuungspersonen, das Kind, die Gruppenerzieherin und die Kindergruppe. Die Eingewöhnung darf sich nicht nur auf das Kind beziehen, denn man hilft ihm wenig, wenn man nur auf seine Bedürfnisse eingeht, an die beteiligten Erwachsenen aber lediglich Forderungen stellt und ihnen über ein „Eingewöhnungsprogramm“ Anweisungen für ihr Verhalten gibt. Einem solchen programmatischen Ansatz (z.B. Laewen u.a., 1992) liegt ein Bild des Kindes zugrunde, das dieses als hilflos betrachtet. Mutter und Familie werden idealisiert, während außerfamiliäre Betreuung zumindest implizit als Risiko für eine ungestörte und gesunde Entwicklung des Kindes betrachtet wird. Im hier vorgestellten Ansatz geht es ganz wesentlich darum, alle an einer Eingewöhnung beteiligten Eltern und Erzieherinnen zu unterstützen: Sie sollten nicht noch weiter durch Instrumentalisierung für die Eingewöhnung des Kindes und Hinweise auf Risiken durch Fremdbetreuung für den Fall, dass sie Anweisungen nicht befolgen, belastet werden.

Bevor ich zu der Darstellung des Modells übergehe, möchte ich auf das soziale Umfeld der Eingewöhnungssituation eingehen, durch das die beteiligten Erwachsenen entlastet und unterstützt werden können.

Das soziale Netz der Eltern

Die Eltern sind Teil eines sozialen Netzes, das sich aus der eigenen biologischen Familie, Verwandten, Freunden und Nachbarn zusammensetzt. Wenn es irgend möglich ist, sollte man besonders alleinerziehende Elternteile ermutigen, die Last der Trennung nicht in Isolation zu tragen, sondern von ihrem sozialen Netz Gebrauch zu machen (z.B. von einem Partner, von Verwandten oder Freunden).

Eine weitere Quelle des sozialen Umfeldes, die meines Wissens nur selten unterstützend genutzt wird, sind Eltern von anderen Krippenkindern, besonders solche, die die Erfahrung der Eingewöhnung bereits gemacht haben und bereit sind, eine unterstützende Rolle für die neuen Eltern zu übernehmen.

Das soziale Netz der Krippenbetreuerinnen

Das Team als soziales Netz der Krippenbetreuerinnen kann die einzelne Betreuerin in der Eingewöhnungssituation unterstützen. In informellen Gesprächen und Teamsitzungen kann die betroffene Betreuerin ihre Erfahrungen mit Kolleginnen austauschen und dadurch emotionale Unterstützung und Perspektiven für ihr eigenes Verhalten gewinnen sowie neue Ideen und Ermutigung schöpfen. Auch die Leitung kann dabei eine wichtige unterstützende Rolle spielen. Diese Empfehlungen setzen allerdings voraus, dass es keine gravierenden Team- und Autoritätskonflikte in der Einrichtung und keine ausgeprägte Intoleranz für neue Ideen gibt.

Die Vorbereitung der Erzieherinnen zur Gestaltung der Eingewöhnung

Als erster Schritt erscheint mir eine Fortbildung des Personals der Kindertagesstätte hilfreich. In dieser Fortbildung sollte die Konzeption der Eingewöhnung vorgestellt und diskutiert werden. Ein zentrales Thema ist dabei die generelle Bedeutung einer kürzeren oder längeren zur Verfügung stehenden Zeit für die Anpassung oder für den Umgang eines Menschen mit wichtigen Veränderungen in seiner sozialen Umwelt. Ein zweites wichtiges Thema sind die gesellschaftlichen Vorurteile gegen außerfamiliäre Tagesbetreuung für Kinder in den ersten Lebensjahren und Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zu diesem Thema.

Die Bedeutung der allmählichen Eingewöhnung für alle Beteiligten

Nahezu 150 Jahre lang waren Krippen in Deutschland medizinisch ausgerichtet und ärztlich kontrollierte Einrichtungen. Um Säuglinge vor Ansteckung und Infektion zu schützen, mussten sie den Kinderkrankenschwestern und Kinderpflegerinnen von den Eltern überreicht werden, ohne dass diese die Räume der Krippe betreten durften. Die Trennung war bedingungslos und kurz. Neben den medizinischen Erwägungen wegen der hohen Kindersterblichkeit spielten weit verbreitete pädagogische Einstellungen des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle: Das Kind sollte nicht verwöhnt werden, was sich am klarsten in der negativen Einstellung gegenüber ungehemmtem kindlichen Ausdruck von Schmerz ausdrückte. Diese Einstellung hat viel mit Verdrängung und Verneinung von Gefühlen und Emotionen zu tun. Noch heute sind viele Betreuerinnen in Krippen und viele Eltern der Meinung, dass eine schnelle kurze Trennung am besten ist. Deshalb ist es wichtig aus psychologischer Sicht zu klären, warum eine allmähliche Eingewöhnung einer abrupten vorzuziehen ist.

Eine allmähliche Veränderung erlaubt es einer Person, sich aktiv mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Abrupte plötzliche Veränderungen versetzen den Betroffenen in eine passive und hilflose Position. Wenn eine Person, sei es ein Kind oder Erwachsener, sich frustriert und hilflos fühlt, ist die Wahrscheinlichkeit von Reaktionen wie Wut und Verdrängung sehr hoch. Wenn Eltern oder Erzieher in der Eingewöhnungssituation einen schnellen Vollzug der Trennung fordern, dann tun sie dies, um die bewusste Erfahrung des Schmerzes zu vermeiden. Dieser Akt der Vermeidung wird als Stärke, der Ausdruck von Schmerz hingegen als Schwäche empfunden und beurteilt. Diese Dynamik erklärt, warum viele Erzieherinnen und Eltern auf einer schnellen Trennung bei der Aufnahme eines neuen Kindes beharren.

In der allmählichen und moderierten Eingewöhnung wird das Kind in eine Position versetzt, in welcher es seinem natürlichen Interesse an anderen Kindern und vorhandenen Spielzeugen durch Kontaktaufnahme und Exploration nachkommen kann. Kleinkinder haben selten Angst vor fremden Kindern. Die Kindergruppe und Spielzeuge können als Gegengewicht zu den Angst auslösenden Momenten wirken, indem sie das Kind dazu bewegen, sich vom Elternteil zu lösen und neu zu orientieren. So werden selbständige Tätigkeiten ausgelöst, die die Eigeninitiative des Kindes an die Stelle seiner von Trennungsangst ausgelösten inaktiven und passiven Haltung treten lässt.

Diese Funktion der Kindergruppe wird zerstört, wenn die Kinder während der Eingewöhnung auf andere Gruppen verteilt werden, damit das einzugewöhnende Kind, seine Mutter und die Betreuerin allein sein können, um sich näher zu kommen und die Betreuerin die Mutterrolle übernehmen kann. Leider wird ein solches Vorgehen aus „bindungstheoretischen“ Begründungen nicht selten praktiziert.

Viele Eltern werden durch ihre Anwesenheit bei einer allmählichen Eingewöhnung ihrem elterlichen Anspruch und Bedürfnis gerecht, ihr Kind zu betreuen und nicht zu vernachlässigen. Sie können sich an Ort und Stelle davon überzeugen, dass ihrem Kind von Seiten der Erzieherin und der Kinder keine Gefahr droht. Um diese Erfahrung machen zu können, ist ausreichend Zeit erforderlich, die nur eine allmähliche Eingewöhnung gewährleistet. Mütter können sich davon überzeugen, dass ihre Berufstätigkeit dem Kind, das in einer Kindertagesstätte betreut werden soll, keinen Schaden zufügt. Eine solche Erfahrung kann Frauen helfen, eine positives Selbstbild als Mutter und berufstätige Frau zu entwickeln oder zu festigen. Dies ist auch insofern relevant, als Untersuchungen gezeigt haben, dass ein positives Selbstbild der Eltern am höchsten korreliert mit geringer Verhaltensauffälligkeit ihrer Kinder (Gudat 1982).

Empfehlungen für das Verhalten der Eltern

Die Mutter sollte sich mit dem Kind am Rand der Gruppe plazieren, so dass sie die Tätigkeiten der Kindergruppe und der Erzieherin gut übersehen kann, den Alltagsablauf und die Aktivitäten der Kindergruppe und der Erzieherin jedoch am wenigsten stört. Sie sollte angeregt werden, auf die Signale ihres Kindes zu reagieren. Für die Entwicklung von Vertrauen ist wichtig, dass das Kind die Freiheit hat, sich von der Mutter zu lösen und jederzeit zu ihr zurückzukehren. Die anwesende Mutter sollte das sich anklammernde Kind nicht unter Druck setzen, mit den anderen Kindern zu spielen. Wenn sie es trotzdem tut, sollte die Erzieherin die Mutter nicht verurteilen, sondern diese Wahrnehmung als wichtige Information über die Bedürfnisse der Mutter bewerten und womöglich mit der Mutter darüber reden.

Wenn sich ein Kind schon kurz nach Eintritt in die neue Situation von der Mutter abwendet und sich ohne Angst den anderen Kindern anschließt, dann benötigt die Mutter vielleicht Trost und Zusicherung, dass ihr Kind ihre Anwesenheit dennoch braucht und gerade wegen ihrer Anwesenheit so vertrauensvoll auf die fremden Kinder zugeht. Nicht selten entwickeln diese Kinder nach einigen Tagen oder Wochen doch noch Trennungsängste, die sich u.a. in einer stark verminderten Beteiligung an den Aktivitäten der Gruppe ausdrücken. Dieses verspätete Auftreten von Trennungsangst kann mehrere Gründe haben: ein Kind mag sich des Schutzes seiner Mutter übersicher sein oder es mag Abhängigkeitskonflikte haben, die zur Hemmung im Ausdruck seiner Abhängigkeitsbedürfnisse führen. Trennungsangst kann in beiden Fällen während oder nach der Eingewöhnung verspätet auftreten. Im ersten Fall, weil das Kind verspätet entdeckt, dass es sich von seiner Mutter allein gelassen fühlt, und im zweiten Fall, weil das längere Ausfallen einer Interaktion mit der Mutter den Anlass zur Hemmung des Ausdrucks der Trennungsangst beim Kind gemindert oder beseitigt hat.

Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich drei Folgerungen: (1) Es ist wichtig, die Eingewöhnungsbeteiligung für Kinder, die sich schnell von den Eltern trennen, nicht zu verkürzen, sondern zu verlängern. Der Grund für diese Empfehlung ist, dass der Ausdruck von Trennungsängsten bei diesen Kindern indirekt und zeitlich verzögert ist. Eine Erkenntnis nahezu aller Theorien und Methoden der psychologischen und pädagogischen Praxis ist, dass man Verhaltensweisen am besten ändern kann, wenn sie ausgedrückt werden. Das Kind, welches im Ausdruck seiner Trennungsangst gehemmt ist, muss die Trennungsangst erst ausdrücken, bevor ein anderer Umgang mit der Angst als Verdrängung oder Vermeidung gelernt und gefördert werden kann. Wir glauben, dass eine aktive Auseinandersetzung mit einem Problem, und nicht seine Vermeidung, günstig für seine Lösung oder Überwindung ist. Darin liegt der ganze Sinn einer allmählichen Eingewöhnung. Aus dieser Sicht ist es paradox, die Eingewöhnungsdauer für Kinder (und deren Eltern) zu verkürzen, weil sie länger brauchen, ihre Trennungsängste auszudrücken. (2) Man kann die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit der Eingewöhnungssituation nicht wirkungsvoll fördern, wenn man nicht gleichzeitig die aktive Auseinandersetzung der Eltern mit ihren Reaktionen und Unsicherheiten durch einen allmählichen Übergang fördert. (3) Wenn man eine aktive Auseinandersetzung der Eltern mit der Eingewöhnungssituation fördern will, ist es wichtig, Empfehlungen und nicht Anweisungen zu geben. Die meisten Eltern respektieren Empfehlungen oder Vorschläge der Leiterin oder der Erzieherin. Wenn sie solche Vorschläge akzeptieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie ihr entsprechendes Handeln auch als eine autonome Entscheidung und damit als eine aktive Auseinandersetzung erleben. Im Gegensatz dazu wird das ledigliche Befolgen von Anweisungen häufig als ein passives, von außen bestimmtes Verhalten erlebt, was eher Verdrängung und Hilflosigkeit als ein Gefühl innerer Stärke fördert.

Empfehlungen für das Verhalten der Erzieherin

Bei den ersten Kontakten eröffnet die Erzieherin das Gespräch mit der Mutter. Es werden Informationen ausgetauscht, z.B. wie ein typischer Alltag mit dem Kind in der Familie aussieht und wie ein typischer Alltag mit den Kindern in der Krippe aussieht. Die Erzieherin kann zu diesem Zeitpunkt Informationen über den Tagesrhythmus und Erfahrungen des Kindes zu Hause sammeln, sowie über besondere Vorlieben und Abneigungen des Kindes und der Mutter. Allerdings braucht besonders eine Erzieherin mit geringer Berufserfahrung Unterstützung für die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Elternarbeit. Es ist nicht notwendig, dass ein Fachexperte für diese Unterstützung eingeschaltet wird. Wichtig ist, dass sich die Erzieherin in dieser Situation nicht von ihren Kolleginnen und der Leiterin allein gelassen fühlt. Im Gruppenraum ist eine freundliche Interaktion zwischen Erzieherin und Mutter wichtig. Allerdings sollten Erzieherin und Mutter sich nicht miteinander unterhalten, während das Kind sich an die Mutter klammert.

Für den Aufbau der Beziehung zum Kind ist es empfehlenswert, dass die Erzieherin anfänglich nur indirekten Kontakt mit ihm aufnimmt. Das kann auf verschiedene Art und Weise geschehen: auf die Signale des Kindes reagieren, dem Kind ein von ihm bevorzugtes Spielzeug hinlegen, ein Namensspiel mit der Kindergruppe initiieren, in welchem der Name des einzugewöhnenden Kindes mit einbezogen wird, um ihm so zu vermitteln, dass es in der Gruppe der anderen Kinder angenommen wird. Es ist ratsam, dass die Erzieherin einige Tage verstreichen lässt, bevor sie Körperkontakt mit dem Kind herstellt. Wenn das Kind sich verletzt hat, weint oder traurig ist, kann die Erzieherin, wenn die Eltern nicht anwesend sind, dem Kind Nähe und Trost durch Körperkontakt anbieten. Eine weitere Gelegenheit dazu ist der Abschied der Eltern, wenn die Erzieherin das Kind in die Arme nimmt und es solange hält, bis sich das Kind von selbst loslöst, was gewöhnlich nach einigen Minuten geschieht.

Sie kann die Beziehung zwischen dem neuen Kind und der Kindergruppe am effektivsten fördern, wenn sie sich auf die von den Kindern hergestellten Kontakte konzentriert und sie Interaktionen zwischen den Kindern durch positive Zuwendung, durch das Anbieten von fehlendem Material oder durch Umgestaltung der räumlichen Bedingungen ermöglicht und erleichtert.

Die Kindergruppe

Kinder und die Kindergruppe bieten dem Eingewöhnungskind ganz andere Möglichkeiten als Erwachsene. Sie sind nicht so groß und mächtig wie erwachsene Betreuerinnen, und daher weniger bedrohlich. Kinder ertragen und lernen Konflikte viel leichter mit anderen Kindern als mit Erwachsenen zu lösen. Die Vermittlung positiver und negativer Gefühle von anderen Kindern hat eine weniger intensive Auswirkung auf das Kind, als dieselben Erfahrungen, besonders mit Erwachsenen, mit welchen das Kind eine enge Beziehung hat. Selbst Aggressionen, obwohl sie Weinen auslösen, sind von einem anderen Kind weniger bedrohlich als Aggression in der Form von Ablehnung oder Beschämung von einem vertrauten Erwachsenen.

Empfehlungen an die Leitung und an das Team der Kindertagesstätte

Es sollte der Mutter nahegelegt werden, mit ihrem Kind regelmäßig zu einer gewissen Zeit in die Kindertagesstätte zu kommen. Wenn es nur eine Erzieherin für die Gruppe des Kindes gibt und mehr als ein Kind in derselben Woche eingewöhnt werden muss, dann ist es ratsam, dass die Mütter und ihre Kinder zumindest während der ersten zwei Wochen zu unterschiedlichen Zeiten anwesend sind.

Die Erzieherin braucht Unterstützung während der Eingewöhnungszeit: wenn die Eingewöhnungsmutter mit ihrem Kind nicht zurecht kommt und Zuwendung und Hilfe braucht; wenn die Mutter kurz den Raum verlässt und jemanden braucht, mit dem sie reden möchte; wenn die Kinder sehr ausgelassen und schwer zu beruhigen sind; wenn ein Kind sich verletzt hat und die volle Zuwendung der Erzieherin braucht. In solchen Situationen sollte die Leiterin oder eine Vertretungskraft in der Lage und bereit sein auszuhelfen.

Urlaub der betroffenen Erzieherin, Fortbildung außer Haus und Eingewöhnungswochen sollten womöglich langfristig so geplant werden, dass sie nicht überlappen. Wenn es irgendwie möglich ist, sollten Kinder aus anderen Gruppen, deren Erzieherin z.B. erkrankt ist, nicht in die Gruppe, in der Eingewöhnung stattfindet, verteilt werden.

Mutter und Kind sollen erst nach Vertrautwerden mit der Situation, d.h. der Erzieherin, den anderen Kindern, der Leiterin und den anliegenden Räumlichkeiten den Übergang zum Frühdienst machen. Während der Eingewöhnungszeit ist es ratsam, größere Veränderungen auf ein Minimum zu reduzieren. Beispiele hierfür sind eine neue Raumgestaltung, Umzug in andere Räume u.ä. Auch sollte das Eingewöhnungskind anfänglich nicht genötigt werden, körperliche Gewohnheiten zu ändern, z.B. seine Kleidung wechseln, mit den anderen Kindern baden u.ä.

Zeitlicher Ablauf der Eingewöhnung

Wenn Mutter und Kind in den ersten Tagen der Eingewöhnung nur kurze Besuche machen, ist es ratsam, das Kind während dieser Zeit nicht zu füttern oder zu wickeln, wenn dieses keine entsprechenden Signale gibt. Dem Kind soll anfänglich die Möglichkeit gegeben werden, sich durch seine eigenen Tätigkeiten, wie Beobachtung, Erkundung und soziale Kontaktaufnahme, besonders mit anderen Kindern, mit der Situation auseinanderzusetzen. Anfängliche Besuche sollen während der Spielzeit und nicht in Pflegesituationen stattfinden. In der Pflegesituation brauchen die Kinder in der Gruppe die stabile Zuwendung der Erzieherin.

Nach den ersten Besuchen kann die Mutter ihre Anwesenheit mit dem Kind zeitlich etwas ausdehnen und damit beginnen, das Kind selbst zu füttern und zu wickeln. Dies mag für die Mutter und ihr Kind beruhigend sein und der Erzieherin die Möglichkeit geben zu sehen, wie Mutter und Kind in der Pflegesituation miteinander umgehen. Was die Erzieherin beobachtet, kann ihr später helfen, die Reaktion des Kindes besser zu verstehen, wenn sie selbst diese Pflegeaufgaben übernimmt.

Für das Wickeln kann die Gelegenheit zur gegenseitigen Beobachtung von Mutter und Erzieherin geschaffen werden, wenn es einen Tresen gibt, auf dem zwei Kinder gewickelt werden können. Wenn möglich, sollte ein zweites Kind gewählt werden, das keine großen Schwierigkeiten beim Wickeln macht oder in der Situation überaktiv und nicht kommunikativ ist. Für das Eingewöhnungskind kann dies eine Gelegenheit bieten, Vertrautheit in der Situation zu entwickeln, da es seine Mutter und Erzieherin sowie ein anderes Kind, das ebenfalls gewickelt wird, zusammen erlebt. Mutter und Erzieherin können sich gegenseitig beobachten, ihre Eindrücke austauschen und Fragen, die sich daraus ergeben, klären. Die Beobachtung sollte aber am Rande sein und der Austausch über gegenseitige Eindrücke und Fragen nach dem Wickeln stattfinden, wenn keine direkte Zuwendung zum Kind dadurch unterbrochen wird.

Es ist empfehlenswert, dass die Erzieherin das Füttern und Wickeln des Kindes übernimmt nachdem die Mutter dies selbst einige Tage ausgeführt hat. Wenn die Erzieherin dies übernimmt, sollte die Mutter anfänglich noch anwesend sein. Dies ist einerseits wichtig für das Kind und andererseits hilfreich für die Mutter, weil sie die Erzieherin in der Pflegesituation beobachten kann. Wenn sie sieht, wie ihr Kind und die anderen Kinder versorgt werden, kann dies der Mutter Vertrauen geben, dass ihr Kind gut betreut wird. Es können aber auch Fragen und Konflikte bei der Mutter ausgelöst werden, welche in Gesprächen geklärt werden sollten. Die Erzieherin oder die Leiterin sollte in solchen Fällen die Sorgen der Mutter darüber, dass das Kind nicht dieselbe Nahrung wie zu Hause erhält oder von der Erzieherin anders gefüttert wird, als sie es tut, anerkennen, aber die Sorgen der Mutter nicht mit den Problemen des Kindes gleichsetzen. Man kann die Mutter darüber informieren, dass Kinder nicht selten sehr verschieden auf dieselben Speisen zu Hause und in der Krippe reagieren. Ein solcher Austausch kann die Souveränität der Bereiche Familie und Krippe nochmals unterstreichen und damit wieder gegenseitigen Respekt zwischen den zwei Betreuungsumwelten verstärken.

Wenn die Mutter das Kind, das ganztags in der Tagesstätte bleiben soll, nachdem sie es einige Tage in der neuen Situation gefüttert und gewickelt hat, schlafen legt, wird das Kind sehen, dass andere Kinder von der Erzieherin schlafen gelegt werden und einschlafen. Die Erzieherin sollte, wenn möglich, die Interaktion zwischen Mutter und Kind beim Schlafenlegen beobachten, damit sie später auf die individuellen Bedürfnisse und Erwartungen des Kindes beim Einschlafen eingehen kann.

Die Kindergruppe kann eine ebenso stützende Rolle beim Aufgeben der Kontrolle durch das Bewusstsein und bei der Trennung von der Bezugsperson durch Einschlafen wie bei der Trennung durch Abschied der Bezugsperson in wachem Zustand haben. Die einschlafenden Kinder bieten ein Modell des eher angstlosen Aufgebens der Kontrolle durch Rückzug aus dem Bewusstsein, was dem Eingewöhnungskind zu größerer Bereitschaft zum Einschlafen verhelfen kann. Nach zwei, drei solcher Erfahrungen kann die Erzieherin das Schlafenlegen und Aufwachen des Kindes in Anwesenheit der Eltern übernehmen.

Nachdem ein Kind, das in der Kindertagesstätte Mittag essen und schlafen soll, von der Erzieherin einige Male schlafen gelegt wurde und mit den anderen Kindern gegessen hat, kann sein Aufenthalt auf mehr als einen halben Tag verlängert werden. Diese zunehmende Betreuung und Einbeziehung des Kindes in den Alltag der Gruppe sollte nicht nur vom Kind abhängig gemacht werden. Die Bereitschaft der Erzieherin, die volle Betreuung des Kindes zu übernehmen und die Bereitschaft der Mutter, die Betreuung der Erzieherin zu überlassen, spielen eine sehr wichtige Rolle beim Aufbau einer kontinuierlichen eher als geteilten Betreuungsumwelt des Kindes.

Mit der zunehmend vollen Betreuung des Kindes in der Gruppe und seiner aktiven Beteiligung am Alltag der Kinder kann die Mutter das Kind für längere Zeit und vielleicht schon gänzlich mit der Gruppe allein lassen. Auch diese Entscheidung sollte in einem Gespräch zwischen Erzieherin und Mutter getroffen werden. Kriterien des Kindverhaltens für die Entscheidung sind: wie das Kind bisher auf Trennungen von der Mutter reagiert hat, ob es sich von der Erzieherin hat trösten lassen, ob das Kind die Nähe der Erzieherin sucht und in Stresssituationen ihren Trost akzeptiert, ob das Kind den Kontakt mit anderen Kindern hergestellt hat und ob es sich in der Pflegesituation wohlzufühlen scheint.

Entsprechende Kriterien der mütterlichen Einstellung und ihres Verhaltens sind, dass sie ein Stück Vertrauen in die Krippensituation, die Betreuerin und die Kindergruppe aufgebaut hat und sich mit ihren eigenen Unsicherheiten über Trennung, wenn diese bestehen, direkt in Gesprächen auseinandersetzen kann, statt diese Unsicherheiten durch Provokation und Verstärkung von Protestreaktionen des Kindes zu bestätigen. Ein weiteres Kriterium ist, unter wie viel Druck die Mutter steht, ihre Arbeit oder ihren Beruf wieder aufzunehmen. Es ist ratsamer, einfühlsam auf die Mutter zu reagieren, sie wissen zu lassen, dass ihr Bedürfnis wahrgenommen wird, als Gegendruck auszuüben und damit Schuldgefühle zu fördern.

Kriterien in bezug auf die Erzieherin sind, dass sie mit der Eingewöhnungssituation weitgehend zurecht kommt, dass es keine Krisen in ihrer Gruppe gibt und dass sie vom Team eher Unterstützung als Belastung erfährt.

Einige Vorgehensweisen sind besonders wichtig für den Abschied. Die Mutter sollte womöglich den Abschied initiieren, wenn das Kind sich nicht an sie klammert, nicht besonders beunruhigt ist und mit anderen Kindern oder irgendeiner Tätigkeit beschäftigt ist. Die Mutter sollte sich nicht wegschleichen, sondern dem Kind sagen, dass sie jetzt geht und wiederkommen wird, um das Kind z.B. vor dem Essen, nach dem Essen, nach dem Schlafen etc. abzuholen. Die Erzieherin sollte beim Abschied dabei sein und das Kind in ihre Arme nehmen für den Fall, dass das Kind Trennungsängste zeigt. Das Kind wird möglicherweise weinen, aber die Mutter wird gebeten, den Abschied nicht zu verzögern. Sie wird informiert, dass das Kind sich gewöhnlich nach kurzer Zeit beruhigt, wenn es den Körperkontakt und die damit einher gehende Sicherheit von Seiten der Erzieherin hat. Die Mutter wird eingeladen, sich mit der Erzieherin oder der Leiterin über ihre eigenen Sorgen zu unterhalten. Dies ist auch eine Zeit, wo ein Gespräch mit Freunden, Verwandten und besonders mit dem Partner hilfreich sein kann.

Ergebnisse der empirischen Evaluation des Eingewöhnungsmodells

25 Mutter-Kind-Paare wurden eingeladen, an diesem Modell der Eingewöhnung teilzunehmen. Das Durchschnittsalter der Kinder war 10,3 Monate. 14 der eingeladenen Mütter folgten den Empfehlungen des Modells, während 11 Mütter die Eingewöhnung abrupt gestalteten. Das Durchschnittsalter der Kinder in der modellhaften Eingewöhnung war 11,1 Monate und das der Kinder in der abrupten Eingewöhnung 9,4 Monate. Dieser Altersunterschied war nicht signifikant. Die Verteilung von Jungen und Mädchen war sehr ausgeglichen in der ganzen Gruppe (43% Jungen und 57% Mädchen). Dies traf auch auf die Verteilung der Jungen und Mädchen in den zwei Eingewöhnungsgruppen zu. Unterschiede zwischen den zwei Gruppen in der Anwesenheit der Mutter über die ersten 18 Tage sind in Grafik 1a dargestellt, während Unterschiede zwischen den zwei Gruppen in der Anwesenheit des Kindes ohne die Mutter in Grafik 1b dargestellt sind. Das Tempo der Eingewöhnung in den zwei Gruppen war hochsignifikant unterschiedlich (p =0,01).

Die unterschiedliche Auswirkung des Eingewöhnungsmodells und der abrupt eingewöhnten Kinder wurde sowohl in den ersten 18 Tagen nach Eintritt in die Krippe als auch longitudinal, d.h. 3 und 15 Monate, später extensiv evaluiert. Die Ergebnisse der Evaluation werden hier kurz zusammengefasst.

In den ersten 18 Tagen drückten die Kinder in der allmählichen und moderierten Eingewöhnung mehr Stress und weniger positive Gefühle aus als die Kinder, die abrupt eingewöhnt wurden, d.h. deren Mütter während der ersten 18 Tage zum Großteil abwesend waren (siehe Grafik 1). Es wäre spekulativ, diese Unterschiede lediglich auf die ersten 18 Tage nach Eintritt in die Krippe zu interpretieren. Die longitudinale Beobachtung durch Betreuerinnen bis zu 15 Monaten nach Eintritt in die Krippe bieten eine solidere, empirisch fundierte und weniger spekulative Basis für eine Interpretation der anfänglichen Unterschiede. Zu betonen ist auch, dass nach den ersten vier Wochen der Eingewöhnung die Bedingungen der Anwesenheit von Müttern in der Krippe für die Kinder in den zwei Gruppen vergleichbar waren. In Grafik 2 ist ersichtlich, dass der erhöhte Ausdruck von Stress der Kinder in der allmählichen Eingewöhnungsbedingung eine Form von aktiver Auseinandersetzung (coping) mit einer Veränderung ihres gewohnten Alltags war. Im Gegensatz dazu waren die Kinder in der abrupten Eingewöhnungsbedingung in Abwesenheit ihrer Mütter gehemmter im Ausdruck ihres Stresses. Die longitudinalen Veränderungen der Kinder in den zwei Gruppen, die in Grafik 2 dargestellt wird, unterstützen diese Interpretation. Die aktive Auseinandersetzung mit dem Stress der Veränderung führte zu einer langfristig besseren Anpassung in der allmählichen Eingewöhnungsgruppe. 15 Monate später drückten die Kinder in der allmählichen Eingewöhnungsgruppe weniger Stress und mehr positive Anpassung in der Krippensituation aus, indem sie weniger weinten, weniger Unbehagen ausdrückten und sich leichter trösten ließen als die Kinder in der abrupten Eingewöhnungsbedingung. Diese Veränderungen waren für die drei Verhaltensweisen statistisch signifikant (p =0,05). Der Wechsel der Anpassung in den zwei Gruppen fand nach drei Monaten statt (siehe Grafik 2).

Zwei weitere Ergebnisse der Evaluation des Eingewöhnungsmodells sind im folgenden kurz zusammengefasst. 25 Eingewöhnungskinder waren Teil einer größeren Untersuchung, in welcher die emotionale Anpassung der Kinder in der Krippe durch Zeitstichprobenbeobachtungen untersucht wurden. Drei Monate nach Eintritt zeigten die Kinder der allmählichen und moderierten Eingewöhnung mehr positive soziale Interaktionen mit anderen Kindern und den Betreuerinnen, mehr positiven Affekt (Heiterkeit), Autonomie, Kooperation und Beteiligung an ihrer Pflege als die Kinder in der abrupten Eingewöhnungssituation. Im Gegensatz dazu zeigten die Kinder in der allmählichen und moderierten Eingewöhnung gleichzeitig weniger Angst, Aggression und Ausdruck von Unlust als die Kinder in der abrupten Eingewöhnung. Diese Unterschiede wurden auch 15 Monate später festgestellt und waren in zwei von drei Analysen signifikant (p =0,01).

Die Auswirkung der zwei unterschiedlichen Eingewöhnungsbedingungen konnte auch in der Interaktion zwischen Mutter und Kind und Mutter und Betreuerin 15 Monate nach Beginn des Krippenaufenthalts bestätigt werden. Mütter in der allmählichen und moderierten Eingewöhnung drückten mehr positive Gefühle ihrem Kind gegenüber aus, waren responsiver auf die Signale ihrer Kinder, ignorierten diese Signale weniger und waren offener und vertrauensvoller den Betreuern gegenüber als Mütter in der abrupten Eingewöhnungsbedingung.

Der Haupteffekt der Unterschiede zwischen den Kindern der zwei Eingewöhnungsgruppen ist auf die Bedingungen, d.h. das durchgeführte Modell der Eingewöhnung zurückzuführen und nicht auf anfängliche Unterschiede der Eltern, Familien und Erzieherinnen in den zwei Eingewöhnungsgruppen. Um diesen Schluss zu verifizieren, haben wir Vergleiche zwischen den Eltern und Erziehern der zwei Gruppen durchgeführt. Es konnten keine Unterschiede zwischen den beiden Elterngruppen in bezug auf Trennungsangst, Depression, häusliche Anregung des Kindes und Arbeitsteilung in den Familien gefunden werden. Die Einstellung der Betreuer der zwei Eingewöhnungsgruppen zu den Eltern unterschied sich nicht.

Prof. Dr. E. Kuno Beller ist Professor für Kleinkindpädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin

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