fK 2/00 Dunitz

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Ernährung und Entwicklung

Einflüsse, Zusammenhänge, Störungen, Hilfen

von Marguerite Dunitz-Scheer und Alexandra Schein

Als Kinderärztin (M.D.-S.) begegnen mir täglich schwerste Gedeihstörungen des Säuglings- und Kleinkindalters. Schwere Ess- und Fütterungsstörungen, interaktionell getriggerte Schluck- und Ruminationsstörungen und die immer größer werdende Gruppe der kindlichen und pubertären Störungen, mit Mangel- und Unterernährungen, bis an die Grenze des Lebens. Hier ist meine Rolle klar definiert; ärztliches Handeln hat die baldmöglichste Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit als oberstes Ziel, die Rolle ist oftmals invasiv, d.h. eingreifend im wörtlichen Sinne. Die Leitlinien der Therapie sind klar strukturiert und verlangen klare Grenzen und Vorgaben in einem individuell angepassten Behandlungskonzept.

Als Psychotherapeutin ist die Herstellung von Kontakt das erste Ziel. Kontakt mit besorgten und kontrollierenden Müttern, Kontakt zu ihren das Essen und letztlich das Leben verweigernden Kindern. Dies ist schon meist weniger klar definiert; ohne Vertrauen der Eltern kein Zugang zum Kind; ohne Vertrauen zum Kind kein Weg aus der Isolation. Ein Loyalitätskonflikt ist vorprogrammiert, es gilt die kindliche Autonomie zu stützen, ohne das elterliche Kontrollbedürfnis allzu sehr zu kränken. Behutsam, achtsam und langsam nähern wir uns einander und versuchen durch Gesten und Worte, die meist wesentlich wichtigere nonverbale Botschaft des Kindes zu hören. Schwierig.

Als Mutter eigener Kinder begegnet mir die Thematik auch fast täglich; was ist „richtiges“ Essen? Welche Nahrungsmittel sind richtig? Welche Esskultur ist richtig? Ist richtig, was jedem schmeckt? Oder was im Ernährungsratgeber steht aber niemandem schmeckt, oder was die Gesundheitsideologie der Lehrerin diktiert? Totales Chaos! Ist einem alles egal, schwinden die letzten Zeichen familiärer Tradition; es würden nur mehr stehend Snacks gegessen werden. Es folgt der vollständige Verlust jeglicher Kulturleistungen wie der Kochkunst, die nur durch Imitation der Eltern und nicht aus dem Kochbuch tradiert wird. Schlägt man andererseits allzu rigide Essensformen und -zeiten und Inhalte vor, ist man täglich unnötig frustriert und bringt die Kinder in den Widerstand. Wo ist eine gangbare Mitte?

Als Frau bewege ich mich, mit doppelt soviel Körpergewicht wie die Topmodels, fit in Job und Zuhause und kann Worte wie Diät und „Ich sollte eigentlich schlanker sein“ einfach nicht mehr hören! Ich habe mein Selbstwertgefühl im Alter von 12 Jahren von den Normmassen abgekoppelt und komme irgendwie ganz gut zurecht. Glücklicherweise sind die Herren, denen ich in meinem Leben gefallen wollte, keine Anhänger der Schlankheitsideologien. Ich habe erfahren, dass ungefähr die Hälfte aller Frauen in meinem Lebensalter sich zu dick, die andere Hälfte als zu dünn erlebt, so dass es da offensichtlich keine Mitte mehr gibt.

Als anstrebende Psychotherapeutin (A.S.) mit einer angeblichen Traumfigur bin ich angesichts so vieler Patienten mit massiven Schwierigkeiten, sich mit ihrem Körpergewicht irgendwie zu arrangieren, zunächst einmal verwirrt und erstaunt. Andererseits weiß ich aus dem engsten Familien- und Freundeskreis, wie viele „gesunde“ Menschen außerhalb von ärztlichen Praxen und psychologischen Beratungsstellen mit großen Sorgen und Problemen mit diesen Themen beschäftigt sind. Als tiefenpsychologisch ausgebildete Pädagogin habe ich in diesem Artikel die Rolle eingenommen, die Fragen des „Laien“ zu artikulieren und zu hoffen, dass wir es geschafft haben, einen verständlichen Text ohne Anspruch auf „Wahrheit“ für den Leser zu gestalten.

Artikel sollen den Leser informieren und klare Richtlinien vorgeben, Unsicherheit mindern und Handlungsanleitungen erstellen. Nun, bei der Flut geschriebener Texte zu diesem Thema haben wir uns also entschlossen, möglichst persönlich Stellung zu nehmen. Wir beanspruchen kein Monopol auf Richtigkeit. Jeder kann und soll seinen eigenen Umgang mit dem Thema suchen und vielleicht finden.

Wie entwickelt sich menschliches Essverhalten?

Essen und Füttern sind essentiell gekoppelt. Essen ist die erste menschliche Lebensfunktion, die von einer (meist erwachsenen) Pflegeperson abhängt, sie ist somit interaktionell dependent.

Intrauterin erlerntes Saugen und Schlucken von Fruchtwasser wird bei der Geburt durch die Atmung in einen komplexen physiologischen Prozess integriert, in welchem des Baby autonom atmet, saugt und seinen Speichel schluckt. Kommt jedoch Nahrung hinzu, ob Muttermilch oder Fläschchen, ist bereits eine Pflegeperson, meist die Mutter mit im Spiel. Im angloamerikanischen Sprachraum sprechen wir vom Bindungsverhalten des Erwachsenen (Caregiving behaviour) und vom Bindungsverhalten des Babys (Attachment behaviour). Diese Bindung hat einen gedachten, abstrakten Anteil (die internalisierte Vorstellung der Eltern-Kind-Beziehung) und einen realen Anteil (das externalisierte beobachtbare Verhalten der Pflegepersonen) in allen Angelegenheiten der Dependenz (Wickeln, Anziehen, Füttern).

Essverhalten entwickelt sich demnach durch Angebot von Nahrung und Bezogenheit.

Bei der Gestalt, in der sich die zwischenmenschliche Bezogenheit darstellen kann, werden nach Ainsworth et al. vier Typen unterschieden:

(1) Das sicher gebundene Kind isst autonom. Es lebt in einem Umfeld verfügbarer Nahrung und reguliert seine Nahrungsaufnahme nach Angebot und Nachfrage. Seine Geschmacksorientierung ist genetisch sowie soziokulturell geprägt. Individuelle sowie interaktionelle Faktoren beeinflussen Zeitpunkt, Menge und Inhalt. Ein funktionierender Zyklus von Hunger und Sattheit wird von der nährenden Bezugsperson, meist der Mutter, respektiert, erkannt und ihr Nahrungsangebot wird den individuellen, dyadischen wie auch kulturellen Bedingungen angepasst.

(2) Das unsicher-ambivalent gebundene Kind wird von der ängstlich-unsicheren Atmosphäre der Beziehung zur Hauptbezugsperson in seinem Essverhalten, oft schon seit der Geburt, bedrängt. Diese Mütter meinen, dass ihre Kinder ohne besonders große Aufmerksamkeit und Anpassung ihrerseits effektiv verhungern würden. Die moderne Empfehlung der „ad libitum“-Fütterung wird sowohl beim gestillten wie ungestillten Kind zur Farce übertrieben, so dass die Mutter eine dependente und sich zunehmend erschöpfende Sklavin der kindlichen oralen Bedürfnisäußerungen wird. Strukturlos wird rund um die Uhr gestillt und gefüttert; es entsteht keinerlei Rhythmik. Die Gedeihstörung entsteht hier auffällig oft, beginnend mit Spucken, Erbrechen, Heraufwürgen und Ruminieren.

(3) Das unsicher-vermeidende Kleinkind lebt in einem, seine biologischen und emotionalen Bedürfnisse – wenn auch nicht absichtlich – unterstimulierenden und unterstimulierten Umfeld. Es wird, wenn auch nicht krass, real vernachlässigt, meist lieblos und technisch versorgt. Der zwischen Mutter und Kind entstehende Signal-Dialog und der Austausch geglückter kommunikativer Kreise ist auf das Minimum reduziert. Das Baby ist meist der einzige interaktive Motor der Kommunikation. Bei ausreichender Nahrungsmenge wird problemlos getrunken und gegessen, die Babys halten das Fläschchen sehr frühzeitig selbst und sind im autonomen Essverhalten technisch oft erstaunlich geschickt.

(4) Das irregulär bindungsgestörte Kind gehört zu der numerisch kleinsten Gruppe. Psychische Desorientierung und Desorganisation sind hier die Reaktion auf den Versuch, das Bindungssystems zu aktivieren. Die Kinder dieser Gruppe zeigen selten isolierte Essverhaltensstörungen. Eher tritt bizarres Essverhalten, wie Rumination oder induzierter Reflux auf, manchmal im Zusammenhang mit anderen psychiatrischen Symptomen. Kinder psychiatrisch erkrankter Mütter (z.B. protrahierte postpartale Depressionen und Psychosen) stellen hier eine besondere Risikogruppe dar.

Wie verhalten sich Ernährung und Entwicklung zueinander?
Der menschliche Säugling ist biologisch gerüstet, Muttermilch zu trinken, bis sein Darm reif für eine gemischte Kost ist. Dieser Übergang geschieht beim gesunden Kind mit 6-9 Monaten.

Spätestens mit 12 Monaten ist das Kind in der Lage, das Ernährungsangebot seiner Umgebung mit einiger Hilfestellung, wie Hochstuhl oder Kinderlöffel, motorisch und gastroenterologisch zu verkraften. Kinder entwickeln eine Vorliebe für jene Speisen, welche ihr Kulturkreis anbietet. Indische Kinder lieben Reis, südamerikanische Mais, nordafrikanische Kuskus, türkische Gerste, italienische Pasta und nordische Kinder Brot und Kartoffel als Kohlehydratträger. Millionen Kinder wachsen beispielsweise ohne einen Tropfen Kuhmilch auf. In unseren Breiten dagegen glauben viele Mütter, Kinder würden ohne Milch verhungern. So ist auch die Essensentwicklung funktionell, motorisch, olfaktorisch und geschmacksmäßig kulturell sehr unterschiedlich.

In der Folge all dieser Situationen kommt es zur Fixierung der kindlichen Widerstandsmuster und/oder Nichtentwicklung des Essenerlernens mittels Löffel oder Finger, zum Nichterlernen der oro-manuellen Koordination und oro-instrumenteller Fertigkeit.

Durch gesunde Kinder lässt sich also sehen, dass sie im Alter von 8-12 Monaten eigentlich ein „adultes“ Essverhalten erlernt haben. Im Laufe der Kindheit entwickeln sich spezifische Geschmacksvorlieben noch weiter aus, das Kleinkind kann sich aber technisch und resorptionsmäßig wie die ihn umgebenden Erwachsenen ernähren. Das kranke, entwicklungsverzögerte oder behinderte Kleinkind erfährt typischerweise keine entsprechend spezifische Förderung seiner Essensentwicklung. Diese muss nämlich gemeinsam mit der sensomotorischen, interaktionellen, emotionalen, logopädischen und sozialen Entwicklung gekoppelt sein.

Bei diesen Kindern ist die elterliche, pflegerische und medizinische Aufmerksamkeit oft monatelang auf die sogenannten „vitalen“ Parameter konzentriert. Das heißt, es geht ums nackte Überleben im wörtlichen Sinne. Extreme Frühgeborene der 24.-27. Schwangerschaftswoche mit Komplikationen aller Organsysteme plagen sich mit den Grundfunktionen: Herztätigkeit und Kreislauf sowie Atmung. Ernährt werden sie anfangs tage-, wochen- oder gar monatelang über den Blutkreislauf (parenterale Ernährung) oder über die Sonde (nasogastrische oder perkutane Gastrostomie-Sonde, PEG). Die Aufmerksamkeit ist aber absolut auf die Aufrechterhaltung der lebenswichtigen Organfunktionen konzentriert. Psyche und Ernährung sind in der Hierarchie nach Herz, Lunge, Nieren, Leber und Hirn in einer untergeordneten Rolle. Die Kollegen auf neonatologischen Stationen lassen sich dies nicht gerne nachsagen; trotzdem ist es eine intensivmedizinische Realität, dass messbare Labor- und Organfunktionen vor den weniger objektivierbaren Befunden wie Befindlichkeit, Bezogenheit und Energiehaushalt gereiht sind.

In diesen Zeiten entstehen die häufigsten Ess-Fütterungsstörungen der frühen Kindheit, die sogenannten Posttraumatischen Ess- und Fütterungsstörungen. Mit Trauma ist hier nicht Gewalt, im Sinne der körperlichen, böswilligen Misshandlung gemeint, sondern die routinemäßigen, störenden, irritierenden und unangenehmen Mikrotraumen, wie täglich mehrfaches Absaugen, Abwischen, Medikamentengabe, Blutabnahmen, Lagerungen und so fort. Das winzige und meist schwerkranke Baby wird nahezu den ganzen Tag manipuliert und lässt das meiste über sich ergehen. Psychologen interpretieren den bei diesen Babys beobachtbaren Affekt als Resignation oder Frustration, sichtbar ist ein auffällig ruhiges und passives Verhalten. Entwicklungspsychologisch steht die Zeit ziemlich still, die Gesamtentwicklung des Babys „friert“ ein. Die Lernfunktionen im körperlichen Bereich entwickeln sich relativ erwartungsgemäß. Sensorisch adaptiert sich das Kind an die angebotenen Reize wie Piepser, Alarmsignale, Leuchten, Plexiglasgeruch etc. Regulationsstörungen, das heißt Schwierigkeiten bei der sensorischen Integration und in der Biorhythmik äußerer Reize, sind häufige Folgen.

Es entsteht ein massives Defizit in den interaktionssensiblen Entwicklungsbereichen. Die liebevollste Pflege kann die „gesunde“ soziale Umwelt nicht simulieren. Der dialogische Kontakt fehlt viel öfter als bei gesunden Kindern. Selbst bei quantitativer Verfügbarkeit der Mutter ist ihre Stimmung aufgrund der Situation entweder depressiv, verzweifelt, histrionisch übersteigert oder fehlend. Dies ist der interaktive Anteil, weswegen sich in dieser Phase Ess-Fütterungsstörungen häufiger entwickeln.

Es werden fünf Gruppen der häufigsten frühkindlichen Essverhaltensstörungen unterschieden, welche in Folge durch Fallbeispiele verdeutlicht werden.

Posttraumatische Ess-Fütterungsstörung (PTFD)

Kinder mit angeborenen Fehlbildungen des Verdauungstraktes mit peripartaler operativer Versorgung, sowie extreme Frühgeburten mit primär kompliziertem Verlauf und komplizierter Ernährungssituation ohne Operationen

Dragona, 19 Monate

Dragonas Mutter wendet sich aus dem Ausland, über das Internet, an uns. Bereits drei Wochen später hat sie alle bürokratischen Formalitäten der Kostenübernahme geklärt und tritt selbstbewusst und mit großem Leidensdruck jedoch dezidiert zur Sondenentwöhnung an.

Dragona wird seit ihrer Geburt vor 19 Monaten gänzlich über die Sonde ernährt. Alle bisherigen Versuche einer oralen Stimulation waren unter dem Ess-Gewicht-Druck, welcher aus kardiologischen Erwägungen ausgesprochen wurde, gescheitert. Die stationäre Therapiedauer von 19 Tagen bestand in einer intensiven aber atraumatischen und vor allem selbstgesteuerten Regulation zwischen dem Kind und dem Thema Essen. Die Sonde wurde am 4. Tag entfernt. Der poststationäre Aufenthalt gestaltete sich unkompliziert. Dragona isst und trinkt mit ihrer Familie mit, die Gewichtskurve ist aufgrund der Grunderkrankung noch immer nicht optimal zufriedenstellend.

Primäre Störung der Saug-Schluck-Koordination

Kinder mit angeborenen chromosomalen Fehlbildungen mit schwerer bis schwerster cerebraler Beeinträchtigung und sensomotorischer Wahrnehmungs- und Funktionsstörung.

Konstanze, 26 Monate

Konstanze ist ein Kind, welches nach Angaben ihrer Mutter fünf Mal von den betreuenden Ärzten mehrfach aufgegeben wurde. Das erstaunliche an ihr sei gewesen, dass sie immer wieder weiter gelebt habe und als einziges Restsymptom nach monatelanger Intensivpflege die Sondenernährung mittels PEG-Sonde behielt. Bei Konstanze liegt eine deutliche Entwicklungsverzögerung vor. Ihre Mutter meint, Konstanze wolle sie mit ihrer vehementen Essverweigerung aktiv quälen. Bisher schlugen alle Entwöhnungsversuche bei bestehender instabiler Lungensituation fehl. Die Aufnahme erfolgt explizit zum Erlernen eines selbständigen Essens. Mutter und Kind scheinen für das Projekt bereit. Bereits am dritten Tag wird das Sondenvolumen beendet, das Körpergewicht fällt um fast 10%. Drei Tage später fängt Konstanze suffizient zu essen und trinken an, die Gewichtsschwankungen pro Tag sind jedoch fast bei 0.5 kg. Am 10. Tag nach Beendigung der Sondenernährung wird die PEG-Sonde in einer Kurznarkose entfernt, der postoperative Verlauf ist komplikationslos. Konstanze und ihre Mutter verlassen die Klinik am Ende der dritten stationären Woche. Der weitere Gewichtsanstieg – bei altersgemäßer Mischkost – ist adäquat.

Post Medical Episode Food-Aversion

Primär gesunde Kinder mit sekundärer Trink-/Essverweigerung nach „banalem“ gastro-intestinalem Infekt oder Stomatitis

Valentina, 6.5 Monate

Wir lernen Valentina mit 6.5 Monaten kennen, nachdem sie in den vergangenen drei Monaten in zwei verschiedenen Kinderspitälern ohne Erfolg zwangsgefüttert wurde. Die bisherige diagnostische Abklärung ergab eine schwere Gedeihstörung infolge chronischer Erkrankungen. Valentina war ein Nachzügler-Kind, die Geschwister waren 13 und 15 Jahre alt. Auch hier gab die Mutter – auf der Suche nach psychologischen Belastungsfaktoren – schwere Schuldgefühle gegenüber der Existenzgründung Valentinas an. Sie sei ein egozentrisches Liebesprodukt gewesen und nicht primär gewollt. Hier wurde auf Grund der schweren Erkrankungen die Sondierung nachts ausnahmsweise 14 Tage lang beibehalten, die Entlassung erfolgte jedoch ohne Sonde. Zuhause erfolgte ein rascher spontaner Gewichtsanstieg und eine völlige Normalisierung des Essverhaltens.

Primäre Trinkschwäche bei Symbiosestörung

Eher regulationssensitive Kinder mit mangelhafter emotionaler Verfügbarkeits- und Pflegesituation

Heinrich, 8 Monate

Heinrich ist das zweite lebende Kind, nach acht Schwangerschaften seiner Mutter. Die Schwangerschaft wurde wegen drohender Frühgeburtlichkeit liegend verbracht, die Geburt war unkompliziert. Das Geburtsgewicht betrug 3.300 Gramm. Als nach zwei Monaten das Geburtsgewicht noch immer nicht wieder erreicht war, erfolgte eine stationäre Durchuntersuchung, welche keine pathologischen Befunde erbrachte. Ab dem 4 Lebensmonat wird Heinrich wegen unzufriedenstellender Gewichtszunahme teilsondiert. Ab dem 7. Lebensmonat fällt nicht mehr nur die zunehmende allgemeine Schwäche bei einem Körpergewicht von 4.800 Gramm auf, sondern auch eine deutliche statomotorische Retardierung. Die Aufnahme an unserer Klinik erfolgte in einem lebensbedrohlichen Zustand. Die ersten 10 Tage muss Heinrich auf der Intensivstation behandelt werden. Die Nahrungsmenge wird deutlich gesteigert und eine intensive orale Restimulation wird durchgeführt. Parallel finden stationäre Psychotherapie der Mutter, Interaktionstherapie sowie Paargespräche statt. Die Sonde kann wegen optimaler Gewichtszunahme von 1 kg pro Monat ab der 3. Woche entfernt werden. Heinrich wird entlassen, die Gewichtszunahme hält bei vollständig oraler Ernährung zuhause an, der Entwicklungsrückstand ist im Alter von 12 Monaten aufgeholt.

Individuations-Fütterungsstörungen

Primär gesunde Kinder, „idiopathische“ Essverweigerung mit Beginn ab dem 6. Lebensmonat meist bei überinvolviert-ängstlicher, unsicherer Bindungssituation, zunehmende Verschlechterung, je länger Störung dauert, sekundäre Vollsondierung wegen totaler Essensverweigerung oft über Monate häufig.

Lotte, 10½ Monate

Der bisher voll gestillte Säugling (zweites Kind gesunder Eltern, ungeplante Schwangerschaft) fällt ab dem 3. Lebensmonat durch eine mangelhafte Gewichtszunahme auf. Nach umfangreichen und sorgfältig durchgeführten Untersuchungen an Spezialkliniken ergaben sich keinerlei Hinweise auf eine organische Erkrankung.

Die Ernährung geschieht ab dem 5. Lebensmonat vollständig per Sonde. Als psychosoziale Belastungsfaktoren werden von den Eltern angegeben, dass der Zeitpunkt der Schwangerschaft aus wirtschaftlichen Gründen als „zu früh“ erlebt wurde und die Mutter die Hypothese vertrat, dass ihre Tochter sie durch die Gedeihstörung „strafe“, weil sie nicht primär gewollt war. Die stationäre Therapie (13 Tage) inkludierte Mutter, Vater und den um zwei Jahre älteren, gesunden Bruder. Lotte verlies das Spital als vollkommen gesundes Kind und nahm im weiteren gut zu.

In allen diesen Fallbeispielen geschieht etwas Gemeinsames: Es kommt zum Konflikt zwischen dem Kontrollbedürfnis der Erwachsenen (Mutter, Eltern, Verwandtschaft, Ärzte, Helfer) und den zunehmenden Autonomiebestrebungen des Kindes. Da das Kind auf Grund seines Alters noch nicht „vernünftig“ agiert, kommt sein intuitiv gesteuertes Verhaltensrepertoire zum Tragen: Das Kind geht mit seiner verfügbaren psychischen Energie und körperlichen Bewegungsmöglichkeiten in den Widerstand; eine sehr kluge und psychohygienisch intelligente Lösung, für das Essverhalten jedoch problematisch.

Durch die zusammengepressten Lippen kann kein Sauger durch, geschluckte Speisen werden regurgitiert und erbrochen, Aspirationserlebnisse machen die Kinder furchtsam und misstrauisch.

Dies alles muss im Rahmen einer spezialisierten, multidisziplinären Therapie wieder „enttraumatisiert“ und ein natürliches und intuitiv gesteuertes Essverhalten muss neu erlernt werden. Aufgrund der großen Sorge der Mütter, der begleitenden organischen Situation des Kindes und der Intensität des notwendigen Behandlungskonzeptes ist eine ambulante Therapie meist nicht ausreichend.

In einem spezialisierten stationären Rahmen dauert eine „Ess-Lern-Behandlung“ ohne vorangegangene Langzeitsondierung ca. 1-2 Wochen, bei Babys mit Langzeitsondierungen ca. 2-4 Wochen. Die Erfolgschancen sind grundsätzlich gut und hängen letztlich vom erreichten allgemeinen emotionalen und entwicklungspsychologischen Niveau des Kindes und der Verfügbarkeit einer sensitiven Betreuungsperson ab.

Es gibt immer noch Krankenkassen, die Müttern mitteilen, dass interaktionell bedingte und „psychogene“ Essstörungen im Kleinkindalter nicht vorkommen und deswegen auch nicht behandelt werden müssen, weil die Kinder dafür zu klein seien. Dies ist eine falsche, veralterte und arrogante Meinung. Es ist niemandem ein Vorwurf zu machen, der sich mit dieser Art von Störungsbildern nicht gut auskennt. Es ist jedoch eine bodenlose Arroganz, Müttern, die unter ständigem Druck der Kinderärzte über Monate versuchen, stundenlang Flüssigkeiten in ihre Kinder zu tröpfeln, zu unterstellen, es sei nur ihre Hysterie oder Nervosität, weswegen das Kind nicht esse. Sekundäre interaktionelle Mutter-Kind-Probleme bis zu handfesten mütterlichen Depressionen können vorkommen, dadurch kann das kindliche Signal noch weniger „dechiffriert“ werden. Die Mutter fühlt sich unsicher und zunehmend inkompetent, intuitiv richtig mit dem Nahrungsangebot umzugehen. Die Folgen sind kindlicher Widerstand, Unklarheit in der Emission weiterer Signale, weitere Verunsicherung der Mutter, vermehrte Angst und Druck: ein Teufelskreis.

Verweigerung jeder Art (so auch die Essverweigerung) als eine nachvollziehbare, klassische kindliche Antwort auf überinvolviertes und allzu invasives Verhalten der Mutter, spricht auf der Symptomebene grundsätzlich bereits für das Vorliegen einer überinvolviert-ängstlichen Interaktionslage. Wird diese erkannt und liebevoll stützend damit umgegangen, kann die Mutter wieder Sicherheit gewinnen und das Kind klare Signale zu senden erlernen.

Abschließende Bemerkungen

In diesem entwicklungspsychologisch programmierten Konflikt zwischen mütterlichem Bedürfnis nach Kontrolle und zunehmenden kindlichen Autonomieimpulsen entsteht bald ein im wörtlichen Sinne von beiden Seiten „verbissen“ geführter Machtkampf und später offener Krieg. Diese Mütter rennen ihren Säuglingen und Kleinstkindern mit tropfendem Löffel und perfekt inszeniertem Ablenkungs-Szenario (Comic-Filme, Musik, Animation durch Papa etc.) stundenlang nach. Die Kinder reagieren auf jedes mit Essen in Zusammenhang stehende Requisit (Küche, Lätzchen, Hochstuhl, Gläschen etc.) aversiv und wenden Mund und Gesicht ab. Die Raffinesse und Artistik auf beiden Seiten kennt kaum Grenzen; die Ideologisierung besonders „gesunder“ Ernährung ist ein zusätzlicher Risikofaktor.

Die häufigen Essens-Unsitten und einseitige Ess-Vorlieben von Kleinkindern im 1.-3. Lebensjahr sind prognostisch gut und relativ harmlos. Hier handelt es sich meist um Dysbalancen in der Eltern-Kind-Beziehung. Das Kind drückt dies im Bereich Essen aus, in dem es zum erpressenden Terroristen wird.

Warum ein kleines Kind in diese Rolle kommt und warum sich erwachsene Menschen von einem 2-Jährigen terrorisieren lassen, hat sehr unterschiedliche Gründe. Unsicherheit und Angst spielen die Hauptrolle. Das Kind wird sich seiner plötzlichen Macht bewusst und manipuliert freudig drauf los. Die Mütter sind hilflos, die Väter meist unverständig, die Ärzte machen häufig Druck. Hier kann nach Untersuchung des Kindes bei einem erfahrenen Kinderfacharzt zusätzlich die Hilfe eines erfahrenen Baby-Psychotherapeuten, Kleinkindtherapeuten oder systemischen Familientherapeuten aufgesucht werden.

Die Literaturangaben sowie Informationen über ein psychosomatisches Behandlungsschema bei frühkindlichen Ess- und Fütterungsstörungen (Modell der Sondenentwöhnung nach Dunitz-Scheer) sind über die Verfasserin erhältlich.

UD Dr. Marguerite Dunitz-Scheer, Universitäts-Kinderklinik, A-8036 Graz
Tel.: +43-316-385-2679, Fax: +43-316-385-3754

Univ. Prof. Dr. Marguerite Dunitz-Scheer ist Kinderfachärztin und Psychotherapeutin. Sie leitet die Station Kinderpsychosomatik an der Universitäts-Kinderklinik Graz. Ihre Schwerpunkte sind Säuglingspsychiatrie und Interaktionsstörungen.

Dr. Alexandra Schein ist Psychologin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in Ausbildung. Ihre Schwerpunkte sind Psychische Konstellationen während der Schwangerschaft und der frühen Elternschaft.

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