fK 2/00 Duhme

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Schnuller oder Daumen für Säuglinge und Kleinkinder?

Ein Plädoyer für den Daumen, der das organische Lernen unterstützt.

von Heidje Duhme

Wenn man schon nicht mit ihm sprechen kann, so kann man doch über ihn reden: den Schnuller. Der geneigte Leser, die aufgeschreckte Leserin – sie mögen sich vorstellen, sie zwischen den Lippen und Zähnen, auf der Zunge, vor den Lippen, auf der Haut um die Lippen herum zu haben: die kleine braune elastische , etwas glänzende glatte und glitschige Gummiblase mit der Plastikplatte davor, auch Schnuller genannt.

In den 20iger Jahren in den USA erfunden – wurde er dort ‚pacifier‘ genannt, sein Siegeszug ist bisher ungebrochen. Einer in der englischen renommierten medizinischen Fachzeitschrift ‚

‚LANCETE‘ veröffentlichten Studie zufolge sind im späteren Leben ‚ Schnullerbenutzer‚ weniger intelligent als solche Menschen, die als Wickelkinder den Daumen oder Finger benutzten.

Was bedeutetdas Saugen in der Entwicklung des Menschen?

Das so archaisch und doch bis heute für alle Kulturen so natürlich anmutende Saugen hat sehr natürliche und entwicklungsbezogene Konsequenzen. Welchen Unterschied macht es dabei, ob ein Säuglûing seinen Daumen/ seine Finger dazu benutzt oder ob er ‚ Beruhigung per Schnuller findet? Mit etwas Spürsinn und Geduld lässt sich das auch für uns Erwachsene noch herausfinden.

Die Saugbewegung findet bereits in der Gebärmutter statt: eine erste zielgerichtete Bewegungskoordination, die sowohl eine motorische wie sensorische Repräsentation für die Lippen und Zunge in der ‚Großhirnrinde‚ schafft – eine lebensnotwendige Voraussetzung für das Saugen an der Brust bzw. Flasche. Das ungeborene Kind erlebt so Sensationen im eigentlichen Wortsinn: (lat.: ‚ sentiri = spüren).

Die Repräsentanz für den Daumen in der ‚ Großhirnrinde‚ ist wegen seiner ‚ Opponierbarkeit notwendig für das Greifen und Begreifen sowie für die taktil-kinästhetische Wahrnehmung. Diese erlaubt erste Kommunikation und Orientierung in der nachgeburtlichen Welt (neben der Notwendigkeit, sich zu diesem Zeitpunkt an die Bedingung der Schwerkraft ausserhalb der Gebärmutter zugewöhnen). Verschiedenartige Sinnesreize werden so schon früh zu sich untereinander vernetztenden überlebensnotwendigen Erfahrungen.

Was bedeutet das Daumenlutschen (wie auch das Stillen ) für die Kindesentwicklung?

– Der Daumen schmeckt und riecht, so dass die entsprechenden Sinnesorgane schon früh angeregt‚ werden, vielfältige Qualitäten wahrzunehmen, zu unterscheiden und mögliche Reaktionen auszuprobieren.

– Nuckeln am Daumen erlaubt das eigenständige Finden der Körpermittelinie, d.h. in der Folge leichter das Gleichgewicht zu finden, – eine Voraussetzung für jede Körperhaltung und Bewegung, sieht man vom Liegen ab.

– die später zur Drehung notwendige Kreuzung der Mittellinie wird vorbereitet.

– Die Lateralisation‚ d.h. rechts / links- Händigkeit‚ wird vorbereitet und die Präferenz für Augen und Ohren angebahnt.

– Die Koordination von Lippen, Zunge, Kiefer wird eingeübt – wichtig für eine gut koordinierte Atem- und Schluckbewegung, die Belüftung des gesamten Nasen – Rachenraumes sowie die Sprachentwicklung.

– Hand und Arm werden zu differenziert koordinierter und komplexer Leistung veranlasst.

– Differenzierte ‚taktile Erfahrungen durch Unterschiede der Haut und des Daumennagels stimulieren unterschiedliche Saugintensitäten und provozieren qualitativ unterschiedliche Reize im Gehirn; die Finger ertasten Informationen über die Eigenschaften der Mundhöhle.

– Die höchst sensibel funktionierende Beweglichkeit des Magen- Darmtraktes wird über die unterschiedlichen Reize unter den organischen Bedingungen des Saugens reguliert.

– Die Widerstandskraft des Körpers wird stimuliert durch Berührung mit den Keimen der Alltagsumgebung, gleichzeitig eine Allergieprävention.

– das Empfinden für den Funktionszyklus Saugen – Loslassen – Pause entwickelt sich, damit einher geht die Erfahrung eines Rhythmus während einer Tätigkeit.

– Die Aufrichtung der Wirbelsäule und damit der aufrechte Gang werden stimuliert und vorbereitet.

Die Opponierbarkeit des Daumens wird gefördert – höchst wichtig für die Freiheit zum Greifen, Begreifen und Loslassen der Welt – letztlich auch das des Eigenen / Fremden und des Selbst / Anderen.

Selbstbewusst oder mundtot?

Neben den unmittelbar körperbezogenen sensomotorischen Auswirkungen des Daumensaugens hat es weitere tiefe emotionale Bedeutungen: Über den Daumen verfügt der Säugling selbst, er kann unmittelbar auf sein Wohlbehagen‚Einfluss nehmen, sich selbst be-greifen(= Über sich lernen), sich Gewissheit über seine eigenständige Existenz verschaffen. Damit erfährt er auch einen Beginn von Autonomie und Selbstverantwortung. Der Beginn differenzierter Selbstentdeckung bedeutet auch den Beginn der Formung eines Bildes von der Welt um sich herum. Es geht um selbstentdeckendes Lernen, verbunden mit der Erfahrung von Ganzheit in tätigem Vollzug (Hans Jonas).

Als Metapher gedacht steht der Daumen als Gegenüber für These und Antithese für unsere eigene Widersprüchlichkeit die durch Be-greifen und Los­lassen unser Leben täglich neu ausmacht.

Wie wirkt demgegenüber der Schnuller?

Er leistet einen ersten und nachhaltigen Beitrag zur Verödung menschlicher auf Lernen und Aktivität angelegten Sinne, einen Beitrag zur Selbstentfremdung und zum Verlust der Erfahrung von Selbstverantwortung und Autonomie, begleitet von tief verankerter meist‚ unbewusst bleibender namenloser existentieller Angst; das Selbst kann sich nicht durch sich selbst erfahren, es wird quasi „mundtot“ gemacht.

Die synthetische Schnullerbeschaffenheit erlaubt keine differenzierten – also nur monotone- Impulse und Informationen über elementare Koordinationsvorgänge bzw. über das Selbst. Seine monotonen Reize senken die Wachheit und Aufmerksamkeit des Zentralnervensystems, – eben darin besteht die beruhigende Wirkung d.h. auch, grundlegende Lernerfahrungen finden in der dafür am allersensibelsten Lebenszeit des Säuglings nicht in organischer Weise statt, weil die Stimulation der Großhirnrinde, die für die o.g. Vorgänge notwendig ist, unterbleibt. Zudem kommt es nicht zu einer‚ echten Bedürfnisbefriedigung beim Schnuller-Säugling der freilich nicht wissen kann, was er versäumt, denn „Lernen ist die beste Unterhaltung für das‚ Nervensystem!“ (M. Feldenkrais).

Sieht man wegen dieser frühen dauerfrustrierenden prägenden Urerfahrung bei so vielen Menschen ständig die stets aufs neue frustrierende Suche nach oraler Befriedigung mittels Schoko-Riegel, Kaugummi, etc…?

Störungen sind vorprogrammiert und werden heute allerorten oft ohne taugliches Verständnis für den Gesamtzusammenhang und die früh angelegten Ursachen von wahren Heerscharen von Experten „therapiert“: Drei-Monatskoliken, Mitttelohrentzündungen, Gleichgewichtsstörungen, taktil – kinästhetische Wahrnehmungsstörungen, Gangunsicherheiten, Haltungsfehler‚ verbunden mit fehlender räumlicher Orientierung…, Sprachstörungen, rechts/links-Unsicherheit, keine der‚ Funktionsebenen ist von potentiellen möglichen Folgen des kleinen Unterschiedes beim Nuckeln ausgenommen. Der Hinweis auf die durch Daumengebrauch entstehende Kieferverformung trägt nicht: nie hatten Kieferorthopäden soviel zu tun wie heute, und die Form des Kiefers bestimmt sich zudem durch den Gebrauch des gesamten Bewegungssystems.

Eben das gleiche Denken, die gleiche Gebrauchs- und Wirklogik wirkt in einer selbstentfremdeten Erwachsenenwelt weiter: Ein „gutes“ Baby ist hier zulande auch immer ein gut transportables: in schmaler Sitzschale, in Umhängetüchern auf Asphaltboden‚ spazierengetragen, in engen Kinderwagen und in Autos gefahren entwickeln sich nur sehr schwer eigenständige und in erkundender Auseinandersetzung mit der Umgebung gewachsene produktive‚ Bewegungs-‚ Empfindungs- und Denkerfahrungen. Die Hüftgelenke, der Rücken, die Schultern, die Arme müssen darauf warten, Befreiung zur Bewegung zu finden, wobei dann we- gen des Mangels an Übung das Problem der Kräftedosierung auftaucht. Wegen der Geschwindigkeit und Unabsehbarkeit‚Aussenbewegungen ist eine Orientierung in der Aussenwelt‚ unmöglich, die Beziehungen zu sich selbst und den umgebenden Objekten bleiben unklar und die Aufmerksamkeit ist schwer zu zentrieren; das Fachwort heisst ADS – Syndrom. Zum Laufen Lernen bekommen die Kinder „Lauflernschuhe“ angezogen: Die Sprunggelenke werden in Fesseln gelegt, die übrigen Körpergelenke entsprechend an freier Beweglichkeit gehindert. Später können die Kinder sich in Bildschirmen anstatt in den Gesichtern liebevoller Erwachsener spiegeln. Sie lernen nicht, Mimik zu lesen und zu deuten mit allen daraus folgenden Konsequenzen: Unsicherheit und ein Gefühl des‚ Angewiesenseins auf Hilfe von Aussen (die Dienstleistungsgesellschaft ist gerne bereit ).

Spielzeug wie Playmo, Lego, Barbies – für phantasiereiche Kinderwelten gedacht – vermitteln wegen ihrer monotonen Oberflächenreize den Fingerspitzen keine differenzierten, Einfühlung im konkreten Wortsinn erfordernden Informationen; die Spielerfahrung richtet sich überwiegend an Farben und die Logik der Form, nicht aber auf die taktile Wahrnehmung – was aber ist Fingerspitzengefühl?

Monotone Reize bewirken im Nervensystem hohe Reizschwellen für neue Empfindungen – vereinfacht formuliert wirken sie auf die Dauer wie Schwielen an den Füssen! Sie machen wahrnehmungsblind.

Kinder können nur das tun, was in ihrer jeweiligen Umgebung zu lernen ihnen ermöglicht worden ist. Ist es zu weit angenommen, dass in diesen Nichterfahrungen des Daumennuckelns auch eine mögliche Ursache zu der herrschenden Gewaltbereitschaft angelegt ist?

Es soll hier nicht um eine lineare Logik von Ursache und Wirkung gehen und das menschliche Nervensystem kann vieles bis zu einem gewissen Grad auch gut kompensieren. Es soll auch nicht darum gehen, wieder mal jemandem – meist Müttern – ein schlechtes Gewissen zu machen. Vielleicht können Eltern aber mit diesem Wissen anders darüber entscheiden, in welcher Weise sie ihrem Baby das Glück des Nuckelns‚ der Freude an den Entdeckungen der eigenen Möglichkeiten und damit ein Mehr an Selbst-Verständnis ermöglichen wollen.

Heidje Duhme ist Feldenkraislehrerin in freier Praxis, CoAssistentin im Feldenkraistraining, Teamsupervision.
Als Ärztin Erfahrung in Anästhesie, Innerer Medizin, Kinderheilkunde, Sozialpädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Literatur:
FELDENKRAIS, M: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Suhrkamp TB;

Ders.: Bewußtheit durch Bewegung, Suhrkamp TB

LANCET 1996; 347: 1072-75, Breastfeeding, dummy use and adult intelligence;

LIPPE, R. zur, 1995;Therapie im Spiel des Lebens, (Vortrag )

PEDIATRICS, 1995, 96; A pacifier increases the risk of recurrent otitis media in children in day care centers.

SIMONSON, C., 1993; Orale Angewohnheiten als Probleme in der Pädiatrie; (Vortrag, Akademie für Kinderheilkunde)

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