18 Juni fK 1/11 Bootz
Kooperation zwischen Kindertagespflege und Kindertagesstätten
Die Kinderbrücke der Landeshauptstadt Wiesbaden
von Gabriele Bootz
Es ist Mittwoch, 10:00 Uhr. Kinder und Erwachsene der „Windgruppe“ haben sich zu einem Morgenkreis versammelt. Sie singen ein Herbstlied. Eine der erwachsenen Personen (Bärbel) holt einen kleinen Korb, der mit einem Tuch verdeckt ist. Die Kinder verhalten sich neugierig, interessiert. Bärbel holt langsam die Gegenstände aus dem Korb, zeigt sie den Kindern, benennt sie, breitet sie aus: es sind Kastanien, Herbstblätter, Pilze, Moos, Früchte. Sie erzählt den Kindern, dass sie die Gegenstände mit den Kindern Simon, Lara und Sally bei einem Spaziergang gesammelt hat. Es beginnt ein Gespräch über den Herbst. Die Kinder Simon und Mira verlassen nach einer Weile den Kreis. Sie gehen in die Bauecke des Gruppenraums und beginnen ein Spiel mit Holztieren. Ein weiteres Kind gesellt sich dazu, schaut erst eine Weile zu und beginnt dann, sich am Spiel zu beteiligen.
Ein typischer Vormittag in der Kinderkrippe der städtischen Kindertagesstätte Toni-Sender-Haus in Wiesbaden. Und doch ein besonderer: Bärbel ist eine Tagesmutter und Simon ist eines ihrer Tageskinder. Immer mittwochs nimmt Bärbel mit ihren drei Tageskindern Simon, Lara und Sally von 9:00 bis 11:00 Uhr am Gruppenalltag der Windgruppe teil. Auch in den beiden Nachbargruppen sind während dieser Zeit Tagesmütter mit ihren Tageskindern zu Besuch.
Die drei Tagesmütter und Kinderkrippengruppen haben sich seit 2007 in einem der Wiesbadener Kooperationsmodelle Kinderbrücke zusammengeschlossen.
Das Kinderbrückenmodell
Die Kinderbrücke ist ein Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren. Ihre Betreuung wird von qualifizierten Tagesmüttern in deren Haushalt sichergestellt. Einmal wöchentlich besuchen sie mit ihren Tagesmüttern eine Patengruppe der Kinderkrippe, die bei krankheitsbedingtem Ausfall der Tagesmutter die Betreuung der Tageskinder übernimmt. Kernelemente der Kinderbrücke sind die verbindliche Kooperation der Tagesmütter mit der Kindertagesstätte, die Einbindung der Tagesmütter und Kinder in Aktivitäten der Kindertagesstätte, sowie Öffnung der Fortbildungsangebote der Kindertagesstätte für die Tagesmütter.
Fachlich begleitet und geschult werden die Tagesmütter durch eine mit zusätzlichen Stunden ausgestattete Fachkraft der Kindertagesstätte, die an den Patentagen Kontakt zu Tagesmüttern und Kindern hat und einmal im Monat eine praxisbegleitende Qualifizierung für die Tagesmütter durchführt oder organisiert – die Gruppenleiterin Kinderbrücke. Sie steht auch den Eltern der Tageskinder als fachliche Begleitung zur Verfügung. Sie erhält ihrerseits kollegiale Unterstützung und fachliche Beratung durch die Leiterin der Beratungs- und Vermittlungsstelle für Kindertagespflege der Landeshauptstadt Wiesbaden „Treffpunkt Tagesmütter“, die für die fachliche Einarbeitung in die Themenvielfalt der Kindertagespflege, Steuerung aller Kindertagespflegeprojekte, Qualitätsentwicklung und Controlling zuständig ist. Für alle Beteiligten bilden feste Rahmenbedingungen und vertragliche und finanzielle Absicherungen ein hohes Maß an Sicherheit.
Vernetzung: Miteinander lernen – Voneinander profitieren
Die Kooperation der beiden Bereiche Kindertagespflege und Kindertagesstätten ist zunächst nicht selbstverständlich – und war auch in Wiesbaden ein Weg, der entwickelt werden musste und Zeit benötigte: Da galt es, die beiden traditionell unterschiedliche Betreuungsformen Kindertagespflege und institutionelle Kinderbetreuung mit ihren jeweils eigenen Strukturen, fachlichen Standards und Verfahren füreinander zu interessieren, sich kennen zu lernen, Vorurteile und Vorbehalte gegenüber dem jeweils anderen Bereich abzubauen. Da ging es darum, Eigeninteressen der jeweiligen Bereiche zugunsten eines gemeinsam entwickelten Zieles zurückzustellen. Da galt es Transparenz herzustellen, Rahmenbedingungen zu entwickeln und Menschen und Institutionen zu finden, die einen Anfang wagen und aufeinander zugehen.
Nach über zwei Jahren Laufzeit ist das Modell Kinderbrücke inzwischen zu einer festen Größe bei allen Beteiligten geworden. Nicht zuletzt wurde durch eine Evaluation deutlich, welche Gewinne sich für die Beteiligten aus dieser engen Kooperation ergeben.
Tageskinder und auch Krippenkinder profitieren von der Vernetzung. Die Kinder nehmen sich gegenseitig als willkommene Spielpartner wahr, Erzieher(innen) und Tagesmütter werden zu zusätzlichen Bezugspersonen für alle Kinder. Tageskinder können sich in größeren sozialen Gruppen erfahren, lernen institutionelle Abläufe kennen – eine gute Vorbereitung auf den späteren Übergang in den Kindergarten. Sie erhalten zusätzliche Bildungs- und Förderangebote durch didaktische Lernmaterialien der Einrichtung im Rahmen erprobter pädagogischer Konzepte und können kindgerechte Räume (Außengelände, Turnraum) nutzen. Im Vertretungsfall werden sie von vertrauten Menschen in einer ihnen bekannten Umgebung betreut und fühlen sich dort sicher und emotional gut aufgehoben.
Tagesmütter erhalten fachliche Anregungen, können sowohl durch Beobachtung als auch durch aktive Beteiligung lernen. Es entsteht ein Erfahrungs- und Ideenreichtum, aus dem für die eigene tägliche Arbeit geschöpft werden kann. Umgekehrt können sie ihre Ideen und individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten in der Kinderkrippengruppe einbringen und bereichern damit das Gruppengeschehen. Sie erleben sich in den Gruppen als Unterstützerinnen der Erzieherinnen und als ein bedeutender Teil des Gruppengeschehens. Die fachliche Beratung und Begleitung durch die Projektleitung und die Möglichkeit des kollegialen Austauschs mit Erzieher(inne)n und untereinander führt bei Tagesmüttern zu größerer Sicherheit in ihrem pädagogischen Handeln.
Erzieher(innen) lernen die Tätigkeit der Tagesmütter aus neuer Perspektive kennen und beginnen sie wertzuschätzen. Im engen Kontakt zu den Tagesmüttern erfahren sie, dass ihre Fachlichkeit gefragt wird. Die Notwendigkeit, sich mit der eigenen Arbeit auseinanderzusetzen, sie erklären zu müssen und hinterfragt zu werden, führt zu einem Zugewinn an Kompetenzen: sie werden gleichermaßen gefordert und gefördert.
Die Kindertagesstätte im Projekt Kinderbrücke stärkt ihr eigenes Profil: sie gewinnt und zeigt Kompetenzen für verschiedene Formen der Kinderbetreuung. Sie übernimmt Verantwortung für eine qualitativ gute Kinderbetreuung auch außerhalb des institutionellen Rahmens. Sie wird zu einem offenen Haus mit vielfältigen Angeboten.
Die Kooperation zwischen Tagesmüttern und pädagogischen Fachkräften findet in der Kinderkrippe Toni-Sender-Haus längst selbstverständlich und unbeschwert statt. Beide Betreuungsformen, die Kindertagespflege und die institutionelle Betreuung, stehen gleichberechtigt nebeneinander. Erzieher(innen) sowie Tagesmütter begegnen sich auf gleicher Augenhöhe: jeder unterstützt den anderen – jeder akzeptiert und respektiert den anderen in seiner jeweiligen Fachlichkeit.
Das beschriebene Modell wird derzeit in zwei Kindertagesstätten der Landeshauptstadt Wiesbaden praktiziert: ein großer Gewinn für die Kinder, die unabhängig davon, wo sie betreut werden, einen Anspruch darauf haben, optimal gefördert zu werden und stabile und gute Beziehungs- und Bildungsangebote zu erhalten.
Das Projekt Kinderbrücke ist Träger des Präventionspreises (1. Preis) Frühe Kindheit der Deutschen Liga für das Kind.
Informationen zu den Kinderbrückenmodellen unter Tel. 0611-31 42 63, E-Mail: kindertagespflege@wiesbaden.de.
Gabriele Bootz ist Sozialpädagogin im Amt für Soziale Arbeit Wiesbaden. Sie leitet die Beratungs- und Vermittlungsstelle für Kindertagespflege „Treffpunkt Tagesmütter“.
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