fK 1/08 Meier-Gräwe

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Mahlzeit und guten Appetit!
Der Essalltag von Familien berufstätiger Mütter

von Uta Meier-Gräwe

Die einschlägigen Botschaften über den Essalltag von Eltern und ihren Kindern in Deutschland sind sehr widersprüchlich. Zum einen wird von besorgten und engagierten Müttern berichtet, die sich nach der Geburt ihrer Kinder zu wahren „Gesundheits- und Ernährungsexpertinnen“ ihrer Familien entwickeln und mit einem breiten Fundus an Detailwissen über Nährstoffwerte und die Anbaumethoden im ökologischen Landbau aufwarten können. Biomärkte boomen, selbst einschlägige Supermarktketten bedienen inzwischen die deutlich gestiegene Nachfrage nach naturbelassenen Produkten. Junge Starköche wie Jamie Oliver machen uns in den öffentlichen und privaten Fernsehsendern unaufhörlich Lust auf gesunde Kost und geben im Verbund mit Sportwissenschaftlern den „Easy way“ für einen schönen, schlanken Körper vor.

Auf der anderen Seite häufen sich die Schlagzeilen über Arbeitslosengeld II beziehende Eltern, die das Essensgeld für Kita und Schule nicht mehr aufbringen können. Erzieher(innen) und Lehrer(innen) treffen immer häufiger auf Kinder, die hungrig und ohne Frühstück in die Schule kommen oder regelmäßig Cola und süße Stückchen anstelle eines gesunden Pausenbrots zu sich nehmen. Kulturwissenschaftler und andere Experten befürchten den Untergang des Abendlandes, weil das bürgerliche Mahlzeitenmuster erodiert und durch Fast Food und Essen rund um die Uhr ersetzt zu werden scheint.

Nur ein differenzierter Blick führt weiter
Wie lassen sich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und Entwicklungen im Essverhalten erklären? Lösen sich tradierte Mahlzeitenmuster und Essroutinen tatsächlich auf und verliert die sozial-kommunikative Dimension des Essens an Bedeutung? Lässt sich die in der Öffentlichkeit geläufige These überhaupt nachweisen, dass sich Menschen in der schnelllebigen mobilen Gesellschaft immer weniger Zeit zum Essen nehmen? Den Essalltag von Familien zu analysieren, heißt schließlich auch danach zu fragen, ob die verstärkte Integration von Müttern in den Erwerbsbereich zu neuen Geschlechterarrangements bei der Sicherstellung der Ernährungsversorgung von Eltern und Kindern führt und welche öffentlichen Verpflegungsangebote in Kindergarten, Schule und am Arbeitsplatz nachgefragt werden.

Repräsentative Zeitbudgetdaten des Statistischen Bundesamtes von 2001/2002 machen deutlich, dass der Essalltag in Deutschland sehr unterschiedlich gelebt und gestaltet wird. Pauschalurteile und Generalisierungen sind deshalb fehl am Platz; stattdessen macht nur eine differenzierte Betrachtung Sinn.

Entgegen der geläufigen These einer fortschreitenden Rationalisierung von natürlichen Bedürfnissen und Körperzeiten nehmen sich die Deutschen – trotz zunehmender zeitlicher Belastung im Alltags- und Berufsleben – mit 1 Stunde und 43 Minuten im Jahr 2001/2002 im Durchschnitt überraschenderweise sogar 21 Minuten mehr Zeit als zehn Jahre zuvor. Das gilt für Familien in noch stärkerem Maße als für berufstätige Singles oder für Paare ohne Kinder. Der größte Anteil davon entfällt auf das Essen in den eigenen vier Wänden und nicht auf die außerhäusliche Mahlzeiteneinnahme, die jedoch ebenfalls angestiegen ist, und zwar um durchschnittlich 8 Minuten pro Tag. Von einer Verdrängung des Essens aus dem Zentrum alltäglicher Aktivitäten kann also nicht die Rede sein. Essen ist in Deutschland nach wie vor eine betont familienbezogene Angelegenheit. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass die deutsche Bevölkerung auch Anfang des 21. Jahrhunderts mehrheitlich dem klassischen Mahlzeitenmuster mit drei Hauptmahlzeiten pro Tag folgt.

Kontrastiert man diese Ergebnisse mit den Befunden zum Zeitaufwand für die tägliche Beköstigungsarbeit, so fällt allerdings auf, dass sich Frauen 2001/2002 zwar mehr Zeit zum Essen, aber deutlich weniger Zeit für die Vor-, Zu- und Nachbereitung von Mahlzeiten nehmen als zehn Jahre vorher. Dieser rückläufige Zeitaufwand geht allerdings nicht auf eine zunehmend partnerschaftliche Arbeitsteilung zurück, sondern hängt mit dem Anstieg von Singlehaushalten, der Alterung der Bevölkerung und sinkenden Kinderzahlen zusammen. Frauen, die zeitlebens ohne Kinder bleiben und als Single leben, haben einfach ein geringeres Pensum an Haus- und Fürsorgearbeit zu leisten.

Mit der Entscheidung für Kinder jedoch wird der zu organisierende Essalltag in der überwältigenden Mehrzahl der Familien von den Müttern hauptverantwortlich übernommen. Selbst bei vollzeitbeschäftigten Müttern mit zwei schulpflichtigen Kindern fällt der Beitrag des Vaters mit täglich 20 Minuten äußerst bescheiden aus. Berufstätige Mütter kochen den Zeitbudgetdaten zufolge „schneller“ als Hausfrauen, berufstätige Akademikerinnen mit Kindern wenden dafür noch weniger Zeit auf als berufstätige Mütter insgesamt.

Was sich stattdessen bildungs- und schichtübergreifend zeigt, ist ein deutlicher Rückgang der Einbindung der Kindergeneration in die tägliche Ernährungsversorgung. Mädchen werden zwar immer noch stärker in diesen Arbeitsbereich eingebunden als Jungen, tendenziell jedoch nimmt die Vermittlung von Kulturtechniken an die Kinder beim Umgang mit Lebensmitteln und bei der Zubereitung von Mahlzeiten ab. Das ändert sich auch nicht im jungen Erwachsenenalter: 72 Prozent der 20- bis unter 25-jährigen Männer überließen 2001/2002 diesen Arbeitsbereich komplett den weiblichen Personen ihrer Herkunftsfamilie bzw. ihren Lebenspartnerinnen.

Was sagen diese Befunde aber nun über die Qualität der Ernährungsversorgung aus? Eigentlich wenig. Hier endet die Aussagefähigkeit von Zeitbudgetdaten. Aus anderen Studien ist lediglich bekannt, dass ein hohes Bildungsniveau tendenziell mit einer qualitativ hochwertigeren Ernährungsversorgung und einer besseren Gesundheit einhergeht. Angehörige des technisch-liberalen Milieus, also Ärztinnen und Ärzte, Ingenieurinnen und Ingenieure und Lehrer(innen) sind heute die zahlenmäßig größte Kund(inn)engruppe von Naturkostläden. Der höhere Zeitaufwand für die Essenszubreitung in Familienhaushalten aus den unteren Bildungs- und Einkommensgruppen ist demnach nicht per se als ein Hinweis zu deuten, der für eine hohe Qualität der täglichen Ernährungsversorgung steht. Vielmehr wissen wir, dass Übergewicht, Bewegungsarmut und ernährungs(mit)bedingte Krankheiten wie Diabetes vor allem in diesem Segment der Bevölkerung gehäuft auftreten.

Typologie des Essalltags in Familien von erwerbstätigen Müttern
In einer kürzlich abgeschlossenen qualitativen Studie (es handelt sich um eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Zeitraum von 2004 bis 2007 geförderte Studie „Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum – Der Essalltag von Familienhaushalten“, die an der Justus-Liebig-Universität Gießen unter Leitung und in Kooperation zwischen der Autorin und Prof. Dr. Ingrid-Ute Leonhäuser initiiert und von Dr. Anke Möser, Uta Zander und unter Mitarbeit von J. Köhler realisiert wurde) über den Essalltag von Familienhaushalten mit berufstätigen Müttern wollten wir – gestützt auf die Ergebnisse der repräsentativen Zeitbudgetforschung – mehr über die Sinnsetzungen und Präferenzen in Erfahrung bringen, von denen sich berufstätige Mütter bei der Ausgestaltung dieses Handlungsbereichs leiten lassen. Wir wollten wissen, welche Alltagsarrangements und Ressourcen zur Gewährleistung des Essalltags getroffen werden, wer die Fäden in der Hand hat und wie zufrieden Mütter mit den gefundenen Settings zwischen privatem und öffentlichem Raum eigentlich sind. Wir konnten fünf Versorgungstypen unterscheiden.

Familienorientierte Traditionalistinnen
Am häufigsten sind wir dem Typ der „familienorientierten Traditionalistinnen“ begegnet. Die zeitliche Ästhetik des Essens und Trinkens ist in diesem Versorgungstyp wesentlich geprägt durch die hohe Wertschätzung der bürgerlichen Mahlzeitenordnung mit Frühstück, warmer Mittagsmahlzeit und dem gemeinsamen Abendessen aller Familienangehörigen: „Und wir ziehen das auch ganz konsequent durch, als Familie zu essen“ (Haushalt 4:35). Teilzeitbeschäftigte Mütter mit einer hohen beruflichen Qualifikation versorgen ihre inzwischen schulpflichtigen Kinder selbst. Sie weisen eine hohe Familienorientierung auf und haben ihre Erwerbsbeteiligung nach Geburt ihrer Kinder zurückgefahren, um eine verlässliche, qualitativ hochwertige Ernährungsversorgung der Kinder ebenso zu gewährleisten wie deren nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung. Mütter sind hier die „Ernährungsministerinnen“ ihrer Familie und Fahrdienstleisterinnen ihrer Kinder zwischen Ballett-, Reit- und Schwimmunterricht. Das täglich selbst zubereitete warme und gesunde Mittagessen symbolisiert das Selbstverständnis dieser Mütter, für ihre Kinder präsent zu sein und diesen Part verlässlich zu übernehmen. Der mit der Koordinierung von Teilzeitarbeit und einer immer wieder herzustellenden anspruchsvollen Ernährungsversorgung verbundene Aufwand wird aufgrund dieser verinnerlichten Wertorientierung bewusst in Kauf genommen: Nach dem vormittäglichen Teilzeitjob als Grundschullehrerin oder in der Evangelischen Gemeinde wird eingekauft und gekocht, die Kinder kommen zum Mittagessen nach Hause bzw. werden zwischendurch abgeholt. Es ist diesen Müttern wichtig bei Tisch zu erfahren, was sich am Vormittag in der Schule ereignet hat, ob es Probleme gab und wie die Klassenarbeit gelaufen ist. Nach dem Abwasch folgt das nachmittägliche Bildungsprogramm.

Fürsorge heißt für diese Mütter, zwar nicht ganz auf einen Job zu verzichten, aber diesen dem Familienalltag eindeutig unterzuordnen. Dementsprechend dominiert hier eine klassische Arbeitsteilung mit dem durchgängig vollzeitbeschäftigten, ebenfalls gut ausgebildeten Partner, der das Einkommen der Familie sichert und sich in der Regel erst zum Abendessen am gedeckten Tisch niederlässt. Familienorientierte Traditionalistinnen praktizieren insgesamt eine ausgeprägt häusliche Ernährungsversorgung und geben an, mit ihrer beruflichen Situation ebenso zufrieden zu sein wie mit dem Essalltag ihrer Familie. Sie hegen hohe normative Ansprüche, was das Essen und Trinken angeht, und sind ausgesprochen empfänglich für praktikable Empfehlungen einer gesunden, abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung, die sie auch beim täglichen Kochen gern aufgreifen. Aufgrund dieser Präferenzen, die auch von den Vätern ihrer Kinder geteilt oder doch zumindest gebilligt werden, stehen die familienorientierten Traditionalistinnen einer institutionellen Mittagessenversorgung eher skeptisch gegenüber, nicht zuletzt, weil die vorhandenen und ihnen zugänglichen Versorgungsangebote ihren hohen Qualitätsansprüchen nicht genügen.

Berufsorientierte Netzwerkerinnen
Demgegenüber sind Vertreterinnen des Typs der „berufsorientierten Netzwerkerinnen“ auf Versorgungsangebote im öffentlichen Raum dringend angewiesen. Es handelt sich um berufsorientierte, in Vollzeit beschäftigte Akademikerinnen mit Kindergarten- bzw. Schulkindern. Auch in ihrem Wertekanon nimmt eine warme Mittagsmahlzeit für ihre Kinder einen hohen Stellenwert ein. Sie zeigen sich allerdings aufgrund ihres beruflichen Vollzeit-Engagements und wegen ihrer Karriereorientierung nicht in der Lage, diese Versorgungsleistung selbst zu erbringen, sondern sind auf institutionelle Verpflegungsangebote bzw. auf sonstige bezahlte Dienste in ihrem Alltag zwischen Beruf und Familie dringend angewiesen. In keinem anderen Typ übernehmen bezahlte Tagesmütter, Kindermädchen und Haushaltshilfen so oft die Mittagsverpflegung der Kinder. Auch wenn die Mütter viel an Aufwand betreiben, um passende Verpflegungssettings für ihre Kinder zu arrangieren, müssen bestimmte Abstriche in der Qualität zum Teil notgedrungen in Kauf genommen werden.

Auf private Netzwerkpersonen können gerade die berufsorientierten Netzwerkerinnen in der Regel nicht zurückgreifen, weil sie wegen ihrer akademischen Ausbildung oder eines Arbeitsplatzes, der ihrer Qualifikation entspricht, bestimmten Mobilitätszwängen unterliegen – die Großeltern wohnen in der Regel nicht am gleichen Ort. Deshalb muss meist ein beträchtlicher Teil des Erwerbseinkommens in die Betreuung und Versorgung der Kinder investiert werden. „Das heißt, mein Nettoeinkommen fließt vollständig in die Kinderbetreuung und in ein bisschen Haushaltshilfe, was so grade eben das macht, dass wir über die Runden kommen und mehr kann ich quasi nicht bezahlen…“ (Haushalt 8:7). Die berufsorientierten Netzwerkerinnen betrachten ihre Erwerbsarbeitszeit als zu kostbar, um sich selbst eine Mittagspause zu gönnen. Stattdessen wird von den Müttern zu unterschiedlichen Zeiten während der Arbeit gegessen. Eine unserer Interviewpartnerinnen hat dafür den Begriff des „PC-Picknicks“ geprägt.

Das Frühstück am Morgen muss schnell gehen. Während die Väter meist schon auf dem Weg zur Arbeit sind, wird die Präsenz der Mütter in der Küche nicht durch ein entspanntes gemeinsames Frühstück mit den Kindern bestimmt, sondern besteht in der Vorbereitung der Pausenbrote für unterwegs. Es ist einsichtig, dass wegen dieses straffen Morgenprogramms und der getrennten mittäglichen Versorgung von Eltern und Kindern der Stellenwert des Abendessens als der Hauptmahlzeit des Tages entsprechend hoch ist. Es wird in vielen dieser Familien wie ein gemeinsames tägliches Familienritual zelebriert: Man genießt die gemeinsame Familienzeit beim Essen, um sich über die aktuellen Ereignisse in Kita, Schule und am Arbeitsplatz auszutauschen und trifft notwendige Vorabsprachen für den nächsten Tag. Handlungsspielraum für die Zubereitung von aufwändigen Menüs gibt es an Werktagen allerdings kaum. Es geht vielmehr darum, mit einem möglichst geringen Zeitaufwand ein warmes und vor allem gesundes, selbst zubereitetes Essen auf den Tisch zu bringen. Dadurch wird versucht, dem oft ernährungsphysiologisch als unzureichend betrachteten Mittagessen der Kinder in Kindergarten und Schule zu begegnen und schließlich auch als Mutter zumindest einmal am Tag selbst eine warme und gesunde Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die mit diesem Anspruch verbundenen Belastungen der Vor-, Zu- und Nachbereitung des Essens am Abend nach einem langen Arbeitstag nehmen die Mütter auf sich, um ihrem ausgeprägten Pflicht- und Fürsorgebewusstsein nachzukommen. Sie wollen ihren Kindern und ihrem Partner, aber auch sich selbst eine gesunde Ernährung in guter Atmosphäre bieten und dafür Zeit haben.

Obwohl die Partner der vollzeitbeschäftigten berufsorientierten Netzwerkerinnen an den Einkäufen und Beköstigungsarbeiten stärker teilhaben als andere Väter, kann von einer paritätischen Arbeitsteilung auch bei diesem Versorgungstyp nicht die Rede sein: Es sind auch hier die vollzeitbeschäftigten Mütter, welche die Hauptverantwortung für die Organisation des Essalltags tragen. Das täglich zu bewältigende Pensum an praktischen und organisatorischen Koordinationsleistungen lässt ihnen wenig Raum für Eigenzeit und führt zu einer erheblichen zeitlichen und psychischen Belastung, die von ihnen auch so wahrgenommen wird.

Pragmatische Selbständige
Schließlich gibt es den Typ der finanziell gut gestellten „pragmatischen Selbständigen“ mit jüngeren Kindern bis höchstens im Grundschulalter. Sie verfügen über Hochschulabschluss oder zumindest eine Meisterausbildung und üben ebenso wie ihre Partner einen Vollzeitjob aus. Um ihren beruflichen Interessen nachgehen zu können, ohne deshalb auf ein Leben mit Kindern zu verzichten, haben die Mütter mit der Geburt ihres ersten Kindes als Strategie einer gelingenden Work-Life-Balance vorsätzlich und aktiv den Weg in die berufliche Selbständigkeit eingeschlagen. Die wichtigsten Unterstützungspersonen in diesem Arrangement sind die meist im direkten Wohnumfeld lebenden Großmütter. Der Arbeitsplatz der pragmatischen Selbständigen befindet sich in der Wohnung/im Haus oder in der unmittelbaren Nähe der Wohnung, so dass sie gemäß des internalisierten bürgerlichen Versorgungsleitbilds die drei Hauptmahlzeiten mit ihren Kindern einnehmen können. Zur zeitlichen Ästhetik des Essens und Trinkens gehört es, in Ruhe gemeinsam zu frühstücken. Dieses morgendliche Familienritual kann durch den selbstbestimmten, relativ späten Arbeitsbeginn der beruflich selbständigen Mütter auch gelebt werden. Demgegenüber bestehen zeitliche Restriktionen bei der Vorbereitung und der Dauer der gemeinsamen Mittagsmahlzeit, denn danach wenden sich die Mütter wieder ihren beruflichen Verpflichtungen zu. Hier dominiert ein pragmatisches Herangehen, dem Grundsätze einer gesunden Ernährung gelegentlich auch nachgeordnet werden. Der Rückgriff auf Tiefkühlkost, Konserven und Fertiggerichte dient ebenso wie auf das Standartrepertoire an schnellen Gerichten oder der Gang zum Metzger von gegenüber, der einen akzeptablen „Take Away“-Mittagstisch anbietet, ganz pragmatisch der Arbeits- und Zeitersparnis: „Weil… ich auch nicht so der Sklave meines Herdes bin“ (Haushalt 15:302).

Hinzu kommt die Gewissheit, dass die Mütter an besonders arbeitsreichen Tagen die Mittagessenversorgung der Kinder an die Großmütter delegieren können. Die selbst gewählte „Entgrenzung von Arbeit und Leben“ durch den Berufsstatus der Selbständigkeit bietet eine vergleichsweise hohe Zeitautonomie und erlaubt es den Müttern vielfach sogar, ein persönliches Hobby, z. B. Reiten oder Tennis spielen auszuüben. Mit den gefundenen Arrangements ihres familialen Essalltags sind die Mütter alles in allem zufrieden. Ihre Kinder werden in die Vor-, Zu- und Nachbereitung von Mahlzeiten altersgerecht eingebunden und lernen früh, auch in diesem Handlungsbereich selbständig zu sein.

Überlastete Einzelkämpferinnen
Eine überdurchschnittlich hohe Arbeitsbelastung in Familie und Beruf bei gleichzeitigen Defiziten an Netzwerkpersonen kennzeichnet demgegenüber den Ernährungsversorgungstyp der „überlasteten Einzelkämpferinnen“. Geringe oder fehlende berufliche Ausbildungsabschlüsse beider Eltern machen es für die Mütter erforderlich, als Vollzeitbeschäftigte – oft im Schichtdienst der industriellen Fertigung oder im Dienstleistungssektor – zum Familienbudget beizutragen. Viele Mütter dieses Versorgungstyps haben einen osteuropäischen Migrationshintergrund und können weder auf ein dicht geknüpftes Netzwerk aus Verwandten, Freunden und Nachbarn noch auf finanzielle Spielräume zurückgreifen, um sich bei der Sicherstellung des Essalltags ihrer Familien eine spürbare Erleichterung zu verschaffen. Das verinnerlichte Leitbild von der Mutter als der Versorgerin ihrer Familie führt deshalb unter diesen Rahmenbedingungen notwendigerweise zu Zeitdruck und Überlastung: Die vielfältigen Beköstigungsaufgaben der täglichen Ernährungsversorgung für ihre Familien werden alleinverantwortlich getragen, ohne deshalb die Chance zu haben, den anstrengenden Vollzeitjob im Mehrschichtsystem reduzieren, geschweige denn aufgeben zu können.

Dreh- und Angelpunkt des Essalltags ist die Eigenproduktion einer warmen, sättigenden, den Geschmacksvorlieben der Kinder und Partner entsprechenden Mahlzeit. Die hohe Wertschätzung des gemeinsamen Essens und Trinkens mit der ganzen Familie kollidiert an den Werktagen mit unterschiedlichen Arbeits- und Schulzeiten von Eltern und Kindern, so dass häufig solitär oder lediglich in der Mutter-Kind-Konstellation gegessen werden muss. Diese als unbefriedigend erlebte Alltagssituation versuchen die Mütter durch ausgiebiges Kochen und Backen an den Wochenenden wieder auszugleichen, auch um den Preis, keinerlei persönliche Zeit zum Entspannen zu haben. „…Ich kann mich nicht, hab` ich immer welche Druck mit Zeit. Ich habe zu wenig Zeit für alles“ (Haushalt 42:92). Dennoch beziehen sie aus dieser Versorgerinnenrolle ihre Identität und teilweise auch Anerkennung durch die Familie. Allerdings bleiben sie mit diesen Aufgaben oft völlig auf sich gestellt.

Von den Müttern wird wenig Mithilfe von Seiten des Partners und der Kindern erwartet bzw. eingefordert, zugleich gehen Väter und Kinder selbstverständlich davon aus, dass diese Versorgungsaufgaben von der Frau übernommen werden. Darüber hinaus entsteht die Überlastungssituation der Mütter durch den hohen Anspruch, möglichst frische Lebensmittel zu verwenden und Speisen selbst zuzubereiten. Auf dem Speiseplan stehen regelmäßig traditionelle, kalorienreiche und deftige Fleisch- und Fischgerichte mit Gemüse- und Sättigungsbeilagen, aber auch Kuchen und Süßspeisen aller Art. Ganz offensichtlich dient das gute und ausgiebige Essen nicht zuletzt der Kompensation von erfahrenem Mangel im Zugang zu anderen Konsum- und Erlebnisfeldern der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Übergewicht ist in diesem Ernährungsversorgungstyp nicht von ungefähr ein allgegenwärtiges Signum.

Aufopferungsvolle Umsorgerinnen
Der Typ der „aufopferungsvollen Umsorgerinnen“ wird repräsentiert durch Familienmitglieder der Arbeiterschicht. Es dominieren ein vergleichsweise niedriges Bildungs- und Qualifikationsniveau und relativ enge finanzielle Spielräume im Haushaltsbudget. Die in der Familie lebenden Kinder sind meist volljährig, befinden sich in einer Ausbildung oder gehen bereits einer Erwerbstätigkeit nach. Die stundenweise Erwerbsbeteiligung der Mütter (oft ein 400-Euro-Job) stellt in aller Regel nicht mehr als eine schlichte Notwendigkeit dar, um zur Aufbesserung des Haushaltseinkommens der Familie beizutragen. Ihre persönliche Identität beziehen die erwerbstätigen Mütter dieses Typs dagegen ausschließlich aus ihrer Rolle als Mütter und hier vor allem als Hauptverantwortliche für die Gewährleistung der täglichen Essensversorgung. Sie leben für ihre Familie: Eigenzeit für ihre ganz persönliche Selbstverwirklichung zu reklamieren, ist ihnen größtenteils fremd. Weil die im Haushalt lebenden Kinder oft schon im jugendlichen Alter oder erwachsen sind und ihre eigenen Interessen und Verpflichtungen haben, wird werktags nacheinander, allein in unterschiedlichen Räumen, oft vor laufendem Fernsehgerät gegessen, selbst dann, wenn alle zu Hause anwesend sind. Die Mütter haben ihr Ideal einer gemeinschaftlichen abendlichen Mahlzeit im Hotel „Mama“, besonders an den Werktagen, irgendwann resigniert aufgegeben. Woran sie allerdings festhalten, ist die tägliche, oft aufwändige Zubereitung eines kalorienreichen und warmen Abendessens und zwar unabhängig vom Kalorienverbrauch der einzelnen Familienangehörigen im Tagesverlauf, wobei es sich auf Wunsch der männlichen Familienmitglieder fast immer um ein Fleischgericht handelt.

Widersprüchlichkeiten im Umgang mit den knappen Budgets zeigen sich zum einen in der Bevorzugung von Billigangeboten: „Och und es ist so Hackfleisch im Angebot. Och, man könnte mal ja einen Hackbraten machen. Dann bestell’ ich das Hackfleisch…“ (Haushalt 48:13). Zum anderen fällt eine vergleichsweise häufige Nutzung von außerhäuslichen Versorgungsangeboten in Form von Fast-Food, Imbissen und der Frequentierung von Bäckereien und Fleischereien zum Frühstück oder zum Mittagessen auf. Reichhaltige Mahlzeiten mit Fleischportionen stehen symbolisch für den Leitsatz, dass es wenigstens beim Essen an nichts fehlen soll. Die Freizeitgestaltung mit Verwandten und Nachbarn am Wochenende besteht größtenteils im gemeinsamen und reichlichen Essen und Trinken in gemütlicher Runde. Es dominiert zudem ein bewegungsarmer Lebensstil. Deshalb verwundert es kaum, dass Diabetes, Übergewicht und Herz-Kreislaufprobleme bei diesem Ernährungsversorgungstyp überdurchschnittlich häufig vorkommen.

Fazit
Die vorgestellten Befunde belegen durchaus eindrucksvoll, dass berufstätige Mütter einen erheblichen intellektuellen und zeitlichen, aber auch finanziellen und logistischen Aufwand betreiben (müssen), um den Essalltag ihrer Kinder zwischen privatem und öffentlichem Raum zu gewährleisten. Sie sind permanent damit beschäftigt, die dabei auftretenden zeitlichen Kollisionen zwischen den eigenen Erwerbsarbeitszeiten, den eher starren Öffnungs- und Schließzeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen und den Erwerbszeiten des Partners austarieren und eine möglichst gute Qualität der Mahlzeiten zu ermöglichen. Um diese Arrangements 365 Tage im Jahr sicherzustellen, stecken Mütter selbst oft zurück, indem sie auf berufliche Perspektiven oder aber auf Eigenzeit zur Erholung und Entspannung verzichten. Die Studie verdeutlicht zugleich, dass eine zielgruppenbezogene Ernährungsbildung von Eltern und Kindern ebenso notwendig ist wie die alltagsnahe Vermittlung von Kulturtechniken des Essens und Trinkens. Sehr eindrücklich zeigt sich auch, dass es hier zu Lande nach wie vor einen erheblichen Handlungsbedarf beim Ausbau einer gesunden und qualitativ hochwertigen Kindergarten-, Schul- und Kantinenverpflegung gibt. In seiner derzeitigen Struktur wird weder der ernährungsphysiologische Bedarf der Kinder und Jugendlichen zufriedenstellend gedeckt noch die Erwerbsbeteiligung der Mütter quer durch alle Bildungsgruppen verlässlich unterstützt.

Der konkrete Bedarf variiert allerdings erheblich: Während bei den berufsorientierten Netzwerkerinnen die zeitliche Entlastung bei der Organisation des Essalltags durch verlässliche öffentliche Angebote für ihre Kinder, aber auch arbeitsplatznahe Möglichkeiten einer Mittagessenversorgung von hoher Qualität für die Mütter selbst im Vordergrund stehen sollten, kristallisieren sich sowohl bei den „überlasteten Einzelkämpferinnen“ als auch bei den „aufopferungsvollen Umsorgerinnen“ die Themen Ernährungs- und Gesundheitsprävention zur Vermeidung bzw. Bekämpfung von Übergewicht und Bewegungsmangel als besonders dringlich heraus. Kindergärten, Schulen, Schulträger und andere kommunale Entscheidungsträger müssen diese Themen angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verstärkt aufgreifen, indem sie an Kindertagesstätten und Schulen nicht nur ein gesundes und bezahlbares Essen anbieten, sondern es gleichermaßen als immanenten Bestandteil ihres Bildungsauftrags ansehen, dafür Sorge zu tragen, dass sich in diesen sozialräumlichen Gelegenheitsstrukturen eine hohe Esskultur entwickeln kann, an der Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft selbstverständlich teilhaben. Eine Vielfalt von Diensten rund um das Thema Essen, Trinken, gesunde Ernährung durch staatliche, privatwirtschaftliche und freigemeinnützige Anbieter ist in diesem Handlungsfeld der Ernährungsversorgung durchaus gefragt. Es bleibt allerdings eine staatliche Aufgabe, Qualitätsstandards einer gesunden Ernährung und Esskultur zu setzen und zu überprüfen.

Prof. Dr. Uta Meier-Gräweist Hochschullehrerin für Familienwissenschaft und Ökonomie des Privathaushalts an der Justus Liebig-Universität Gießen und 1. Vizepräsidentin der Deutschen Liga für das Kind.

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