24 Jul fK 1/06 Wemmer
„Auf Landkarten markieren wir mit Fähnchen, welches Kind wohin gegangen ist“
Erfahrungen in der Kindertageseinrichtung des Auswärtigen Amtes mit Kindern, deren Lebensort häufig wechselt
Katharina Heiser im Gespräch mit Sylke Wemmer-Pellenz, Leiterin der Kindertageseinrichtung des Auswärtigen Amtes in Berlin
Heiser: Die Kindertagesstätte des Auswärtigen Amtes – was ist das?
Wemmer-Pellenz: Die Kindertagesstätte des Auswärtigen Amtes existiert seit 15 Jahren. Mit dem Regierungsumzug wurde der Standort von Bonn nach Berlin verlegt. Maximal 70 Kinder können die Kita besuchen. Derzeit ist die Einrichtung mit 65 Kindern belegt. Fünf Plätze werden für Notfälle frei gehalten, falls es im Ausland zu Geschehnissen kommt, die eine spontane Aufnahme verlangen. In der Kita werden in vier Gruppen Kinder im Alter zwischen vier Monaten und fünfeinhalb Jahren betreut.
Heiser: Worin besteht die Besonderheit dieser Kindertageseinrichtung?
Wemmer-Pellenz: Die Besonderheit liegt in dem Einfluss unterschiedlicher Kulturen trotz deutscher Nationalität. Die Kinder bringen ganz unterschiedliche Einflüsse aus anderen Kulturen mit. Dazu gehören zum Beispiel diverse Sprachkenntnisse, aber auch kulinarische Besonderheiten und Vorlieben. Unsere Kinder brauchen ganz deutlich eine Sicherheit, eine Orientierung und eine Wurzel. Kinder, die im Ausland geboren werden und dort aufwachsen, kommen nach Deutschland und sind hier nicht wirklich zuhause. Man spricht teilweise von einer Entwurzelung, weil die Kinder nicht ein einziges Zuhause haben, sondern viele.
Heiser: Wie gehen Sie auf die Besonderheiten der Kinder und ihrer Familien ein?
Wemmer-Pellenz: Schwerpunkt unserer Konzeption ist es, die Kinder zunächst emotional aufzufangen. Das heißt, zunächst sind nicht kognitive oder besondere Sprachförderangebote zentral. Wenn ein Kind neu in unserer Kita ankommt, versuchen wir eine stabile Beziehung aufzubauen und zu entwickeln. Ungeachtet dessen, woher das Kind kommt oder welche Sprache es spricht, nehmen wir das Kind sofort so an, wie es ist. Wir geben den Kindern damit Halt und Sicherheit. Die Kinder benötigen unterschiedlich lange Zeit, bis sie sich in Berlin und in der Kita zuhause fühlen. In einigen Fällen kann dies sehr schnell gehen, manchmal jedoch auch ein bis eineinhalb Jahre dauern. Das Kind soll wissen: „Hier bin ich zuhause, hier weiß ich, es passieren sehr verlässliche Dinge, im Tagesablauf wie im Jahresrhythmus.“ Das müssen die Kinder erleben. Das Kind muss sich darauf verlassen können, dass es jedes Mal in den Arm genommen wird, wenn es weint, jedes Mal konsequent ermahnt wird, wenn etwas nicht richtig läuft, dass jedes Mal ein bestimmter Ansprechpartner in der Gruppe vorhanden ist. Dies ist ein hoher Anspruch an die Einrichtung und an die Erzieherinnen.
Heiser: Gibt es ein besonderes pädagogisches Konzept, das mit dieser Einrichtung verbunden ist?
Wemmer-Pellenz: Die emotionale Ebene ist äußerst wichtig. Es kommt primär darauf an, was für das Kind gut ist. Dazu muss feststehen, was das Ziel ist, in welcher Entwicklungsphase sich das Kind befindet und welche Entwicklungsaufgabe ansteht. Für unsere Erzieherinnen bedeutet dies einen hohen Anspruch an Fachwissen, gepaart mit emotionaler Kompetenz. Dazu nutzen wir neben unserer jahrelangen Erfahrung regelmäßige Fortbildungen und Supervision, die durch das Auswärtige Amt unterstützt werden. Weiterhin nutzen wir wöchentliche Fachbesprechungen sowie den Austausch unter den Erzieherinnen, wobei auf spezielle Probleme und Thematiken eingegangen wird.
Heiser: Welche außerordentlichen Herausforderungen sehen Sie für die Erzieherinnen?
Wemmer-Pellenz: Die Kinder hier unterscheiden sich von einer normalen Kita vor allem dadurch, dass sie eine andere Vergangenheit und andere Lebensumstände haben. Damit wird eine hohe Flexibilität verlangt. Generell ist die Arbeit mit Kindern für jeden Erzieher auch die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, da die Umwelt den Menschen prägt. Die Verantwortung jedes einzelnen Erziehers ist sehr groß, darüber muss man sich bewusst sein.
Heiser: Bei den Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes entsprechen die Arbeitszeiten vermutlich nicht immer den üblichen Bürozeiten. Gibt es ein spezifisches Profil der Kita in punkto Öffnungszeiten, Ferienbetreuung oder sonstige Angebote?
Wemmer-Pellenz: Die Öffnungszeiten der Kita sind an den Kernarbeitszeiten des Auswärtigen Amtes orientiert. Wir haben täglich bis 17.30 Uhr geöffnet. Wir haben keine Ferienzeiten, das heißt die Kita ist das gesamte Jahr geöffnet. Besonders in den Sommerferien ist dies wichtig, da dann viele Familien aus dem Ausland zurück nach Berlin kommen und unser Angebot nutzen. Prinzipiell geht es darum, den Eltern und Familien Unterstützung zu bieten. Wir sind eine Serviceeinrichtung für das Auswärtige Amt. Dennoch steht das Wohl des Kindes an erster Stelle. Das Kind soll die Möglichkeit haben, den Nachmittag oder wenigstens den Abend bei seinen Eltern zu sein. Aus diesem Grund hat die Kita nachmittags nicht länger geöffnet. Falls es außerplanmäßige Termine geben sollte, sind jedoch individuelle Absprachen mit den Eltern möglich. Aber wir formulieren auch deutlich, dass die Eltern eine Verantwortung ihrem Kind gegenüber haben. Ein Kind, das vom frühen Morgen bis spät nachmittags in der Kita ist, ist irgendwann gesättigt und braucht seine Eltern und das familiäre Umfeld. Diese Einsicht und somit die Art der Kooperation mit den Eltern funktioniert ausgezeichnet.
Heiser: Es ist anzunehmen, dass bei Ihnen eine höhere Fluktuation als in anderen Kindertageseinrichtungen besteht. Wie oft werden Kinder innerhalb des Jahres neu in die Gruppen aufgenommen oder verabschiedet?
Wemmer-Pellenz: Prinzipiell werden zu jedem Zeitpunkt neue Kinder aufgenommen, solange genug Kapazitäten vorhanden sind. Es gibt immer wieder außergewöhnliche Vorkommnisse wie plötzliche Versetzungen oder Umzüge, die einen häufigen Zu- und Fortgang zur Folge haben. Insgesamt führt dies zu einer höheren Fluktuationsrate im Vergleich zu anderen Einrichtungen.
Heiser: Gibt es spezielle Rituale für die Gestaltung von Übergängen?
Wemmer-Pellenz: Wir haben spezielle Rituale für Begrüßungen, Geburtstage und Verabschiedungen. Verabschiedungen sind derart gestaltet, dass wir dem Kind mitteilen, dass wir zum einen traurig über seinen Weggang sind, uns zum anderen aber auch für das Kind freuen, dass es in ein neues Land geht. Es gibt dazu Landkarten, auf denen wir mit Fähnchen markieren, welches Kind wohin gegangen ist. Es gibt auch einen Abschiedszug, wo das Foto des Kindes in den Wagon eingeklebt wird. Wir haben Fotoalben, wo jedes Kind sich mit Fotos und Handabdrücken verewigen kann Wir lassen Kinder Bilder malen. Wir packen gemeinsam mit dem Kind seine Tasche. Es geht darum, dem Kind das Gefühl zu vermitteln: „Du bist nicht weg.“ Die Kinder halten auch nach ihrem Fortgehen oft Kontakt zu unserer Kita. So hatten wir einen fünfeinhalbjährigen Jungen, der mit seiner Familie nach Afrika gezogen ist und von dort seine erste E-mail geschrieben und an uns geschickt hat. Oft kommen die Familien auch zwischendurch auf Heimaturlaub zurück nach Berlin. Die Kinder kommen dann in unsere Kita, um uns zu besuchen. Manchmal halten diese Kontakte jahrelang. Das sind sehr wichtige Erfahrungen für die Kinder. Sie sollen wissen, dass andere Kinder, die die Kita verlassen, nicht einfach „weg“ sind, sondern jetzt woanders wohnen, zum Beispiel in dem Land, „in dem die Kamele leben“. Das können sie recht gut verinnerlichen. Auch Kinder, die schon längere Zeit nicht mehr bei uns sind, werden noch häufig in Gesprächen erwähnt. Die konkrete Erinnerung und damit verbundene Gefühle sind wichtig. Kinder haben ein Recht darauf, diese Gefühle zu formulieren und auszudrücken. Dazu gehören auch das Recht auf Kummer und Trauer über den Weggang oder Freude und Erwartung auf das Kommende. Die jüngeren Kinder können das weniger differenziert zum Ausdruck bringen. Wir können sie aber gut mit Hilfe von Bilderbüchern oder Kassetten in der Landessprache vorbereiten. Oft arbeiten Kita und Eltern bei diesen Vorbereitungen Hand in Hand. Besonders hilfreich ist das Schaffen von Anreizen und Interessen für das Kind. Wir haben zum Beispiel ein Bilderbuch, in dem die verschiedenen Erdteile äußerst spannend beschrieben sind, so dass sich die Kinder auf das Kommende freuen können.
Heiser: Wird das Thema der Internationalität thematisch mit den Kindern behandelt?
Wemmer-Pellenz: Die Kinder nehmen sehr wohl das unterschiedliche Aussehen oder die unterschiedlichen Sprachen wahr. Dabei haben die Kinder untereinander einen ganz unproblematischen Umgang damit. Besonders wichtiger Bestandteil der Integration ist die Sprache, aus diesem Grund wird in der Kita ausschließlich Deutsch gesprochen. Falls Kinder zu Beginn gar kein Deutsch verstehen, wird von Seiten der Erzieherinnen anfangs auch in anderen Sprachen kommuniziert. Dies dient jedoch nur dazu, das Kind aufzufangen und es nicht zu verunsichern. Meist wird die Botschaft zuerst in der Muttersprache und dann auf Deutsch formuliert. Dies gibt dem Kind die Möglichkeit, den Handlungszusammenhang zu verstehen. Die Verknüpfung von Sprache und Handlung sind zentral, um die neue Sprache zu erlernen. Normalerweise nehmen die Kinder sehr schnell und unkompliziert die neue Sprache an. Durchschnittlich beginnen die Kinder ab dem dritten Monat ihres Aufenthaltes bei uns, die Sprache zu verinnerlichen und anzuwenden.
Heiser: Welche besonderen Chancen und Risiken haben Ihrer Meinung nach Kinder, die in Familien mit hohen Anforderungen an Mobilität leben?
Wemmer-Pellenz: Ein Vorteil ist sicher der Einfluss der unterschiedlichen Kulturen, Länder und Sprachen, die in unserer Kita zusammenkommen. Damit wird die Fähigkeit zu einer gewissen Flexibilität und Mobilität geübt. Die Kinder müssen sich immer wieder auf neue Situationen einlassen können. Dies ist Bestandteil ihres Lebens und wird wiederholt geübt und geschult. Ein Nachteil könnte sein, keine Wurzeln zu haben, verbunden mit dem Gefühl, sich an keinem Ort zuhause zu fühlen. In diesem Punkt spielt das Umfeld des Kindes eine wichtige Rolle. Viele Kinder zeigen sich im Laufe ihrer weiteren Entwicklung als besonders flexibel, im Sinne von sich einlassen können auf neue Situationen, auch im Hinblick auf spätere Entscheidungen wie Auslandsstudium oder berufliche Wege.
Katharina Heiser ist Psychologin in Berlin.
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