fK 1/05 Penner

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Sprachliche Frühförderung als Chance

Über Lern- und Lehrpotenzial im Kindergarten

von Zvi Penner

Der vorliegende Artikel befasst sich mit Sprachlernprogrammen für spracherwerbsverzögerte und Migrantenkinder im Kindergarten. Wir stellen uns die Frage, welche Defizite den bei den förderbedürftigen Kindern beobachteten Rückständen im Spracherwerb zugrunde liegen, und wie man die Nutzung der Lernressourcen bei den betroffenen Kindern optimieren kann. Dieser Frage soll hier empirisch nachgegangen werden.

Im Mittelpunkt stehen Untersuchungen, die zeigen, dass teilweise extrem sprachschwache Kinder im Kindergarten über ein hohes Potenzial verfügen, komplexe sprachliche Regeln zu erlernen, wenn sie gezielt gefördert werden. Dieses Potenzial scheint weitgehend ungenutzt zu bleiben, wenn die Kinder eher unspezifisch, mit rein pädagogischen Maßnahmen gefördert werden. Darüber hinaus deuten die Befunde dieser Untersuchungen auf das hohe Lehrpotenzial der Erzieher(innen) im Kindergarten hin. Die Daten zeigen in aller Deutlichkeit, dass Erzieher(innen) mit einer systematischen Kurzschulung die Kompetenz erlangen, anspruchsvolle Förderprogramme erfolgreich durchzuführen und die Nutzung der Lernressourcen bei den Kindern zu optimieren.

Über Regellernen

Darüber sind wir uns alle einig: Die Sprache ist eine Schlüsselfähigkeit in unserer Sozialisation und kognitiven Entwicklung. Für uns Erwachsene ist die Sprache ein nützliches Mittel, mit Hilfe dessen wir uns in der Welt zurechtfinden und neues Wissen erwerben. Dabei benutzen wir unbewusst und automatisch hochabstrakte Regeln, die wir oft nicht erklären können.

Bei den Kindern sieht es anders aus. Die Kinder, die die ersten Schritte im Sprachentwicklungsprozess machen, haben eine andere Perspektive als wir. Für sie stellt die Sprache in erster Linie ein Lernobjekt dar, das aus Regeln besteht. Bevor die Kinder die Sprache als wirksames Mittel für die Kommunikation benutzen können, müssen sie sich diese Regeln aneignen. Das gilt sowohl für Kinder, die ihre Muttersprache erlernen als auch für Migrantenkinder, die Deutsch-als-Zweitsprache (DaZ) erst im Kindergarten erwerben.

Was sind sprachliche Regeln? Für viele von uns sind Regeln etwas „Schulisches“, das wir mit Worten knapp und deutlich formulieren können. Ein einfaches Beispiel dafür aus dem Schulunterricht wäre so was wie „der erste Buchstabe im Satz wird immer groß geschrieben“. Die Schüler, die sich im Unterricht diese Regel aneignen, haben es relativ leicht. Jeder geschriebene Text bestätigt sofort die ausnahmslose Gültigkeit dieser Regel.

So einfach ist es im Spracherwerb nicht. Das Regelwissen bildet unsere Sprachintuition. Ohne es erklären zu können, wissen wir das die Mehrzahlform von einem „Quatschwort“ wie Nasiel (endbetont) Nasiel-e ist, wohingegen das anfangsbetonte Wort Bahnel im Plural unverändert bleibt (zwei Bahnel). Dieses Wissen kommt nicht aus unserer Erfahrung (ich habe diese Wörter und Gegenstände ja ad hoc erfunden). Es ist Teil unseres Regelwissens, das wir intuitiv korrekt auch auf unbekannte sprachliche Formen anwenden können.

Die Regeln, die der Sprache zugrunde liegen, sind nicht nur wesentlich abstrakter als die schulischen Regeln, sondern auch sehr gut im Sprachangebot im Alltag versteckt. Auch hier wäre ein einfaches Beispiel hilfreich. Stellen wir uns vor, wir wollten die Regel entdecken, die im Deutschen das ge- in den Partizipien der Vergangenheit steuert. Wir fangen an, Beispiele aus dem täglichen Sprachgebrauch zu sammeln und bekommen ein kleines Korpus mit verschiedenen Verben. Wir stellen fest, dass die oberen zwei Zeilen Verben mit ge- enthalten. Diese Vorsilbe ge- darf hingegen bei den Verben der unteren Zeilen nicht vorkommen:

ge- kennzeichnet ge- frühstuckt; ge- baggert ge- spielt
ge- nagelt ge- ohrfeigt ge- faxt ge- fesselt
trompetet studiert schmarotzt betoniert
bombardiert durchmischt verbockt protestiert

Es ist nicht einfach, die ge-Regel zu erkennen. Ob ein Verb um ein ge- erweitert wird oder nicht, scheint weder von der Länge noch von der Bedeutung abhängig zu sein. Gut trainierte Sprachwissenschaftler wissen, dass die ge-Regel betonte und unbetonte Silben zählt: ist die erste Silbe im Verb betont, wird das ge- automatisch vorangehängt. Verschiebt sich die Betonung weiter nach rechts, darf das ge- nicht auftreten.

Den Kindern bereitet das Entdecken solcher keinerlei Schwierigkeiten, da sie den rhythmischen Mustern, d.h. der Stelle der betonten Silbe im Wort, schon in frühen Jahren ihre Aufmerksamkeit schenken. Hat das Kind diese Sensitivität nicht, wird der Erwerb solcher Regeln für das Kind sehr belastend, da es sich zunehmend mit sehr vielen Einzelformen in seiner Sprachumgebung konfrontiert sieht, die es praktisch auswendig lernen muss. Bei einem Wortschatzumfang von rund 14.000 Wörtern bei der Einschulung wird ein solches Unterfangen zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung.

Die meisten Kinder sind sehr wirksame Regellerner. Man geht davon aus, dass dreijährige Kinder alle Kernregeln ihrer Muttersprache wie Wortbildung oder Wortstellung schon erworben haben. Dies bedeutet, dass diese Kinder beim Übertritt in den Kindergarten schon weitgehend kompetente Sprecher ihrer Muttersprache sind.

Kinder mit Defiziten im Erwerb des Deutschen: Aktuelle Befunde aus dem Kindergarten

Bei aller Bewunderung für die kleinen „Regeljäger“ darf die Tatsache nicht vergessen werden, dass eine beträchtliche Minderheit der Kinder eines Jahrgangs, nämlich bis zu 15% und mehr, erhebliche Defizite beim Erwerb ihrer Muttersprache aufweist. Diese Kinder scheitern am Erlernen des zielsprachlichen Regelwerks, ohne dass diese Störung auf erkennbare Primärbeeinträchtigungen wie sprechmotorische Defizite, offensichtliche hirnorganische Störungen, Hörschäden, geistige Behinderung oder massive soziale Benachteiligung zurückgeführt werden kann. In diesem Zusammenhang spricht man von Spracherwerbsstörungen (SES).

Viele dieser Kinder werden sprachtherapeutisch versorgt. Es ist bekannt, dass dadurch das System zunehmend unter finanziellen Druck gerät. Trotz großer Anstrengungen, das Problem der SES-Kinder in den Griff zu bekommen, zeigen aktuelle regionale Erhebungen, dass viele der betroffenen Kinder unerfasst bleiben.

Mit erheblichen Schwierigkeiten im Regelerwerb kämpfen nicht nur deutsch-sprachige Kinder mit SES. Unter diesem Problem leiden auch die sogenannten „DaZ-Kinder“, d.h. die Kinder, die im Kindergarten Deutsch-als-Zweitsprache lernen. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass – so wie die deutschsprechenden Kinder mit SES – die absolute Mehrheit der DaZ-Kinder am Erwerb des Regelsystems des Deutschen scheitern. Dies lässt sich in Zahlen ausdrücken. Die sprachlichen Leistungen der DaZ-Kinder befinden sich in den Kernbereichen des Deutscherwerbs praktisch innerhalb des untersten Leistungsquartils der Kinder mit Deutsch-als-Muttersprache (DaM). Aus sprachtherapeutischer Sicht bedeutet dieser Befund, dass sich der Mittelwert der sprachlichen Leistungen der DaZ-Gruppe genau in dem Bereich angesiedelt ist, in dem die DaM-Kinder als SES eingestuft werden und sprachtherapeutisch behandelt werden.

Es fragt sich nun, ob die Kinder der DaZ-Gruppe mit zunehmender Spracherfahrung zu einem späteren Zeitpunkt aufholen können. Weiterführende Untersuchungen machen deutlich, dass die im Kindergarten festgestellten Differenzen auf Dauer bestehen bleiben. Es handelt sich hier um Stagnationserscheinungen. In der Schule scheint sich die Kluft zwischen der DaM- und DaZ-Gruppe zu verfestigen. Dies zeigen u.a. die ersten Ergebnisse aus der IGLU-Studie („Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung).

Die Daten deuten auf eine Persistenz der sprachlichen Benachteiligung und dem Scheitern der Integration hin, die schon im Kindergarten deutlich belegt ist und in der Schule nicht behoben werden kann. Präziser ausgedrückt: Die Sprachlerndefizite in der Zweitsprache (L2) bei Migrantenkindern werden trotz schulischer Maßnahmen und trotz der wachsenden sprachlichen Erfahrung der Kinder nicht zufriedenstellend gemindert. Der Stillstand im L2-Lernprozess scheint sich im letzten Kindergartenjahr zu verfestigen und setzt sich in den Schuljahren fort.

Die Kluft zu Ungunsten der DaZ-Kinder bleibt bis zum Schulabschluss bestehen. Es ist bekannt, dass die sprachliche Benachteiligung der DaZ-Kinder ihre schulischen Leistungen erheblich negativ beeinflusst. Dies äußert sich z.B. in der eher niedrigen Lesekompetenz der Migrantenkinder gemäss der Einstufung der PISA-Studie, die wie folgt zusammengefasst werden kann:

20% der Schüler(innen) aus Migrantenfamilien sind extrem schwache Leser (niedriger als Stufe I).

50% der Schüler(innen) aus Migrantenfamilien überschreiten die Elementarstufe 1 nicht.

2% der Schüler(innen) aus Migrantenfamilien gelten als sehr gute Leser (Stufe 5).

Aus spracherwerbstheoretischer Perspektive wird zwischen zwei Formen des Sprachlernens unterschieden:

Das Regel-geleitete Lernen ist die normale, gesunde Form des Spracherwerbs. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Kinder von Beginn an sehr gezielt nach den Regeln suchen, die dem Sprachsystem zugrunde liegen. Ein typisches Beispiel für eine solche Regel haben wir eingangs anhand der ge-Regel diskutiert. Wie wir gezeigt haben, hängt der Erfolg des Kindes in diesem Fall davon ab, ob es die sprach-rhythmischen Prinzipien der Wortbildung im Deutschen entdecken kann. Alles andere ist trivial und erfolgt automatisch. Wenn das Kind seine Aufmerksamkeit dem sprach-rhythmischen Muster schenkt, dann muss es nur folgende Muster unterscheiden:

(1) Beginnt das Verb in der Grundform mit einer betonten Silbe, so wird in der Vergangenheitsform ein ge- vorangehängt

(2) Beginnt das Verb in der Grundform mit einer unbetonten Silbe, so wird in der Vergangenheitsform kein ge- vorangehängt.

Alle anderen Merkmale wie Verbbedeutung, Silbenanzahl, die lautliche Beschaffenheit des Wortes usw. werden als irrelevant ausgeschlossen.

Hat das Kind diese Berechnung („Computation“) der Betonungsmuster korrekt vollzogen, ist der Weg in die kreative Unendlichkeit der Sprachverwendung frei. Mit dieser einfachen Regel kann das Kind unendlich viele Vergangenheitsformen bilden und verstehen, wie es will, und zwar unabhängig von seiner tatsächlichen Erfahrung (d.h. das Kind kann auch neue Verben in der Vergangenheit benutzen, ohne das es die Vergangenheitsform dieses Verbs jemals gehört hat). In dem Sinne wird das regel-geleitete Sprachlernen als erfahrungs- oder situations-unabhängig bezeichnet.

Diese Fähigkeit ist die Grundvoraussetzung für die so genannte „Sprachliche Kreativität“, mit der wir unendlich viele neue Formen ableiten. Hier ist ein Beispiel für die sprachliche Kreativität in Form eines Sprachspiels:

Eier sich wie Eier bewegen er hat ge- eiert
Flaschenöffner sich wie ein Flaschenöffner bewegen er hat ge- flaschenöffnet
Kommode sich wie eine Kommode bewegen er hat kommodet

Die Spielregeln sind eindeutig: Wir wissen automatisch und sicherlich unabhängig von der Erfahrung, dass „flaschenöffnern“ ein ge- in der Vergangenheit bekommt, wohingegen, „kommoden“ eindeutig ge-resistent ist. Diese Fähigkeit ist mit Autofahren oder Schachspielen vergleichbar. Wenn wir beispielsweise die Verkehrsregeln erlernt haben, spielt es grundsätzlich keine Rolle mehr, ob wir in unserer gewohnten Gegend oder in einer fremden Stadt fahren. Die neue Situation erfordert lediglich die Anwendung einer Regel, die uns zum Ziel bringt. Mit dem Schachspielen ist es ähnlich. Wenn wir die Spielregeln beherrschen, ist es absolut unerheblich, ob wir mit dem Brett spielen, mit dem wir das Spiel gelernt haben. Es gelten überall und immer dieselben Spielregeln.

Was geschieht mit den SES- und DaZ-Kindern, die beschränkte Lernressourcen haben? Diese Kinder neigen eher zum assoziativen Lernen, das eine andere Logik verfolgt. Fehlen dem sprachlernenden Kind die Ressourcen, die durch die Datenvielfalt „verdeckten“ Regeln aufzuspüren, weicht es auf eine Ersatzstrategie aus. Die sonst situationsunabhängige Regel, die unendlich viele korrekte Äußerungen erzeugen kann, wird durch die Verbindung („Assoziation“) von bestimmten Wortformen, Satzmustern oder Wortbedeutungen mit spezifischen sprachlichen Erfahrungen und Situationen ersetzt. Liegt nun eine bestimmte Äußerungen außerhalb der sprachlichen Erfahrung des Kindes, muss es praktisch erraten, wie die Zielform aussehen könnte, oder was der neue, unbekannte Satz bedeuten könnte.

Ein Beispiel sollte diese Situation verdeutlichen: Kinder können Fragen assoziativ lernen. Kinder können beispielsweise Fragen verstehen, indem sie die steigende Satzmelodie, die allgemeine Funktion von Fragen und das situative Wissen geschickt verbinden, ohne die zugrunde liegende Strukturregel zu erlernen. So nimmt das Kind dank seiner Erfahrung an, dass sich das Erfragte in einer Routinenfrage wie „Was hat er zum Mittag gegessen?“ auf das Objekt des Essereignisses bezieht. Fragesätze im Alltag sind oft komplexer. In der Umgangssprache werden sie häufig mit einem „Vorsatz“ gebildet wie beispielsweise „Was meinst du, was er zum Mittag gegessen hat?“. Unerwarteterweise enthält auch dieser Vorsatz das Fragewort „was“. Für uns „Regelwisser“ ist dieser komplexe Satz leicht zu verstehen: das „was“ im Vorsatz ist nur eine „Dekoration“ und wird nicht als echtes Fragewort verstanden. Die echte Frage ist die im Nebensatz. D.h. wir fragen nicht „Was meinst du?“, sondern „Was hat er zum Mittag gegessen?“. Das erste „was“ ist eine „Kopie“ des echten „was“ im zweiten Satz, die aus rein strukturellen Gründen eingesetzt wird. Fragen wir hingegen „Wem willst du sagen, was er gegessen hat?“, dann verhält es sich mit der Fragestellung genau anders rum: Die Frage ist nach der Person, der der Inhalt vom Nebensatz vermittelt werden soll und nicht mehr nach dem Essobjekt. Beherrscht das Kind die zugrunde liegende Regel der Fragebildung nicht, stößt es mit zunehmenden Ansprüchen der Sprache im Alltag immer mehr auf Schwierigkeiten, Fragen zu verstehen. In der Schule kann ein solches Defizit entscheidend werden.

Von der Unterscheidung zwischen „regel-geleitet“ und „assoziativ“ ausgehend, ist die sprachliche Ausgangslage für ein Förderprogramm im Kindergarten wie folgt:
(1) Kinder mit Spracherwerbsstörungen und die absolute Mehrheit der Migrantenkinder sind „assoziative Lerner“

(2) Kinder mit unauffälliger Sprachentwicklung sind hochgradig wirksame Regellerner

Spracherwerbstheoretisch betrachtet, soll ein adäquates Sprachförderprogramm im Kindergarten darauf abzielen, die Kinder der Gruppe 1 zu effizienten Regellernern zu machen.

Auf der Suche nach Lösungen

Die zunehmende Not der sprachlichen Situation von Migrantenkindern hat in den letzten Jahren eine flutartige Welle von Förderprogrammen ausgelöst. In einer systematischen Übersicht der aktuellen Sprachförderansätze im Kindergarten wird zwischen zwei Paradigmen unterschieden, nämlich:-

Spracherwerbstheoretisch-basierte Ansätze, die schwerpunktmäßig auf das Regellernen nach klar definierten Phasen fokussieren

Pädagogisch-basierte Ansätze, die die interkulturellen und kindergartenpädagogischen Rahmenbedingungen des Deutschlernens und die primären kommunikativen Bedürfnisse der Kinder hervorheben

Auf den ersten Blick scheinen beide Paradigmen komplementär zu sein. Der spracherwerbstheoretische Ansatz wird als bereichsspezifisch aufgefasst. D.h. die Kinder werden in präzise vorstrukturierten („inszenierten“) Lernumgebungen gefördert, die den Lernprozess der Muttersprache simulieren und jeweils auf eine einzige Regel abzielen. Als Modell dient das Regellernen im natürlichen Spracherwerb, das bestimmt, wie und wann der Übergang von einer Erwerbsphase zur anderen „ausgelöst“ wird. Im Rahmen dieses Ansatzes wird dem Kind systematisch und streng nach den Prinzipien des Deutscherwerbs ein Regelbereich nach dem anderen zugänglich gemacht.

Die pädagogisch-basierten Förderprogramme betonen hingegen die Ganzheitlichkeit und die situative Abhängigkeit des Lernprozesses und stellen kindergarten-pädagogische und interkulturelle Aspekte in den Vordergrund.

Wo ist der gemeinsame Nenner beider Ansätze? Es wird in der Kindergartenpädagogik immer wieder hervorgehoben, dass die Bildung im Kindergarten nur dann möglich ist, wenn sie sich an den natürlichen Entwicklungs- und Bildungsprozessen im Kindesalter orientiert. Dieses allgemein gültige Prinzip ist auch die Grundlage des spracherwerbstheoretischen Ansatzes, wo es allerdings einen anderen Schwerpunkt bekommt: Man geht davon aus, dass die Nutzung der Sprachlernressourcen des Kindes durch eine systematische Anpassung an die Lernstrategien und -phasen des normalen Spracherwerbs in der (sehr) frühen Kindheit optimiert wird.

Während die pädagogisch-basierten Förderprogramme in der Kindergartenpädagogik verankert sind und deshalb methodologisch wenig hinterfragt werden, ist der spracherwerbstheoretische Ansatz mit der bereichsspezifischen und streng strukturierten Vorgehensweise für die Kindergartenwelt eher neu. Die Einführung solcher Ansätze, die beispielsweise im klinischen Setting der Sprachtherapie verwendet werden, wirft einige Fragen auf, die es empirisch anzugehen gilt:

(1) Wie groß ist der Lerneffekt bei Kindern, die so gezielt mit einem bereichsspezifischen Programm gefördert werden?

(2) Profitieren alle förderbedürftigen Kinder von einer bereichsspezifischen Förderung des Regellernens, oder beschränkt sich der Lerneffekt auf die eher starken Kinder?

(3) Wie groß ist die Förderkapazität von Erzieher(inne)n, die speziell für die bereichsspezifische Arbeit am Regellernen geschult werden?

Das Kon-Lab-Programm

Diesen Fragen wurde zunächst im Rahmen eines Pilotprojektes 2002 in Kindergärten in Zürich nachgegangen. Das Pilotprojekt wurde mit dem Kon-Lab-Programm durchgeführt. Kon-Lab wurde 2001 im Rahmen einer universitären Unternehmung des Wissens- und Technologietransfers mit dem Hauptziel gegründet, universitäre Grundlagenforschung im Bereich der Sprachstörung und -förderung in die Praxis umzusetzen.

Im Rahmen des Technologie- und Wissenstransfers hat Kon-Lab ein Programm zur Frühförderung von Migrantenkindern und spracherwerbsverzögerten Kindern im Kindergarten entwickelt. Das Programm zielt darauf ab, die eingangs erwähnten Defizite im Spracherwerb und die daraus resultierenden Stagnationen mit unterstütztem Regellernen zu beheben und dadurch in erster Linie ein besseres Sprachverstehen zu erreichen. Es besteht aus drei Stufen, die insgesamt 34 Bausteine umfassen:

Stufe 1: In dieser Stufe werden die Kinder für die Prinzipien sensibilisiert, die dem Erwerb des Wortschatzes zugrunde liegen. Hierbei handelt es sich primär um die sprachrhythmischen Regeln des Deutschen, die dafür sorgen, dass aus einer Lautkette die Einheit „Wort“ entsteht. Gleichzeitig erwerben die Kinder die sprachspezifischen Wortbildungsmechanismen, die ihnen ermöglichen sollen, Wörter produktiv abzuleiten und somit den Wortschatz auszubauen. In Stufe 1 wird das Kind auch mit den Prinzipien des Bedeutungserwerbs vertraut gemacht, die als Voraussetzung für die Erweiterung des Sprachrepertoires gelten.

Stufe 2: In dieser Stufe erwerben die Kinder die Grammatik, die dem Artikelgebrauch zugrunde liegt, sowie die Grundregeln des Satzbaus. Diese sprachlichen Fertigkeiten sind für die Entwicklung des Sprachverstehens entscheidend.

Stufe 3: In dieser Stufe werden die in Stufe 1 und 2 erworbenen Kenntnisse in den Bereichen Wortschatz und Grammatik gezielt umgesetzt, um komplexe Verstehensmerkmale (wie z.B. Mengen, Fragen oder Zeitstruktur von Ereignissen) zu erlernen.

Die drei Stufen sind keineswegs willkürlich. Sie entsprechen genau den drei kritischen Stufen des gesunden Spracherwerbs vor der Einschulung:

Stufe 1 bis ca. 1.5 Jahre Erwerb der sprachrhzthmischen Regeln und der zugrundeliegenden Prinzipien des Bedeutungserwerbs
Stufe 2 bis ca. 2.5 Jahre Erwerb der Grammatik: Artikel und Satzbau
Stufe 3 bis ca. 6 Jahre Erwerb der „formalen SemantikÄÖ Frageverstehen, Nebensätze, Zeitstruktur, Mengen

Die Durchführung des Programms dauert ein Jahr und kann schon bei dreijährigen Kindern eingesetzt werden. Als Vorbereitung für dies Anwendung des Programms erhalten die teilnehmenden Erzieher(innen) für jede Programmstufe eine vierstündige Schulung und ein Kurzpraktikum (vier- bis sechsstündig) in Form eines Coaching im Kindergarten.

Die Ergebnisse des Pilotprojektes (Penner 2003) beschränken sich auf die Migrantenkinder und zeigen folgenden Kontrast in aller Deutlichkeit:
(1) Dank der gezielten und bereichsspezifischen Förderung mit dem Programm erzielen die Migrantenkinder innerhalb kurzer Zeit hochsignifikante Lerneffekte

(2) „traditionell“ geförderte Migrantenkinder erzielen bis unmittelbar vor der Einschulung sehr niedrige Lerneffekte und sind nicht in der Lage, die Basisregeln des Deutschen zu erwerben

2004 wurde das Kon-Lab-Programm in einem breiteren Kontext auf seine Wirksamkeit hin erneut evaluiert. Die als Studie mit einem Vorher/Nachher-Design fand in unterschiedlichen Settings und Standorten (Ravensburg, Berlin, Offenbach) mit insgesamt 607 Kindern statt. An der Studie nahmen Vorschüler in einer mit dem Kon-Lab-Programm geförderten Zielgruppe und in einer mit allgemeinen pädagogischen Maßnahmen geförderten Kontrollgruppe teil. Die Ergebnisse in Bezug auf die drei oben gestellten Fragen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

(1) Das Lernpotenzial der förderbedürftigen Kinder im Kindergarten
Die mit dem Programm geförderten Kinder weisen einen erheblichen Lerneffekt im Sinne eines regel-geleiteten Lernens auf. Die Kinder machen beträchtliche Fortschritte sowohl in den direkt geförderten Bereichen als auch in den Transferdomänen, wo sie keine Übung erhalten. Dieser Lerneffekt ist bei den allgemeinen, nur mit rein pädagogischen Maßnahmen geförderten Kindern nicht zu beobachten. Dies bedeutet, dass eine systematische Anpassung des Förderprogramms an das natürliche, frühe Spracherwerbsmodell die Nutzung der Sprachlernressourcen der Kinder wesentlich verbessert. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass auch die förderbedürftigen Kinder im Kindergarten über Sprachlernressourcen verfügen, die ohne gezielte Förderung ungenutzt bleiben.

(2) Die Reichweite der Lerneffekte bei den Kindern
Es besteht kein Zweifel, dass nicht nur die Gesamtgruppe, sondern auch die allerschwächsten Kinder im Kindergarten von dem Programm profitieren und markante Lernfortschritte machen. Dies gilt sowohl für die sonst als spracherwerbsgestört einzustufenden deutsch sprechenden Kinder als auch für die Migrantenkinder. Dies bedeutet, dass es den teilnehmenden Erzieher(inne)n gelungen ist, die Lernressourcen der Kinder zu aktivieren, die teilweise extrem schlechte Startbedingungen haben.

(3) Das Lehrpotenzial und die Lehrkompetenz im Kindergarten
Die Ergebnisse zeigen in aller Deutlichkeit, dass das gezielt geschulte Stammpersonal im Kindergartenalltag eine hohe Förderkapazität entwickeln kann. Die Erzieher(innen) sind durchaus in der Lage, einen verhältnismäßig komplexen Lehrgang durchzuführen und dabei die Nutzung der Lernressourcen auch der schwächsten Kinder bedeutsam zu verbessern.

Schlussbemerkungen und Ausblick

Es ist unumstritten, dass die lernenden Kinder günstige Rahmenbedingungen benötigen, die ihnen ermöglichen, ihre natürlichen Lernressourcen optimal zu nutzen. Dazu gehören pädagogische Prämissen wie „Bindungsqualität zwischen Bezugsperson und Kind“, „Wertschätzung der eigenen Kultur und Sprache“ und Vieles mehr.

Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, sich an den natürlichen Entwicklungsprozessen der frühen Kindheit zu orientieren. In der Sprachförderung kommt dieser Forderung eine besondere Bedeutung zu. Im Mittelpunkt der frühen Sprachentwicklung steht das Regellernen, das nach einer bestimmten Reihenfolge von Phasen in einem jeweils spezifischen Bereich stattfindet (Sprachrhythmus, Syntax, Wortbildung usw.). Kinder scheinen ihre vorhandenen Lernressourcen optimaler zu nutzen, wenn das Förderprogramm von den Prinzipien und Strategien des natürlichen, frühen Spracherwerbs Gebrauch macht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, stellen spracherwerbs-theoretische Programme eine sinnvolle und notwendige Ergänzung der im Rahmen der Kindergartenpädagogik angebotenen Maßnahmen dar.

Erfreulicherweise beschränken sich die Ergebnisse unserer Untersuchungen nicht auf die Lerneffekte bei den Kindern. Dank der Weiterqualifizierungsmaßnahmen haben die teilnehmenden Erzieher(innen) das Fachwissen erworben, das neue Förderprogramm kompetent durchzuführen. Es hat sich gezeigt, dass die so geschulten Erzieher(innen) das neu erworbene Wissen mit den kindergartenpädagogischen Prämissen zu einem für die Kinder nützlichen Förderpaket fachgerecht zusammengeschnürt haben. Die Praxis im Kindergarten konnte belegen, dass zwischen den beiden Paradigmen „Kindergarten-pädagogische Ansätze“ und „spracherwerbstheoretische Ansätze“ in Wirklichkeit kein Widerspruch besteht.

Eine genaue Analyse der Projektergebnisse weist auf einen zusätzlichen Aspekt hin. In den meisten Fällen beziehen sich die Sprachfördermaßnahmen im Kindergarten auf die Vorschulkinder. Trotz beachtlicher Lerneffekte bei den geförderten Kindern in unseren Projekten darf keineswegs vergessen werden, dass das übergeordnete Ziel, nämlich „Chancengleichheit“ bei der Einschulung, im letzten Halbjahr im Kindergarten nicht vollumfänglich erreicht werden kann. Dafür ist die Interventionszeit zu kurz. Aus diesem Grund haben erfahrene Erzieher(innen) begonnen, das Kon-Lab-Programm mit dreijährigen Kindern durchzuführen (d.h. mit Kindern im vierten Lebensjahr). Unter der Annahme, dass die bisher beobachteten Lerneffekte stark bleiben, ist damit zu rechnen, dass diese Frühintervention zur Chancengleichheit bei sprachlich benachteiligten Kindern wesentlich beitragen wird.

Die vollständige Fassung einschließlich der Tabellen und Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Weitere Informationen unter www.kon-lab.com

PD Dr. Zvi Penner ist Privatdozent an der Universität Konstanz und Geschäftsführer von Kon-Lab GmbH in Frauenfeld (Schweiz)

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