04 Aug fK 1/05 Grimm
Frühe Diagnose sprachlicher Entwicklungsstörungen
von Hannelore Grimm
Jedes Alter ist durch bestimmte Entwicklungsaufgaben definiert, die das Kind erfüllen muss. Während der Vorschulzeit stellt der Spracherwerb eine besonders herausragende Entwicklungsaufgabe dar. Dabei verläuft der Prozess der Sprachentwicklung über eine feste Abfolge von Meilensteinen, die jeweils innerhalb vorgegebener Zeitfenster erreicht werden müssen. Gelingt dies nicht, sind Störungen der Sprachentwicklung die unausweichliche Folge. Und diese haben weitreichende Konsequenzen für die gesamte Entwicklung des Kindes.
Auch wenn die Sprache einen eigenständigen Problembereich bildet, der das Kind mit ganz spezifischen Anforderungen konfrontiert, so ist die Sprachentwicklung von Anfang an doch mehr als der Erwerb rein linguistischer Kenntnisse. Erst über die Sprache wächst das Kind in die menschliche Kultur hinein und bildet eine gesellschaftliche und persönliche Identität aus. Darüber hinaus ist die Denkentwicklung mit der Fähigkeit zur Reflexion an die Sprache gebunden. Ohne Sprache gäbe es keine menschliche Intelligenz und keine Bildung.
Deshalb darf eine Störung der Sprachentwicklung niemals als ein isoliertes Phänomen verstanden werden, etwa im Sinne einer so genannten Teilleistungsschwäche. Sondern sie ist immer von ganz umfassender Natur. Ein Kind mit Sprachdefiziten weist nicht nur linguistische Auffälligkeiten und Verständigungsschwierigkeiten auf, sondern zeigt immer auch kognitive Defizite, Schulschwierigkeiten und Defizite im sozialen Bereich sowie in der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist so wichtig, diese Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und die richtigen diagnostischen sowie therapeutischen Schlüsse daraus zu ziehen, weil Störungen des Spracherwerbs erschreckend häufig vorkommen.
Zahlreichen Kindern, die die Sprache nur defizitär erwerben (nach konservativer Schätzung sind dies ungefähr acht Prozent) bleiben ganze symbolische Kontinente und Bildungsmöglichkeiten verschlossen. Vor dem Hintergrund der bekannten PISA-Studie ist dies in das Bewusstsein vieler gedrungen und wir sollten den Zeitpunkt nutzen, um endlich und überfällig durchzusetzen, dass Kinder, die von einer Sprachentwicklungsstörung bedroht sind, früh erkannt werden, so dass ihnen auch früh geholfen werden kann. Eine frühzeitige Intervention vermittelt dem kindlichen Gehirn die entsprechenden Anstöße, bevor das Zeitfenster für die Möglichkeit der linguistischen Strukturanalyse verpasst ist. Eine Inaktivierung des Gehirns verhält sich demgegenüber wie eine Schädigung. Bei Kindern, die ein Gehirn haben, das nicht optimal für den Sprachlernprozess organisiert ist, muss von außen, durch die Umwelt der Druck zur Verarbeitung sprachlicher Reize und zum Sprachaufbau verstärkt werden, so dass das Gehirn sich zu organisieren und unter Umständen auch zu kompensieren beginnt.
Sehr lange haben sich wissenschaftliche Annahmen darüber, wie sich das Kind die Welt der Sprache erobern kann, zwischen oberflächlicher Simplizität und Trivialität der Lerntheoretiker und realitätsferner Naivität der Nativisten bewegt und damit den wissenschaftlichen Fortschritt blockiert. So glaubten die Lerntheoretiker, dass man die menschliche Sprache mit den gleichen Konzepten beschreiben und erklären könne wie das tierische Verhalten. Dem setzten die Nativisten das Konzept der Universalgrammatik entgegen, die dem Kind angeboren sei und durch die Umwelt lediglich „getriggert“ zu werden brauche. Das hat zu außerordentlich heftigen und unfruchtbaren Kontroversen geführt. Und erst neue und bessere Methoden haben dazu beigetragen, dass diese Kontroversen beendet und ganz entscheidende neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten.
An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass grundsätzlich eine Wissenschaft nie besser sein kann als ihre Methoden. Und die Sprachentwicklungsforschung dürfte ein ganz besonders prominentes Beispiel dafür sein, wie nahezu revolutionäre Wissensfortschritte auf der Grundlage neuer methodischer Möglichkeiten erzielt wurden.
Es sind insbesondere drei methodische Zugänge, die dazu beigetragen haben, dass der sprachdiagnostische Bereich heute viel weiter fortgeschritten ist als je zuvor: (1) die moderne Säuglingsforschung, (2) die Fehleranalyse der wahrnehmbaren Sprache und (3) die Elternbefragungen.
Die moderne Säuglingsforschung
Der erste methodische Zugang kann unter den Begriff der modernen Säuglingsforschung gebracht werden. Es wurden überzeugende empirische Belege dafür vorgelegt, dass Kinder, lange bevor sie zu sprechen in der Lage sind, damit beginnen, die Sprache ihrer Umwelt rezeptiv zu verarbeiten.
Der Säugling kommt mit der Fähigkeit auf die Welt, die gehörte mütterliche Sprache in ganz spezifischer Weise zu verarbeiten, wobei er sich primär an prosodischen Sprachmerkmalen orientiert, er aber auch schon zwischen verschiedenen Sprachlauten differenziert. Der noch wortlose Säugling ist also nicht sprachlos. Aber der Säugling ist noch viel mehr. Denn wenn auch die sprachlichen Wahrnehmungsleistungen eine ganz zentrale Rolle für den Erwerbsprozess spielen, so wäre es doch verfehlt, ausschließlich diese zu betrachten. Sondern der Säugling bringt noch zusätzliche und ebenso unerlässliche kognitive Fähigkeiten mit, die vorbereitend für den Spracherwerb sind. Hierzu gehört ein implizites Symbolwissen, was insbesondere am Gebrauch symbolischer und konventioneller Gesten deutlich wird, sowie die gerichtete Aufmerksamkeit, die unter dem Begriff „joint attention“ bekannt ist. Dem Blick der Mutter zu folgen und selbst die Aufmerksamkeit der Mutter auf Objekte hin zu steuern, ist ein unerlässliches Kriterium für einen erfolgreichen Worterwerb.
Abbildung 1 zeigt, dass Vorausläuferfähigkeiten für den Spracherwerb drei Fähigkeitskomponenten umfassen: Bei der Kognition sind neben der Symbolisierungsfähigkeit das Gedächtnis und die Objektkategorisierung besonders bedeutsam. Die Komponente der Sprachwahrnehmung umfasst die Fähigkeiten, sprachliche Kontraste zu differenzieren und prosodische Merkmale für den Spracheinstieg zu nutzen. Und bei der Komponente der sozialen Kognition ist neben der „joint attention“ die Imitationsfähigkeit besonders relevant.
Abbildung 1: Vorausläuferfähigkeiten für den Spracherwerb: Drei Komponenten
Kognition | Sprach- wahrnehmung |
soziale Kognition | |
? | ? | ? | |
10. Lebensmonat | erste Wörter |
Der Worterwerb ist zwangsläufig dann gestört, wenn diese drei Fähigkeitskomponenten nicht optimal zusammenwirken. Eine Verzögerung des Worterwerbs stellt somit immer einen bedeutsamen Indikator dafür dar, dass schon ganz früh in der Entwicklung Defizite vorhanden sind. Genau diese Defizite gilt es diagnostisch zu erfassen, um entsprechend frühzeitig fördernd eingreifen zu können.
Wörter tauchen also nicht plötzlich aus dem Nichts auf, sondern es handelt sich bei ihnen um hochkomplexe Einheiten, in denen sich die Entwicklungslinien der Vorausläuferfähigkeiten kreuzen. Ein diagnostisches Instrument muss entsprechend diese Vorausläuferfähigkeiten erfassen, um Vorhersagen über das Gelingen des Wortschatzerwerbs treffen zu können.
Die Fehleranalyse
Um die Mechanismen und Prozesse zu erkennen, die der wahrnehmbaren Sprache zugrunde liegen, ist die Fehleranalyse die Methode der Wahl. An morphologischen Fehlern hat Bowerman (1982) beispielhaft klar aufgezeigt, wie das kleine Kind hart an der Sprache arbeitet und dabei schrittweise zunehmend abstraktere Strukturprinzipien erkennt und repräsentiert.
Dabei unterscheidet Bowerman drei Stufen der strukturellen Reorganisation, wobei die erste Stufe als „rote stage“ bezeichnet wird, weil das Kind einzelne Wortformen wie „feet“ oder „broken“ und – im Deutschen – „Männer“ oder „gesehen“ sozusagen auswendig abruft. Diese Wörter sind identisch mit den Wörtern, die wir gebrauchen. Das ist aber nur an der Oberfläche so! Denn obgleich wir hörbar dasselbe sagen, ist doch die Tiefenstruktur total unterschiedlich, wie aus der zweiten Stufe, der so genannten „rule stage“ geschlossen werden kann. Denn jetzt machen die Kinder systematische Fehler und sagen „foots“, „breaked“, „Männers“ oder „geseht“. Es handelt sich dabei um Übergeneralisationen, die darauf hinweisen, dass die Kinder nun erkannt haben, dass Wörter aus Einheiten zusammengesetzt sind, wobei regelmäßige Formen auf unregelmäßige ausgedehnt werden. Wenn die Kinder Fehler machen, sind sie in ihrer Entwicklung also fortgeschrittener!
Diese Fehler werden dann auf der dritten Stufe überwunden. Die Kinder produzieren jetzt korrekte Wortformen wie auf der ersten Stufe, wobei diesen jedoch eine vollständig andere Qualität zukommt. Es handelt sich nicht länger um die Produktion isolierter, unanalysierter Einheiten, sondern um gebildete Wortformen, die in ein neu erworbenes morphologisches Regelsystem integriert sind. Dass die hörbar identisch klingenden Wörter auf der ersten und dritten Stufe in ihrer Tiefenstruktur völlig unterschiedlich sind, konnte man nur über die Fehleranalyse erkennen!
Die Elternbefragungen
In zahlreichen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass Eltern wertvolle und korrekte Informationen über die frühe Sprachentwicklung ihrer Kinder geben können. Mütter sind nachgewiesenermaßen dann sehr gute Beobachterinnen ihrer Kinder, wenn die Beobachtungen präzise im Wiedererkennungsformat abgefragt werden und sich ausschließlich darauf beziehen, was das Kind aktuell gebraucht und macht.
Am Beispiel des Wortschatzes haben umfangreiche Befragungen erbracht, dass der produktive Wortschatz rasant zunimmt, wobei allerdings eine ungemein große Varianz bei sehr jungen Kindern zu verzeichnen ist. So zeigen unsere Daten bei 108 Kindern, dass sich der Mittelwert zwischen 12 und 18 Monaten fast verfünffacht und der Wortschatz dann einen noch viel steileren Anstieg bis 24 Monate nimmt.
Die Spanne ist bei den zwölf Monate alten Kindern zunächst noch gering, weil ein Drittel der Kinder in diesem Alter überhaupt noch kein Wort gesprochen hat. Der Mittelwert liegt bei zwei Wörtern, die Spitze bei sieben. Nur sechs Monate später hat sich das Bild aber drastisch geändert. Jetzt sprachen nur noch drei von 108 Kindern kein Wort, die unteren zehn Prozent sprachen immer noch weniger als fünf Wörter, bei den oberen zehn Prozent umfasste der produktive Wortschatz aber schon um die 90 Wörter. Wiederum nach sechs Monaten, also mit 24 Monaten, hatten die unteren zehn Prozent der Kinder einen Wortschatz von weniger als 31, die oberen zehn Prozent lagen dagegen bei mehr als 188 Wörtern.
Startpunkt für den Grammatikerwerb
Ein zweites wichtiges Ergebnis aus den mütterlichen Befragungen lautet, dass es so etwas wie einen quantifizierbaren Startpunkt für den Grammatikerwerb gibt. Theoretisch und praktisch brisant ist, dass Kinder erst eine bestimmte Anzahl von Inhaltswörtern erworben haben müssen, bevor sie Funktionswörter gebrauchen und damit in den Grammatikerwerb einsteigen können. So müssen wenigstens 50 Wörter produktiv beherrscht sein, bevor der für die Grammatikentwicklung wichtige Erwerb von Verben und Funktionswörtern erfolgt. Das heißt, dass wir den Grammatikeinstieg nicht über das Alter, sondern über die Größe des erreichten Wortschatzes definieren. Das ist auch für die Arbeit mit mental behinderten Kindern ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt.
Wenn Kinder im Alter von zwei Jahren noch keine 50 Wörter sprechen, sind sie also nicht nur beim Wortschatzerwerb verzögert, sondern auch in ihrer grammatischen Entwicklung gefährdet. Die magische Zahl 50 steht dafür, dass die Kinder die kritische Masse nicht erreicht haben, die für den Wortschatzspurt und den dadurch bereiteten Grammatikerwerb notwendige Voraussetzung ist. Die Zahl 50 kann als Barometer für einen insgesamt negativen Entwicklungsverlauf gelten. Sie stellt einen Art Schwellenwert für den Erfolg bzw. Misserfolg nachfolgender Entwicklungs- und Lernprozesse dar.
Sprachentwicklungsdiagnostik im Vorschulalter
Mit den von uns in Bielefeld entwickelten diagnostischen Verfahren zur Feststellung der Sprachentwicklung können wir den gesamten Vorschulbereich abdecken, wobei, dem Meilensteinkonzept folgend, auf jeder Altersstufe vergleichbare Konstrukte mit je unterschiedlichen entwicklungsspezifischen Aufgaben untersucht werden. In Abbildung 2 sind die entsprechenden Screeninginstrumente hell, die umfassenderen diagnostischen Instrumente dunkel unterlegt.
Abbildung 2: Sprachentwicklungsdiagnostik im Vorschulalter 1;0-5;11 Jahre
Alter | Fähigkeitsbereiche | Diagnostische Verfahren |
---|---|---|
12 Monate | Sprachverstehen | ELFRA-1 |
Sprachproduktion | ||
Gesten | ||
Feinmotorik | ||
24 Monate | Wortschatz | ELFRA-2 |
Syntax | ||
Morphologie | ||
2-3 Jahre | Sprachverstehen | SETK 2 |
Sprachproduktion | ||
3-4 Jahre | Sprachverstehen | SETK 3-5 |
Sprachproduktion | ||
Sprachgedächtnis | SSV für 3-jährige | |
4-5 Jahre | Sprachverstehen | SETK 3-5 |
Sprachproduktion | ||
Sprachgedächtnis | SSV für 4-5-jährige |
Es ist ersichtlich, dass für sehr junge Kinder mit zwölf Monaten ausschließlich ein Screeninginstrument vorliegt. Für zweijährige Kinder steht neben einem Screening schon der Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK 2) zur Verfügung. Und zu dem schon gut etablierten Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5) haben wir ergänzend zwei Screeningversionen (Sprachscreening für dreijährige bzw. für vierjährige und fünfjährige Kinder) vorgelegt, um die diagnostischen Möglichkeiten im Vorschulbereich komplett zu machen. Diese Screeningverfahren sind in nur zehn Minuten durchführbar und eignen sich in besonderer Weise für den Einsatz in der logopädischen Praxis sowie in Kindergärten und anderen vorschulischen Einrichtungen.
Prof. Dr. Hannelore Grimm ist Universitätsprofessorin für Entwicklungspsychologie mit dem Schwerpunkt Sprachentwicklung an der Universität Bielefeld.
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