07 Aug fK 1/04 Vollmer
Wahlrecht von Geburt an –
Schritte zur Verwirklichung
Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen
von Antje Vollmer
Seit Jahren nun schon kündet das Statistische Jahrbuch bei seinem Erscheinen ein ums andere Mal vom Wetterleuchten einer kleinen Bevölkerungsrevolution. Der Anteil der alten Menschen steigt kontinuierlich, die Geburtenrate sinkt, die Haushalte werden kleiner – in den Städten vollzieht sich diese Entwicklung noch schneller als auf dem Land. Ist die Bevölkerungsalterung einmal in Gang gekommen, beschleunigt sich der Prozess von Jahr zu Jahr.
Im Jahr 2030 wird jeder dritte Bundesbürger über 60 Jahre alt sein, im Jahr 2050 schon fast jeder zweite, zwölf Prozent darunter werden sogar über 80 Jahre alt sein. Auf der anderen Seite hat sich die Zahl der Geburten in den letzten vier Jahrzehnten annähernd halbiert, mit den bekannten Folgen: Der Anteil an Ein-Personen-Haushalten ist stetig auf dem Vormarsch, Familien mit Kindern stellen nur noch ein Drittel aller Haushalte, deren Durchschnittsgröße somit auf einen neuen Tiefpunkt von 2,1 Personen geschrumpft ist. Während auf Bundesebene noch die Überwindung der Arbeitslosigkeit das beherrschende Thema ist, bahnt sich in den neuen Bundesländern, die unter einem besonders starken Rückgang der jüngeren Erwerbsbevölkerung leiden, schon ein dramatischer Paradigmenwechsel an: mit Anwerbeprämien für junge Ärzte versucht das Land Sachsen die gesundheitliche Versorgung aufrechtzuerhalten, während im ärmeren Brandenburg über Einschränkungen in der öffentlichen Versorgung nachgedacht wird.
Mit anderen Worten: die Experten zur Sanierung von Renten- und Gesundheitssytemen, die Reformer des Bildungs- und Steuersystems müssen wieder einmal ihre Daten, die als Basis für Modellrechnungen und zukünftige Lösungsansätze dienen, zum Ungünstigeren hin korrigieren.
Warum dieser Einstieg in das Thema „Wahlrecht ab Geburt?“ Ist die demographische Schieflage nicht eher ein Problem, das Sozial- und Familienpolitiker, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsexperten beunruhigen muss, all diejenigen also, deren Verantwortung in nachhaltiger Haushalts- und Finanzpolitik liegt?
Meine Schlussfolgerung lautet: die Lebenslagen und Interessen von Kindern und Jugendlichen, ihre Zukunftsperspektiven als künftige Erwachsene haben so dramatisch an Bedeutung verloren, dass wir eine radikale Wahlrechtsreform brauchen. Kinder und Jugendliche – noch sind es 15 Millionen und damit rund ein Fünftel der Bevölkerung! – müssen endlich ein unüberhörbarer, ernstzunehmender Faktor in dem Ringen um Konzepte und Prioritäten bei politischen Entscheidungen werden. Kein Instrument in unserer Demokratie ist so trefflich geeignet, die Regierenden stetig an die Staatsgewalt des Volkes zu erinnern, wie das allgemeine Wahlrecht. Mit seinem urdemokratischen, grundgesetzlich verbrieften Recht auf aktive Wahl steht es jedem Bürger frei, Regierungen ein Mandat auf Zeit zu verleihen, er kann sie bestätigen oder seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, indem er bei der nächsten Wahl einer anderen Partei den Vorzug gibt: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Ist ein Teil des Volkes aber aufgrund seines Lebensalters von diesem essentiellen Grundrecht systematisch ausgeschlossen, so fehlt seine durchsetzungsfähige Stimme im Wettbewerb der Parteien um das Vertrauen der Wähler. Nun – so mag man erwidern –, dafür gehen schließlich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die Eltern Minderjähriger zur Wahlurne, beziehen in ihre allgemeine Wahlentscheidung auch die Aussagen der Parteien zu Familien- und Bildungspolitik, Staatsverschuldung und Haushaltssanierung mit ein.
Was die Architekten des Generationenvertrages und die Väter und Mütter des Grundgesetzes jedoch nicht ahnen konnten, ist, dass Kinder, Jugendliche, Familien mit zwei Elternteilen und Alleinerziehende, dass sie alle zusammen fünfzig Jahre später in eine gesellschaftliche Minderheitenrolle geraten und damit wahlstrategisch schlichtweg an Bedeutung verlieren würden. Nur so ist zu erklären, dass der Steuerfreiheit von Zuschlägen für Spitzenverdiener im Fußball mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewiss ist als dem Skandal, dass eine Million Kinder in Deutschland von Sozialhilfe und eine halbe Million unter schlechtesten Wohnverhältnissen leben.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte vor einigen Wochen anhand einer Allensbachumfrage verwundert fest, dass trotz der enormen Diskussion über Zustand und Zukunft der deutschen Schulen, die der PISA-Schock des vergangenen Jahres ausgelöst hat, ein Jahr später das Thema Bildung der großen Mehrheit der Bürger kein Anliegen mehr ist. Die Erklärung lieferten die Demoskopen gleich mit: da nur noch weniger als ein Viertel der Bevölkerung schulpflichtige Kinder hat, vermögen diese Befragten es auch nicht mehr, mit ihren Präferenzen Umfrageergebnisse in einer Höhe zu prägen, welche Politiker aufmerken lassen. Untersucht man die Themenschwerpunkte in den Zeitungen – die ja immer auch Spiegel dessen sind, was die öffentliche Meinung vordringlich bewegt –, so lassen sich die Beispiele für den mangelnden Unterhaltungswert von Problemen heutiger Familien beliebig fortsetzen. So klagten unlängst drei Väter mit insgesamt zwölf Kindern gegen die Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen in der Rentenversicherung, weil sie darin einen Verstoß gegen den Generationenvertrag sehen. Den mit Spannung erwarteten Ausgang dieses Musterprozesses fand ich nicht etwa als Thema des Tages auf der zweiten Seite der Zeitung, sondern an hinterer Stelle als Kurznachricht unter ferner liefen. Auch die zwanzig radfahrenden Kinder, die in Berlin allein in diesem Jahr im Straßenverkehr den Tod gefunden haben, werden lediglich in den Polizeinotizen bedauernd erwähnt – was aber nicht stattfindet, ist der gebührende öffentliche Aufschrei. Die durchsetzungsfähige Lobby von Eltern, die notwendig wäre, um sichere Schulwege für Kinder an die Spitze der verkehrspolitischen Agenda zu setzen, ist nicht in Sicht, sind doch Familien in Städten längst noch stärker unterrepräsentiert als im Schnitt der Gesamtbevölkerung.
Unsere parlamentarische Demokratie hat in den vergangenen Jahrzehnten ihre große Stärke darin bewiesen, immer wieder auch politische Kräfte an den Rändern der Gesellschaft zu integrieren, ihnen eine Bühne zu bieten, auf der sie sich artikulieren und ihre Konflikte nach zivilisierten Regeln austragen konnten. Heute stehen wir nach meiner Überzeugung wieder vor der Aufgabe, unsere Demokratie für die Anforderungen, vor die uns die demographische Schieflage stellt, bewährungstauglich zu gestalten und zu stärken. Denn so wie es uns in der Vergangenheit gelungen ist, die auseinanderstrebenden Interessen von „rechts“ und „links“ daran zu hindern, als Zentrifugalkräfte gefährliche Sprengkraft für den gesellschaftlichen Frieden zu entwickeln, so muss es uns in den nächsten Jahren gelingen, die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben von jung und alt zu schaffen und, darüber hinausgehend, für die anhaltende und wechselseitige Bereitschaft, die jeweils bedürftige Generation zu unterstützen.
Sie alle kennen das Grimm’sche Märchen vom Enkel, der für seine Eltern einen Schweinetrog schnitzt, als diese den hinfällig gewordenen Großvater vom gemeinsamen Tisch verbannen; durch die Geste des Kindes beschämt, holen sie den Alten zurück in die familiäre Mitte und Fürsorge. Es gilt, den zeitlos aktuellen Auftrag dieser Parabel zu erfüllen und einen aktualisierten Generationenvertrag auszuhandeln, der bis weit in die Mitte des 21. Jahrhunderts hinein tragfähig ist. Wohlgemerkt, im Märchen ist es maßgeblich der Enkel, der mit seinem Handeln den Eltern die Kurzsichtigkeit ihres Tuns aufweist und sie zur Umkehr bewegt.
In dem fraktionsübergreifenden Antrag für ein Wahlrecht ab Geburt sehe ich den richtigen Ansatz, die politischen Kräfteverhältnisse zwischen den Generationen so auszubalancieren, dass auch die Anliegen der unter Achtzehnjährigen ihren gleichberechtigten Platz im Aushandlungsprozess der politischen Entscheidungen finden.
Seit ich angefangen habe, über die Idee des Wahlrechtes zu diskutieren, stelle ich viel Zustimmung fest, begegne aber auch einer Reihe von wiederkehrenden Fragen und teilweise Missverständnissen. Ich bin froh über die kontroverse Debatte, unterstreicht sie doch den hohen Stellenwert des Wahlrechtes, den sowohl Befürworter wie Gegner des Gruppenantrages ihm beimessen. Das allein ist schon ein sehr gutes erstes Zwischenergebnis der Initiative: das Wahlrecht als hohes Gut in der Demokratie ist wieder in aller Munde.
Einwände und Missverständnisse
Diejenigen Einwände, die am häufigsten gegen die Idee einer Stärkung der Partizipationschancen der jungen Generation durch eine Wahlrechtsänderung vorgebracht werden, nehmen die stellvertretende Wahrnehmung der Wahlstimmen durch die Eltern zum Aufhänger der ablehnenden Skepsis. Aus dem gewollten Missverständnis, dass es dann privilegierte Erwachsene mit mehreren Wahlstimmen gebe, leiten sich unterschiedliche Argumentationen der Kritik ab, auf die ich deshalb eingehen möchte.
Missverständnis 1: „Wenn Eltern mehrere Stimmen abgeben und damit den politischen Focus stärker auf die jüngere Generation lenken können, schürt das den drohenden Konflikt der Generationen.“
Ganz im Gegenteil halte ich die angestrebte Änderung des Grundgesetzes für ein hervorragendes Mittel um gerade zu verhindern, dass aus unterschiedlichen Interessenlagen, wie sie das Verhältnis der Generationen seit jeher prägen und zum Lauf der Welt dazugehören, tatsächlich verhärtete, verbissene Konfliktfronten werden könnten. Sie alle haben die plötzlich und mit Vehemenz eröffnete Debatte dieses Sommers über die Kosten der gesundheitlichen Versorgung hochbetagter Menschen in Erinnerung, deren teilweise rohe und verletzende Töne uns verstört und erschreckt haben. Geben wir der Generation der Jungen, die morgen und übermorgen die Verantwortung für die dann Alten und Hochbetagten – und übrigens auch für die kommenden Kinder – zu tragen haben, bereits heute die Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen und mitzuentscheiden, so können wir verhindern, dass Gräben zwischen den Generationen aufreißen. Ich will nicht zulassen, dass verbale Kraftakte und Rundumschläge – aber auch die Haltungen, die dahinter stehen – Schule machen, weil die Jungen sich „ohn-mächtig“ aus den Mechanismen der Interessenabwägung und Kompromissaushandlung ausgeschlossen sehen.
Missverständnis 2: „Wenn Erwachsene mit Kindern leben und deshalb vier oder fünf Stimmen bei der Wahl abgeben dürfen, sind sie nur aufgrund ihrer Lebensform privilegiert – die Bevorzugung einer bestimmten Lebensform vor allen anderen soll aber doch gerade endlich überwunden werden!“
Erwachsene dürfen nach der Idee des Wahlrechts ab Geburt nicht deshalb eine Stimme mehr abgeben, weil sie verheiratet oder jedenfalls zusammen lebend sind, sondern weil sie vorübergehend die Wahlstimme eines Kindes verwalten, bis es dieses selbst kann. Die Benachteiligung des Kindes wird so beendet, nicht der Erwachsene vor anderen Erwachsenen bevorzugt.
Missverständnis 3: „Die stellvertretende Wahrnehmung des Wahlrechts von Kindern durch die Eltern führt zur Abkehr von dem wesentlichen demokratischen Prinzip „one man – one vote!“
Der Grundsatz „eine Person – eine Stimme“, prägnante Kurzformel für die Forderung nach allgemeiner und gleicher Wahl ohne Ansehen von Rasse, Religion und Stand, ist ein starkes, ein überzeugendes Argument, dem sich jeder überzeugte Demokrat verpflichtet fühlt. Nur: in unserer Debatte unterstützt dieser Wert gerade die Forderung nach einem Wahlrecht ab Geburt, statt sie, wie von den Kritikern behauptet, in Frage zu stellen. Als den Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Verwirklichung des Bürgerrechtes „ein Mann – eine Stimme“ nicht weit genug ging, forderten sie konsequent und erfolgreich dessen Weiterentwicklung hin zu „eine Frau – eine Stimme“. Wenn wir uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts dessen bewusst werden, dass immer noch ein großer Personenkreis der Staatsbürger vom Recht zu wählen ausgeschlossen ist, liegt es dann nicht in der ureigenen Logik dieses Satzes, eine weitere, die letzte Barriere bei demokratischen Wahlen einzureißen und zu fordern „one child – one vote“, „ein Kind – eine Stimme“! Das Wahlrecht ist ein Bürgerrecht, ein zentrales dazu: und ein zu berücksichtigender Bürger dieses Landes ist doch auch jedes Kind!
Schritte zur Umsetzung
Wir wissen aus der Geschichte, dass weder das allgemeine noch das Frauenwahlrecht im Handstreich erobert wurden. Was gilt es also zu tun, um dem ehrgeizigen Ziel einer Grundgesetzänderung mit der dafür notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag näher zu kommen? Für alle Initiatoren dieses Gruppenantrages ist es nun unverzichtbar, in vielen Diskussionen Überzeugungsarbeit zu leisten. Dabei liegt es auf der Hand, dass Erstunterzeichner aus der CDU/CSU-Fraktion bei ihren – kritischen – Kollegen andere Bedenken ausräumen müssen als sie mir beispielsweise in meiner eigenen Fraktion begegnen.
So gibt es bei Bündnis 90/Die Grünen ein Unbehagen gegenüber der Vorstellung, dass Eltern von 16-, 17-jährigen Jugendlichen gegen deren erklärten Willen ihre eigene Partei einfach zweimal wählen, d.h. das ihnen geliehene Mandat zweckentfremden könnten. Deshalb geben viele Politiker der Grünen einer Herabsetzung des Wahlalters derzeit noch den Vorzug vor einem stellvertretenden Wahlrecht.
Ich selber sehe in beiden Ansätzen gar keinen Widerspruch: wenn Kinder früh in ihren Familien lernen, dass es wichtig ist und sich lohnt, sich mit Fragen ihrer Umwelt, mit Krieg und Frieden, mit Gerechtigkeit und dem Problem zu beschäftigen, wie Kinderarmut beseitigt werden kann, warum sollten wir dann nicht so konsequent sein, ihnen das aktive Wahlrecht mit 16 oder langfristig vielleicht sogar mit 14 Jahren zu übertragen? Mit vierzehn werden Jugendliche strafmündig und müssen Jugendstrafen auf sich nehmen, weil sie für einsichtsfähig genug gehalten werden, ihr Fehlverhalten zu erkennen. In Schul- und Berufsbildung müssen sie in dieser Lebensphase weichenstellende Entscheidungen für ihren Lebensweg treffen, sind bereits mit zahlreichen Problemen dieser Gesellschaft konfrontiert. Sie dürfen ein Moped lenken und aus der Kirche austreten, wenn sie es wollen. Wird es dann nicht allerhöchste Zeit, diesem erwachsenen Denken, das den Jugendlichen sowohl abverlangt wie auch zugetraut wird, endlich auch die positiven Insignien zu verleihen, von denen das aktive Wahlrecht das bedeutendste darstellt, das es in einer Demokratie gibt?
Ein stellvertretendes Wahlrecht für Kinder durch die Eltern in Verbindung mit einer Absenkung des aktiven Wahlrechtes von derzeit 18 Jahren – darin sehe ich eine gelungene Verbindung der Stärkung von Kinderinteressen und der Partizipationsmöglichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener in einer tendenziell älter werdenden Gesellschaft.
Allerdings, für die notwendige Änderung des Grundgesetzes bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Deutschen Bundestag, und die ist nur im überfraktionellen Kompromiss zu erlangen. Eine solche parteiübergreifende Mehrheit für die Herabsenkung des Wahlalters ist jedoch nicht in Sicht. Ich denke: Wenn unsere Initiative erfolgreich sein wird und wir das Wahlrecht ab Geburt als demokratisches Recht in unserer Verfassung verankert haben werden, dann wird sich das auf die Gesprächskultur zwischen Eltern und Kindern auswirken. Das Selbstbewusstsein und das politische Interesse der Jugendlichen, die um die Bedeutung ihrer Meinung für die Wahlstimme wissen, wird gestärkt.
Schon seit 1980 sind Eltern nach § 1626 Abs. 2 BGB dazu verpflichtet, Kinder an allen sie betreffenden Fragen zu beteiligen, also selbstverständlich auch und gerade in der Frage ihrer Stimmabgabe. Haben wir erst einmal solche im positiven Sinne politisierten, „demokratisierten“ Jugendlichen, davon bin ich überzeugt, wird die Wahlaltersgrenze in ihrer heutigen Höhe von 18 Jahren nicht mehr haltbar sein. Deshalb halte ich es für die richtige Strategie, im ersten Schritt die wachsende Zahl derjenigen aus allen Parteien auf einen gemeinsamen Nenner zusammenzubringen, welchen das Wahlrecht für die minderjährigen Bürger dieses Landes ein ernsthaftes Anliegen ist.
Wie funktioniert das Ganze in der Praxis?
Es geht gar nicht, sagen die Kleinmütigen, wenn die Erziehungsberechtigten sich über die Stimmausübung des Kindes nicht einigen können. Es kann nicht funktionieren, wenn die Eltern geschieden sind, der Vater Ausländer, die Mutter Flüchtling, einer von beiden Muslime oder einer in Abschiebehaft sitzt, sagen die Zweifler. Wenn es drei Kinder sind, kann man deren Stimmen nicht zwischen den Eltern einfach aufteilen, sagen die Bedenkenträger. Die Familiengerichte würden mit Klagen streitender Eltern überzogen, sorgen sich die Unterstützer der Familien. Väter sollen für Söhne wählen dürfen, Mütter für Töchter – aber was machen dann Väter von Töchtern, grübeln die Tüftler.
Würden hinter diesen vielen detailverliebten Einwänden nicht teilweise konkrete, klärungsbedürftige Fragen der praktischen Umsetzung stehen, die in der Tat im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens juristisch sauber zu lösen sind, könnten diese erstaunlichen Einwände zum Schmunzeln animieren. Brauchbare gesetzestechnische Lösungsvorschläge liegen bereits auf dem Tisch. Jedem Elternteil eine halbe Stimme pro Kind zuzuerkennen, wäre ein einfaches Modell, welches auch nach einer eventuellen Trennung der Eltern fortgesetzt werden kann. Die vielen denkbaren und tatsächlich auftretenden Sonderfälle werden von Juristen in Ausführungsbestimmungen zu regeln sein, wie dies bei jeder Gesetzgebung der Fall ist.
Aber woher dieses plötzliche Misstrauen gegenüber den Einigungsmöglichkeiten von Eltern, denen nahezu alle bedeutsamen Entscheidungen im jungen Leben ihrer Kinder allein zugetraut – und auch zugemutet werden? Oder die Alleinerziehenden – gewohnt, ihr eigenes und das Leben ihrer heranwachsenden Kinder über Jahre hinweg gegen alle Widrigkeiten allein zu managen, die einen eher im partnerschaftlichen Kontakt mit dem andern Elternteil, die anderen eher ohne. Warum sollten sie ausgerechnet in der Frage der Wahrnehmung des Stimmrechtes an ihrer Verantwortung fehlen?
Nein, wer hier bewusst so hohe Hürden gegen die Umsetzung einer verblüffend einfachen Idee errichtet, möchte mit diesen vielleicht eher die Aussicht auf die eigenen Interessen zubauen, so scheint es mir. Die damaligen Gegner des Frauenwahlrechtes fürchteten seinerzeit den vermuteten Linksruck zugunsten der Sozialdemokraten. Fürchten diejenigen, die heute von einer drohenden ‚Privilegierung der Familien‘ (ausgerechnet!) sprechen, dass 15 Millionen zusätzliche Wählerstimmen das politische Gewicht der jungen Generation stärken können? Dass die Interessen von Kindern und Jugendlichen, wahrgenommen von deren Eltern, in Wahlkampfstrategien auf einmal wieder an Bedeutung gewinnen könnten, wenn es um Verkehrs- und Schulpolitik, um nachhaltige Staatsfinanzen und eine solide Rentenfinanzierung geht?
Dieses jedenfalls ist gerade das Ziel der Unterstützerinnen und Unterstützer des Gruppenantrages: wir machen uns mit dieser Initiative für eine Wahlrechtsänderung dafür stark, dass die Wahrung der Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen ebenso selbstverständlich auf der politischen Agenda vertreten sind wie die kurz- und mittelfristigen Perspektiven der heute mittleren und älteren Generation. Auf dass es nicht länger dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben muss, bei der Politik die überfällige Beseitigung der Benachteiligung der Jungen einzufordern. Lassen wir alle Staatsbürger für sich selbst sprechen und stimmen nach dem Motto: „ein Mann, eine Frau, ein Kind – eine Stimme“.
Dr. Antje Vollmer ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
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