fK 1/03 Krappmann

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Zukunft mit Kindern

von Lothar Krappmann

Die Dramaturgie der Tagungsleitung hat vorgesehen, am Schluss der Tagung das Motiv für die Vorträge und Diskussionen noch einmal eindeutig herauszustellen. Dieses Motiv ist zweifellos auch in der negativen Formulierung des Tagungsthemas zu erkennen: „Stör‘ ich? Zukunft ohne Kinder“. Gemeint war als Ziel das Gegenteil, verkleidet in der Stilfigur des argumentum e contrario: Es geht um die „Zukunft mit Kindern!“ Ich möchte die Aussage noch verschärfen und betonen: Zukunft gibt es nur mit Kindern!

Als ich mich vor einiger Zeit damit zu beschäftigen begann, was für mich wohl nach Referaten und Foren zu diesem Thema noch zu sagen übrig bliebe, da war ich sicher, dass nach all dem nicht erforderlich sein werde, noch einmal an die eigentliche Stoßrichtung der Tagung zu erinnern: nämlich dass es die wichtigste Aufgabe eines Gemeinwesens und seiner Bürgerinnen und Bürger sein muss, das Zusammenleben nicht nur von Kindern und Eltern, sondern generell das gesellschaftliche Leben so zu organisieren, dass Kinder nicht in die Rolle von Störern gebracht werden. Oder um es positiv auszudrücken: solche Bedingungen für ein Aufwachsen von Kindern zu schaffen, unter denen Leben mit Kindern ohne unzumutbare Belastung, mit angemessener Unterstützung, in Anerkennung der elterlichen Leistungen und mit fairen Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung für Kinder und Eltern zu verwirklichen ist.

Aber – und das muss immer wieder wiederholt werden – eben diese Bedingungen sind nicht gesichert. Im Plenum und in den Foren wurden viele Daten, Berichte und auch persönliche Erfahrungen vorgetragen, die belegen, dass das Zusammenleben mit Kindern heute schwierig ist. Es ging bis hin zu einer Äußerung, man müsse sich wundern, wenn sich überhaupt noch Frauen und Männer für Kinder entschieden. Vierzig Prozent der Frauen des Geburtsjahrgangs 1965 mit Hochschulausbildung haben nach den von Uta Meier in ihrem Referat berichteten Zahlen jedenfalls auf Kinder verzichtet.

Es wurde ausgebreitet, was dieses Zusammenleben belastet, und zwar nicht nur den aktuellen Alltag der Familie beengt, sondern ebenfalls persönliche Entwicklungen und die Gestaltung von Beziehungen schmälert und darüber hinaus Erwachsenen und Kindern dauerhafte Benachteiligungen beschert. Für Erwachsene bestehen diese Benachteiligungen im Hinblick auf ihre ökonomische Lage und, vor allem für Frauen und Mütter, hinsichtlich ihrer beruflichen Beteiligung. In unserem System der Sozialsicherung hat diese unterbrochene oder reduzierte Berufstätigkeit massive Folgen für die Versorgung im Alter. Auch Kinder erleiden dauerhafte Benachteiligungen, da die soziale Herkunft, also die Lebenslage der Familie – dies in meinen Augen ein besonders erschreckendes Ergebnis der PISA-Studie – in unserem Land überaus nachhaltig auf den Bildungsweg der Kinder Einfluss nimmt und auf diesem Wege auf ihre Fähigkeiten, ihr Weltverständnis und ihre Lebenschancen.

Insgesamt wachsen Kinder mit Eltern in einer sozio-ökonomischen Situation auf, die nicht der entspricht, in der ihre Eltern leben würden, wenn sie nicht die Sorge für Kinder übernommen hätten. Trotz Kindergeld und Steuerfreibeträgen sinkt das pro Kopf in Familien zur Verfügung stehende Einkommen mit der Kinderzahl beträchtlich – für eine intolerable Zahl von Kindern und Familien, wie immer wieder dokumentiert wurde, bis in die Zone der Armut. Ich möchte übrigens eine Begriffsbildung aufgreifen, die durch den Fünften Familienbericht in die Diskussion gebracht wurde und zweifellos auch in vielen Aussagen dieser Tagung mitschwang: Es geht nicht nur um einen Lastenausgleich für Familien – also um das „Gejammer“ über zugemutete Belastungen, von dem Susanne Mayer im Podiumsgespräch sagte, dass sie es leid sei –, sondern es geht um die Honorierung einer Leistung, die Eltern für ihr Kind, ihre Kinder und für die Gesellschaft erbringen, somit nicht nur um eine ohnehin immer nur teilweise Aufwandsentschädigung, sondern um Anerkennung.

Werden die benannten Einschränkungen durch die Freude an Kindern und an ihrer Spontaneität, Kreativität und Lebenslust kompensiert? Werden sie durch die Sinnstiftung des Lebens, die Kinder bieten, reich vergolten? Werden sie durch die Herausforderung der persönlichen Entwicklung, durch die Ko-Evolution von Erwachsenen und Kindern in der gemeinsamen Bewältigung von kleineren und größeren Aufgaben und Problemen, geradezu in Vorteile verwandelt? Wer wollte diese positiven, allerdings manche Alltagsquerelen und schwierigen Situationen übergehenden Seiten des Lebens mit Kindern abstreiten? Aber diese Gegenrechnung klingt schal, wenn sich der Eindruck aufdrängt, dass mit derartigen Argumenten Familien berechtigte Forderungen abgehandelt werden sollen.

Die Hoffnung auf ein innerlich bereicherndes Leben mit Kindern stimuliert nach wie vor die Mehrzahl der Erwachsenen, sich Kinder zu wünschen. Auf die Shell-Jugendstudien wurde hingewiesen, nach deren Daten die meisten jungen Menschen sich ihre Zukunft mit Kindern vorstellen. Die realen Erfahrungen machen allerdings vielen Eltern schon bald nach der Geburt des ersten Kindes deutlich, dass sie mit Kindern in eine Lebenslage geraten sind, in der ihnen die wichtigen Aufgaben der Betreuung und Versorgung, der Erziehung und Bildung ihrer Kinder schwer gemacht werden. Diejenigen, die Kinder in das soziale Leben einführen, ihnen ein gutes Verhältnis zur Natur eröffnen, die geistigen und kulturellen Güter in ihrer Vielfalt, Weite und Bedeutung erschließen sollen, stehen vor diesen Aufgaben im Durchschnitt unter schlechteren Voraussetzungen als vergleichbare andere, und dies, weil das Leben mit Kindern selber ihre materiellen Spielräume, ihre Zeit- und Energieressourcen und somit ihre sozialisatorischen Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigt – und zwar in vielen Familien in einem so erheblichen Maße, dass in der Bilanz der Lebensqualität nicht die erlebte Freude, der tief empfundene Sinn, die fördernde Ko-Evolution überwiegt, sondern die aufreibende Bemühung, sich gegen widrige Umstände zu behaupten.

So scheinen Kinder die Lebensentwürfe von Erwachsenen zu stören, wenn nicht zu verhindern. Aber nicht Kinder stören, sondern Lebensverhältnisse, die das Leben mit Kindern nicht als eine selbstverständliche Komponente des Daseins vieler Erwachsener einbeziehen. Den Kindern wird angehängt, was seine Ursache an ganz anderen Stellen hat. Es wird übergangen, dass die Lebensverhältnisse, die auf die Familien einwirken, von Trends geprägt werden, die den mobilen und flexiblen, zeitlich unbegrenzt einsatzfähigen, aber gegebenenfalls auch wieder freisetzbaren Menschen verlangen, also ein angepasstes, frustrationsresistentes, plastisch formbares Wesen. Ist das überhaupt noch ein Mensch, mit dem da gerechnet wird, mag man in Anlehnung an eine bittere Anmerkung von Franz Resch fragen. Jedenfalls ist es kein Familienmensch, denn der ist – zugegebenermaßen zugespitzt formuliert – das Gegenteil all dieser Forderungen: Wegen der Kinder und um ihrer Entwicklung, Bildung und Sozialität willen

  • sind Mütter und Väter an Nachbarschaft und Nahumwelt orientiert und nicht auf weiträumige Mobilität ausgerichtet,
  • wollen und sollen sie vor allem konstant und kohärent handeln und leben und können nicht in dem Maße flexibel sein, wie es ein permanenter und weitgehend unvorhersehbarer Wandel fordert,
  • müssen Eltern Bindungen aufbauen und fördern und sich der Austauschbarkeit widersetzen, die sogar schon in Kindergärten und Schulen die Beziehungen von Erzieherinnen und Lehrern zu den Kindern zu beherrschen beginnt,
  • müssen Eltern emotional berührbar sein und dürfen sich nicht frustrationsresistent verschließen, denn sie sollen ihren Kindern auf dem Weg des Aufwachsens nah sein können.

Liebe und Partnerschaft, Verantwortung für ein Kind oder mehrere Kinder, die von Mutter und Vater Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit, unrationierte Zeit verlangen, versetzen Familienmenschen in ein Spannungsverhältnis zu Lebensverhältnissen, die unter dem permanenten Druck von Innovation, Rationalisierung, Konkurrenz und Globalisierung stehen.

Dass es diese Widersprüche gibt, wird an den Kindern offenbar. Sie sind ein widerständiger, in gewisser Hinsicht der konservative Part im Familienleben, der daran hindert, sich an alle wechselnden Umstände beliebig anzupassen. Kinder brauchen ihre sichere Basis, die sie nicht austauschen wollen, ihre Eltern, ihre Wohnung, ihre Peers, den Freund, die Freundin gegenüber, den gewohnten Weg zum Kindergarten, den Baum vor dem Fenster und den geheimen Treffpunkt hinter den Garagen. Ich male dies ein wenig aus, damit wir begreifen, dass es um eine ganze Welt geht, die Kinder gegen Eile, Eingriffe und Veränderung verteidigen. Kinder sind in ihrem Widerstand stark und schwer vom Neuen überzeugbar, erst recht wenn sie merken, dass Eltern selber nicht so ganz an die verlangte Veränderung und die angebliche Verbesserung glauben. So reagieren sie auf den Druck mit Klagen, mit Unlust, mit Verweigerung und eben nicht selten auch mit Unruhe, Krankheiten, auch bisher unbekannten, mit Verhaltensproblemen oder gar mit offener Rebellion.

Das sind dann die Kinder, die Aufmerksamkeit und Zeit verlangen, die nicht so funktionieren wie eine an- und ausstellbare Maschine, die somit Abläufe schwierig machen. In schönen Worten wird oft beteuert, im politischen, im wirtschaftlich-betrieblichen, im kommunalen Handeln, in den Strukturen und Institutionen, die die Lebensabläufe bestimmen, aber weithin vergessen, dass nichts dringlicher ist als jungen Menschen die Bedingungen zu bieten, unter denen sie zu fähigen, Probleme lösenden, soziale Verantwortung übernehmenden Bürgern, Mitarbeiter, Mitstreitern und Partnern werden können. Vergessen, kindvergessen, das waren notabene Worte, die in vielen Beiträgen als Schlüsselbegriffe auftauchten. Indem Kinder auf dem beharren, was ihnen gut tut und was sie brauchen, auf vertrauten Orten, auf Nachbarschaft, auf Bindungen, auf Nähe und auf Konsistenz, werden sie zu Gegenspielern einer Menschen instrumentalisierenden Entwicklung.

Der Vorrang der ökonomischen, global-expansiven, Mobilität und Flexibilität fordernden Perspektive vor einer Perspektive, die auf Kinder, Familiennetzwerke, Nachbarschaft und Freundeskreise schaut, erscheint so unbezweifelbar, so unanfechtbar, dass der Vorschlag, diese Rangfolge einmal zu vertauschen, weltfremd erscheint. Aber ist es so ausgemacht, dass es der technisch-ökonomisch-medial-kommunikative Fortschritt ist, der Lebensqualität garantiert? Ist es nicht viel mehr die Orientierung am Kind, seinen Entwicklungsbedingungen und seinen Rechten, die die Frage nach der Lebensqualität kritisch macht? Eine zuerst auf Kinder schauende Perspektive verlangt, alles, was als Fortschritt angeboten wird, daraufhin zu untersuchen ist, ob es wirklich einem guten Leben dient.

Die Verhältnisse in unserer Gesellschaft an den Chancen zu messen, die sie für eine gute Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bietet, ist eigentlich so nahe liegend, denn die Gesellschaft hat allen Grund, die nachfolgende Generation als wertvolles Gut zu betrachten, denn eine Zukunft wird sie nur mit diesen Kindern und Jugendlichen haben.

Dieser Satz meint mehr, als dass eine Gesellschaft ausstirbt, wenn sie keine Kinder mehr hervorbringt – vielleicht genauer: dass sie dahinschwindet, durch eine andere substituiert wird, wenn sie nicht mit Kindern ihre Fortexistenz sicherstellt. Nicht diese richtige, aber triviale Aussage des Aussterbens einer Gesellschaft, in der es keine Kinder mehr gibt, ist gemeint. Vielmehr zielt die Aussage „Zukunft nur mit Kindern“ darauf ab, dass die fundamentale Tatsache der in einer Gesellschaft heranwachsenden Kinder eben dieser Gesellschaft auferlegt, über Rücksichtnahmen und faire Lastenverteilungen im Zusammenleben, über ethische und lebenspraktische Fragen ebenso wie über zukünftige Bedingungen des Lebens dieser Gesellschaft nachzudenken, zu streiten und zu entscheiden. Wenn sie durch solche Auseinandersetzungen nicht dafür sorgt, dass Grundlagen für ein gerechtes, solidarisches, menschenwürdiges Gemeinwesen geschaffen werden, dann wird sie bald nicht mehr sein. Kinder zwingen einer Gesellschaft auf, sich „lebbar“ zu gestalten – jedenfalls einer Gesellschaft, in der man das Gebären zwar kontrollieren, aber nicht befehlen kann.

Ginge es nur um uns, die bereits Lebenden, und darum, die Jahre zu sichern, die uns noch beschieden sind, so könnte eine Gesellschaft nach der Maxime verfahren, die manchmal auch tatsächlich in ironisch-resigniertem Ton zu hören ist: „Für uns reicht es noch!“ Denn ginge es nur um uns, die erwachsenen Generationen, müsste uns nicht sonderlich besorgen, dass hoffentlich für unsere Lebenszeit gerade noch reicht, was sichtlich knapp wird, Erdöl, Kabeljau und Feldhasen; uns kann relativ gleichgültig sein, was genetisch variiert und an Risiken produziert wird – auch wenn es schadet: es wird uns kaum noch treffen, jedenfalls die, die in meinem Alter sind. Schulden künftigen Generationen zu überlassen, wäre kein Thema mehr; jedoch wäre wohl auch niemand mehr zu finden, der noch in langfristige Vorhaben investieren wollte; die Sonne mag noch so krebserzeugend durch das Ozonloch strahlen, der Meeresspiegel steigen – diese Prozesse verlaufen zu langsam, um eine aussterbende Generation allzu sehr zu beunruhigen.

Aus dieser Perspektive wandelt sich auch die Bedeutung der Frage, ob dem einzelnen nicht zugestanden werden müsse, ohne Kinder zu leben. Diese Freiheit muss in der Tat eingeräumt werden, weil Kinder bei Menschen, die ihr Leben nicht mit Kindern teilen wollen, wohl kaum förderliche Bedingungen des Aufwachsens erleben. Das Gedankenexperiment der Gesellschaft, in der keine Kinder mehr nachwachsen, demonstriert jedoch, dass auch diese Menschen, die persönlich ohne Kinder leben, in ihrer Lebensqualität leiden würden, wenn bei fehlender Herausforderung durch nachwachsende Kinder sich die Motivation zur Rücksichtnahme, zu gerechten und fairen Regelungen des Zusammenlebens und zur Planung naturverträglicher, nachhaltiger Entwicklungen schwinden würde, denn diese Herausforderungen und die Reaktionen, die sie stimulieren, tragen wesentlich dazu bei, auch wichtige Bedingungen für das Leben der Kinderlosen zu schaffen. Also sollten auch sie, obwohl sie selber keine Kinder haben, daran interessiert sein, dass es Kinder gibt, und sollten sich folglich in wohlverstandenem Eigeninteresse dafür einsetzen, dass keine vermeidbaren Belastungen das Aufwachsen dieser Kinder beeinträchtigen und die Möglichkeiten der Lebensgestaltung ihrer Eltern einschränken. Auch sie profitieren von Kindern, die der Gesellschaft einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Orientierungsrahmen für ein zukunftssicherndes Handeln auferlegen.

Aber halt: Sind das realistische Überlegungen in Gesellschaften, die auf Leistungssteigerung, Konkurrenz und Gewinn in Form extrinsischer Belohnungen beruhen, auf technologischem Komfort, „gestiltem“ Auftreten, ästhetischer Ausstattung und aufwändigen Reisen? Sozialhistoriker haben oft dargestellt, dass Kinder einst von jungen Jahren an zusätzliche Hände im Bemühen um das physische Überleben einbrachten. Jetzt, da es nicht mehr um physisches Überleben, sondern um sozialen Rang, Marktchancen und Konsum geht, ist die Bedeutung von Kindern offenbar „gekippt“. Nun helfen sie nicht, sondern behindern den Kampf ums Dabei-Sein, Seinen-Teil-Abbekommen, um prestigeträchtige Freizeit, Action und Spaß.

Die Zweifel, ob durch den Hinweis auf die zukunftstiftende Perspektive, die durch Kinder wachgerufen wird, noch irgendetwas in der Gesellschaft zu bewegen ist, werden gesteigert, wenn wir uns daran erinnern, dass selbst Qualitäten unseres Lebens, von deren Wert wohl alle überzeugt sind, mit verantwortlicher Sorge für Kinder unter den derzeitigen Bedingungen schwer zu vereinen sind: Die verlängerten Bildungswege, insbesondere für Mädchen und junge Frauen, eine der großen Errungenschaft der Reformen in den 1960er und 1970er Jahren, verschieben im Rahmen der westdeutschen, nicht der vormaligen DDR-Lebensmuster, wie Uta Meier uns in Erinnerung brachte, die Geburt von Kindern in das mittlere oder gar späte Erwachsenenalter. Der Einstieg in einen Beruf, der gerade wenn er interessant und befriedigend ist, Zeit und Energie aufsaugt, macht die Entscheidung für Kinder und dann das Leben mit ihnen angesichts der für manche Altersgruppen spärlichen familienergänzenden Betreuungsangebote für Kinder schwer.

Auch die Forderung, ein jeder, eine jede möge in größerer Eigenverantwortung seine Beteiligung am Arbeitsleben und sein Auskommen durch eigene Aktivität und Anstrengung sichern, lässt fragen, wie weit diese Ideale moderner Lebensgestaltung denn realisierbar sind, wenn Mann und Frau für Kinder sorgen. Die ständige Weiterbildung, um beruflich vielseitig verwendbar zu sein, und auch die Bereitschaft, immer und überall, am liebsten auf Abruf zur Verfügung zu stehen, stehen in Konkurrenz zur Aufmerksamkeit, zum Gespräch, zur Regelmäßigkeit im Leben mit Kindern. Sind wohl die mit dem werbewirksamen Namen Ich-AGs erfundenen Erwerbsformen familienfreundlich? Oder ist es die so vernünftig klingende Mitverantwortung für die Altersversorgung? Woher soll in den Familien das Geld für eine kapitalbildende Rente angesichts des unabweisbaren Aufwands für Kinder genommen werden?

Vieles, was gesellschaftlich wünschenswert ist und zu Recht vom Gesetzgeber beschlossen wird, trifft wegen des Aufwands und der Kosten den Haushalt von Erwachsenen mit Kindern drei- und mehrfach, wie etwa der so dringende Schutz der Natur, der die im Pro-Kopf-Einkommen ohnehin zurückbleibende Familie durch die Anzahl ihrer Energie- und Wasserverbraucher multiplikativ trifft. Ich weise darauf nicht hin, um ökologische Ansätze zu problematisieren, sondern weil in diesem Beispiel besonders klar ins Auge springt, dass die Erwachsenen-Kinder-Lebensgemeinschaft bei unseren derzeitigen Verfahren, Probleme zu bewältigen, sogar mit den besonders richtigen und wichtigen Zielen einer aufgeklärten Politik verquer liegt.

So leben Erwachsene mit Kindern in einer übergreifenden Struktur, in der sie sich immer wieder gegen Verhältnisse stemmen müssen, weil Bedürfnisse von Kindern und die Lebenslagen von Familien nicht hinreichend in die wichtigen Grundentscheidungen über die Gestaltung dieser Gesellschaft einbezogen werden. Überall und immer wieder wird deutlich, dass das gesellschaftliche Projekt gleicher Lebenschancen für Frauen, Männer, Mädchen und Jungen, von Emanzipation und Partizipation auf halbem Wege stecken geblieben ist. Eltern und Kinder leben in keiner stimmigen Welt.

Ob ein substantieller Familienlastenausgleich und eine Leistungshonorierung, ob familienunterstützende Einrichtungen – Krippe, Kindergarten, Hort, Ganztagsschule – ob lokale Netzwerke und Initiativen, ob geförderte Vereinbarkeit von Familie und Beruf einschließlich fairer Modelle einer Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit, ob intensivere Mitwirkung der Väter und ob vermehrte Anerkennung dessen, was Familien für das Humanvermögen und für Entwicklungsprozesse der Gesellschaft tun, wirklich eine Zukunft mit mehr Kindern hervorbringen wird – wir wissen es nicht; wir können es nur hoffen. Dennoch sind alle diese Schritte notwendig, damit sich die Gesellschaft nicht spaltet in die, die auf ihrer Sonnenseite mit akademischer Ausbildung, spannenden, aber aufzehrenden Berufen und extensiver Teilhabe an Freizeit und den Gütern der Kultur leben, aber kaum mit Kindern, und in die auf ihrer Schattenseite, die unter widrigen Umständen immer noch eine gewisse Zahl an Kindern heranziehen.

Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht hat von der zentralen Aufgabe gesprochen, eine Kultur des Aufwachsens zu schaffen. Diese Forderung, eine Kultur des Aufwachsens zu schaffen, soll nicht die vielen einzelnen Schritte, die nötig sind, abwerten, sondern die Kommission wollte zum Ausdruck bringen, dass sich in der Qualität der gesellschaftlichen Akzeptanz von Kindern etwas ändern müsse. Sie unterstrich, dass es nicht nur auf Paragraphen und Haushaltstitel ankommt, die Kindern etwas geben, ihnen etwas zusichern oder sie schützen. Es gehe auch nicht nur um die Prüfung, in welcher Weise Kinderleben durch Maßnahmen anderer Politikbereiche berührt wird, also ob diese Maßnahmen „kindertauglich“ sind. Es geht vielmehr darum, die Sozialwelt, in der wir leben, vom guten Aufwachsen der Kinder her zu entwerfen.

Ich weiß, dass es auch andere Notwendigkeiten gibt, um die gesellschaftliche Fortexistenz zu sichern. Aber ich will meine Aussage nicht gleich wieder halb zurücknehmen, möchte vielmehr behaupten, dass diejenigen, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse aufmerksam beobachten, längst ahnen, wie zentral die Bedeutung der nachwachsenden Generation für diese Gesellschaft ist. Es ist inzwischen Gemeingut zu erklären, dass wir auf dem Weg in eine Wissensgesellschaft, in eine Bildungsgesellschaft sind. Wissen und Bildung wächst nicht auf dem Acker wie das Korn, gräbt oder bohrt man nicht aus dem Boden wie Eisen oder Kohle, und produziert man nicht mit Maschinen, sondern Wissen und Bildung sind ein prekäres Gut, das immer wieder neu in Kindern und Jugendlichen hervorgebracht werden muss, und zwar nicht allein in Schulen, sondern – ein leider oft überlesenes Ergebnis der PISA-Studie – auch in den familialen und anderen außerschulischen Lebenswelten der Kinder, in denen ihre Neugier, ihre Kreativität, ihre Experimentierfreude, ihre Lern- und Problemlösungsfähigkeiten ermutigt und gefördert werden – oder eben auch nicht.

So stößt die Gesellschaft gerade in den Kindern an eine Grenze ihrer herkömmlichen Problemlösungen, aber auch an eine Herausforderung ihrer Entwicklungsfähigkeit. Sie braucht Kinder nicht nur, damit es weiterhin Mitglieder der Gesellschaft gibt, sondern braucht sie als kompetente, kreative, kooperationsfähige Neubürger und Mitarbeiter. Aus dieser Sicht bekommt das Wort von der Störung, die Kindern zugeschrieben wird, noch einen anderen Sinn. Bisher war von Störungen die Rede, die wir uns zwar weigern, den Kindern anzulasten, die aber auf Lebensverhältnisse hinweisen, die zu ändern sind, rechtliche, ökonomische, betriebliche, kommunale, institutionelle, gesundheitliche, mediale Einwirkungen auf das Aufwachsen, die Entwicklungsrisiken zur Folge haben. In diesem Sinne sind Störungen etwas Negatives, zu Beseitigendes, damit das Zusammenleben mit Kindern erleichtert wird und damit die bereichernden, ko-evolutiven Seiten des Lebens mit Kindern zum Vorschein kommen und nicht die Einschränkungen und entgangenen Lebenschancen.

Es gibt aber auch eine willkommene Störung durch Kinder. Wahrscheinlich war ein Stück weit dieser positive Aspekt des Störens aus meiner Darstellung bereits herauszuhören. Der Blick auf Kinder und ihr Aufwachsen macht in besonderer Weise darauf aufmerksam, dass Lebensverhältnisse nicht stimmig sind. Wenn angesichts der Probleme des Aufwachsens mehr Rücksichtnahme, gesicherte Beziehungen, gerechte Lastenverteilung oder faire Lebenschancen eingefordert werden, dann geschieht dies zunächst im Interesse der Kinder. Aber es wird deutlich, dass sich diese Forderungen nicht nur auf Lebensqualität für Kinder beziehen, sondern auf die Lebensqualität aller. Alle brauchen Rücksichtnahme, gesicherte Beziehungen, gerechte Lastenverteilung und faire Lebenschancen. Die Bedingungen des Aufwachsens halten der Gesellschaft einen Spiegel vor; Kinder sind, wenn man es so bezeichnen will, ein seismographisches Instrument für den humanen Zustand einer Gesellschaft. Solange wir nicht in einer idealen Welt leben, lösen gerade Kinder und die Bedingungen ihrer Entwicklung und Bildung Irritationen und Beunruhigungen aus, die eine Gesellschaft braucht, um sich selber in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne sollten Kinder unsere Gesellschaft tatsächlich nachhaltig stören, sie sollten sie aufstören – sie hat es nötig, damit in ihr nachgedacht und gehandelt wird.

Aber es gibt noch einen weiteren Typ positiver Störung, der an Kindern haftet und der ebenfalls für die Entwicklung einer Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Diese Störung besteht in der Tatsache, dass Kinder immer in irgendeiner Weise anders werden als die Generationen, die ihnen vorangegangen sind. Erik Erikson, einer der Stammväter der Forschung über die lebenslange Entwicklung der Menschen, schrieb einmal über das Verhältnis der erwachsenen Generation zu der nachfolgenden Kinder- und Jugendlichen-Generation, es wäre zu wünschen, die Erwachsenen könnten die heranwachsenden Kinder und Jugendlichen, die „Neuen“, begrüßen mit, wie er es ausdrückte, „wohlgefälligem Erstaunen“.

Tatsächlich entwickeln Kinder und Jugendliche ihre eigenen Prioritäten und Maßstäbe für ihr individuelles und das mit anderen geteilte Leben, denn sie betrachten die Welt und ihr Leben in ihr aus ihrer Perspektive, die naiv ist, aber auch frisch, die unerfahren ist, aber auch nicht mit Kulturpessimismus und Enttäuschungen überfrachtet, der Wissen fehlt, aber die zum Ausprobieren ermutigt. Hier wird Raum für die Wandlungsprozesse der Gesellschaft eröffnet. Damit dennoch Wissenstraditionen nicht abreißen, damit Kultur weitergegeben wird, damit Erinnerungen sowohl an menschliche Katastrophen als auch an die großen Leistungen, die Menschen hervorgebracht haben, nicht verloren gehen, ist es wichtig, dass die Alten und die Jungen in einem wechselseitig anteilnehmenden, vertrauensvollen Verhältnis zueinander stehen. Die Spannung zwischen den beiden Polen, dem alten Bewährten und dem neuen Unerprobten, sollte ko-konstruktiv gestaltet werden können, damit aus der Störung durch das überraschend Neue humanere Lebensformen entstehen können.

Hier schließen sich die Überlegungen, denn diese stimulierende, produktive Wirkung der aufrüttelnden Störung durch die Kinder, durch die Neuen, setzt voraus, dass das Verhältnis der Generationen nicht durch mangelnde Zeit, knappe Ressourcen und eingeschränkte Lebenschancen, durch Unstimmigkeiten aller Art belastet und verdorben wird. Mit anderen Worten: Damit Kinder sinnvoll stören können, müssen wir für Lebensverhältnisse sorgen, die ihr gutes Aufwachsen nicht stören.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle der Deutschen Liga für das Kind erhältlich.

Prof. Dr. Lothar Krappmann ist Honorarprofessor für Soziologie der Erziehung an der Freien Universität und war bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er war Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den Zehnten Kinder- und Jugendbericht.

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