21 Aug fK 1/01 Pommer
Rauchen ist alles was ich habe …
Fallbericht einer Mutter-Kind-Behandlung
von Sabine Pommer-Irmisch
Ich erhalte einen Anruf von der Kinderkrankenschwester des Stadtteils. Sie berichtet mir von einer Mutter mit einem sechs Monate alten Baby. Sie habe starke Fütterprobleme beobachtet sowie Blickvermeidung und aktives Wegwenden des Säuglings in der Esssituation. Außerdem liege gegen die Mutter eine anonyme Anzeige wegen Kindesvernachlässigung vor – die Mutter würde sich mit dem Baby nicht beschäftigen, es liege nur im Bett. Wir verabreden, dass die Kinderkrankenschwester der Mutter Beratungstermine in unserer Einrichtung nahe legen solle.
Wenig später habe ich die Mutter (Frau K.) selbst am Telefon. Wir verabreden einen Termin, zu dem sie pünktlich erscheint, jedoch sichtlich abgehetzt und erregt. Sie wirkt auf mich regelrecht zornig. Das Beratungszimmer ist mit gemütlichen Sitzgelegenheiten, Teppich und Matten sowie kleinkindgerechtem Spielmaterial ausgestattet. Um ihr Kind auszuziehen, stürmt die Mutter auf eine schmale, ungepolsterte Ablage zu. Sie legt das Baby ab und zieht es dort aus. Als ich ihr anbiete, den Säugling auf der Matte am Boden auszuziehen, antwortet sie, dass sie sich kaum bücken könne, da sie ein Rückenleiden habe. Nach dem Ausziehen legt sie es dann doch auf die Matte. Dabei wird ihr unbeholfenes Handling deutlich. Der Kopf des Säuglings fällt schwer auf die Matte. Dem Kind ist keine Reaktion anzusehen. Das Gesicht bleibt unbeweglich und ernst. Mir fällt auf, wie bleich und zart das Baby ist. Seine großen blauen Augen schauen ernst und sind von tiefen dunklen Ringen umgeben.
Ich setze mich spontan zu dem Baby auf den Boden. Frau K. ist überrascht über diese Sitzweise, lässt sich jedoch stöhnend auf der anderen Seite nieder. Sofort beginnt sie zu erzählen, dass Anna nichts trinke. Gefühle der Verzweiflung und Hilflosigkeit tauchen auf. Anna sei ihr erstes Kind. Der Kindesvater habe sie übel im Stich gelassen, deshalb habe sie sich drei Monate nach der Geburt von ihm getrennt. Sie hätte nie Kinder gewollt, aber mit diesem Partner hätte sie es sich vorstellen können.
Einmal habe sie einen Abgang gehabt, gleich zu Beginn dieser Partnerschaft. Nach einem Jahr sei sie gewollt erneut schwanger geworden. Das Ergebnis sei Anna. Aber die sei so „schwer zu nehmen“, „die weiß nicht, was sie will“ und „mich mag sie nicht, denn mich schaut sie nicht an“.
Ich höre enorme Wut und Hass auf den Kindesvater. Erst während der Schwangerschaft habe Frau K. erfahren, dass er bereits Vater von elf Kindern war – für die er keine Verantwortung übernahm. Ein Schock für sie, den sie mit „was sollte ich denn machen, ich konnte es ja nicht ändern“ kommentiert. Nach andauernden Streitereien sei sie im siebten Schwangerschaftsmonat in eine eigene Wohnung gezogen. Bei der Geburt sei der Partner dabei gewesen, anschließend habe er sich zurückgezogen.
„Nach der Geburt wollte ich erst mal eine Tasse Kaffee trinken statt mein Kind zu sehen“, erinnert sich Frau K. Bei den Schwestern der Klinik sei sie nicht gut aufgehoben gewesen. Anna sei ihr nur zum Stillen gebracht worden. Als Stillprobleme deutlich wurden, hätten die Schwestern ungeduldig reagiert und ihr Flaschennahrung nahegelegt. Als frischgebackene Mutter habe sie sich komplett überfordert gefühlt. Als sie realisierte, dass ihr Partner keine Hilfe war, habe sie sich endgültig von ihm getrennt. Die ersten drei Monate habe Anna aufgrund einer Viruserkrankung und wegen ihrer eigenen Überforderung viel im Krankenhaus verbracht.
Während unseres ersten Gesprächs liegt Anna still und reglos zwischen mir und Frau K. Dies löst Beklemmung in mir aus und ich befürchte ein enormes Ausmaß an Deprivation. Ich respektiere, wie sehr die Mutter „Dampf ablassen“ muss, indem sie ihre aktuellen Belastungen kompakt und fast ohne Punkt und Komma darstellt. Da die Mutter auf vorsichtige Kontaktversuche des Babys, wie Hinwenden des Kopfes, nicht reagiert entscheide ich mich, in dieser Situation als Modell zu fungieren und das Baby anzusprechen.
Anna reagiert sofort und wendet sich mir mit intensivem Blickkontakt zu. Nach einer Weile beginnt sie zu lächeln und zu strampeln. Sie zeigt großes Verlangen, fast Gier nach Zuwendung. Die Mutter beobachtet mich eindringlich.
Als Anna hungrig ist, wird sie von Frau K. gefüttert: sie liegt am Boden, die Mutter setzt sich eine Armlänge entfernt daneben und steckt der Kleinen mit durchgestrecktem Arm die Flasche in den Mund. Anna saugt nur kurz, dann verweigert sie. Die Mutter ist genervt und verzweifelt. Ich spüre mein Entsetzen über die Beziehungslosigkeit von Mutter und Kind.
Ich bitte Frau K., die Möglichkeit einer Videoaufnahme zu nutzen. Sie erklärt sich einverstanden, da sie die Vorstellung, ihr Kind im Fernsehen zu sehen, als sehr motivierend empfindet. Wir nehmen eine Spielsituation im Babysitz auf. Die Mutter handelt überstimulierend, jedoch emotional warm. Sie drückt Anna Spielsachen ins Gesicht mit dem Ziel, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
Anna äußert deutliche Überforderungssignale: sie wendet sich aktiv weg und vermeidet Blickkontakt. Erst in der „Still-face-Situation“ (die Mutter blickt mit ausdrucksloser Miene am Säugling vorbei) wendet sie sich der Mutter zu und versucht ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Als die Mutter sich ihr dann erneut zuwendet, entsteht Blickkontakt mit wechselseitiger stimmlicher Interaktion. Diese kleine Sequenz nehme ich als Ausgangspunkt für eine Intervention. In der Videobesprechung wird der Mutter anhand dieser Sequenz deutlich, dass Anna Kontakt zu ihr sucht und auch für Momente halten kann. Die Angst, dass Anna sie ablehnt, schrumpft angesichts der Freude und dem „Strahlen“ in der gemeinsamen, gelingenden Begegnung. Diese Momente sind später der Fels in der Brandung, den die Mitarbeiterinnen unserer Einrichtung nutzen, um die intuitiven Kompetenzen der Mutter zu unterstützen.
Stationen der Behandlung
In den ersten Monaten der fast täglichen Begleitung erhält Frau K. konkrete Anleitung im Handling des Babys (Waschen, Nägel schneiden usw.) und in der Füttersituation. Mutter-Kind-Dialoge und Spielsituationen werden unterstützt. Nach und nach lernt die Mutter, die Signale ihres Kindes adäquater zu verstehen.
Es finden regelmäßige Videoaufzeichnungen des Mutter-Kind-Spiels und der Füttersituation statt, die sofort mit der Mutter besprochen werden. Frau K. lernt in dieser Zeit
- das Wegwenden des Kindes nicht als persönliche Ablehnung zu verstehen, sondern als
„liebe Mama, warte mal einen Moment, jetzt gerade kann ich dir nicht mehr zuhören“ - das Strampeln während des Wickelns als entwicklungsgerechtes motorisches Muster statt als „sie will mich schlagen und lacht noch dazu“ oder als „Zerstörungswut“ zu begreifen
- das Baby auf das, was passieren wird, vorzubereiten, anstatt z.B. plötzlich mit einem Waschlappen das Gesicht zu reinigen
Wir bemuttern die Mutter, indem wir ihr ganz konkrete Hilfe zukommen lassen. In Momenten der Überforderung nehmen wir ihr die Kleine ab und versorgen sie stellvertretend (Prinzip der „geteilten Verantwortung“). Wir nehmen die Mutter in ihren Bedürfnissen ernst und erreichen, dass sie Selbstwirksamkeit erlebt. Dadurch stabilisiert sich ihr Selbstwertgefühl.
Nach vierwöchiger Behandlung in der Gruppe hören wir: „Anna hat mich angeschaut und gelächelt. Und ich dachte immer, sie würde mich nicht mögen.“ Nach sechs Wochen: „Ich glaube, wenn mit meinem Kind was wäre, ich tät´ wieder zu saufen anfangen.“
Anfänglich konkurriert die Mutter in ihrer Bedürftigkeit mit den Bedürfnissen des Babys. Sie kann das Baby z.B. nicht füttern, wenn sie selbst noch hungrig ist. Nach Ablauf von ca. einem Jahr sind die Grundbedürfnisse der Mutter nach Anerkennung, Geborgenheit, Bindung, Autonomie, Selbstwirksamkeit soweit befriedigt, dass ihr zunehmend ein Perspektivenwechsel gelingt und sie Anna in ihrer kindlichen Bedürftigkeit sehen kann.
Sehr positiv gestaltet sich der Aufbau der Bindung. Anna vermeidet anfangs Körperkontakt zu ihrer Mutter, sucht ihn jedoch zunehmend aktiv. Zunächst nur als Möglichkeit, Trost zu erhalten, dann auch, um zu schmusen. Diese Entwicklung berührt Frau K. sehr und stärkt ihr Selbstwertgefühl als Mutter.
Resümee nach zweieinhalb Jahren
Nach zweieinhalb Jahren Behandlung im KindErleben ist Anna heute ein fröhliches, willensstarkes kleines Mädchen mit strahlenden Augen. Sie vermittelt einem den Eindruck, dass sie wirklich etwas vom Leben will. Sie hat große Ausdauer im Spiel und eine hohe Konzentrationsfähigkeit entwickelt. Feinmotorisch ist sie ihrer Altersgruppe voraus. In Stresssituationen, wenn sie z.B. ihren Willen nicht durchsetzen kann, reagiert sie mit schrillem Schreien. Die Mutter versteht inzwischen, dass Anna sie damit herausfordert, klar und eindeutig zu handeln.
Frau K. hat eine liebevolle, tragende Beziehung zu Anna aufgebaut sowie eine gute alltägliche Versorgung. Sie ist nun in der Lage, Stress besser zu bewältigen und zeigt weniger Panikreaktionen. Auch bei Krankheiten des Kindes kann sie die Zeit mit dem Kind genießen. Sie hat ihre Rolle als Mutter angenommen und organisiert ihren Alltag um die kindlichen Bedürfnisse herum. Ihre eigenen Bedürfnisse konkurrieren nicht mehr in einem so hohen Ausmaß mit denen ihrer Tochter. Zwischen Mutter und Kind hat sich eine sichere Bindung etabliert.
Sabine Pommer-Irmisch ist Psychologin und Mitarbeiterin in der entwicklungstherapeutischen Einrichtung KindErleben des Wichern-Zentrums in München
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