21 Aug fK 1/01 Barth
Hilfe für Eltern mit exzessiv schreienden Säuglingen durch „Baby-Lese-Stunden“
von Renate Barth
Ein Baby zu bekommen ist für Eltern mit vielen Hoffnungen und Wünschen verbunden. Mütter und Väter wollen in der Regel gute Eltern sein und haben meist klare Vorstellungen, was darunter zu verstehen ist: Wenn die eigene Kindheit überwiegend positiv besetzt ist, orientieren sie sich üblicherweise daran, wie ihre Eltern mit ihnen umgegangen sind. Überwiegen schmerzhafte Erinnerungen, besteht der Wunsch, es besser zu machen.
Es ist eine große Enttäuschung, wenn das Baby auf die bemühten Angebote der Eltern nicht in gewünschter Weise eingeht, sondern lange Phasen hat, in denen es quengelt oder schreit. Über solches exzessive Säuglingsschreien klagen 15-25% aller Eltern. Es handelt sich dabei um unstillbar erscheinende Unruhe- und Schreiphasen in den ersten 3-6 Lebensmonaten, die ohne ersichtlichen Grund im Kontext physiologischer Reifungs- und Adaptationsprozesse bei einem ansonsten gesunden Säugling auftreten. Abzugrenzen vom exzessiven Schreien der ersten Lebensmonate (den sogen. Regulationsstörungen) sind Unruhe- und Schreizustände jenseits des ersten Lebenshalbjahres, da sie andere ätiologische Hintergründe haben.
Typischerweise gehen Eltern von Schreibabys weit über die Grenzen ihrer Belastbarkeit, um den vermeintlichen Bedürfnissen ihres Kindes gerecht zu werden, meist ohne anhaltenden Erfolg. Sie sind völlig am Ende ihrer Kräfte und fühlen sich hilflos und verzweifelt; nicht selten kommt es zu heftigen Partnerschaftskonflikten. Häufig haben sie aggressive Gefühle gegenüber dem Kind. In extremen Fällen schreien sie es aus Überforderung heraus an oder schütteln es. Dies ist von heftigen Schuldgefühlen und Wiedergutmachungsbemühungen gefolgt. Aufgrund seiner biologischen Unreife kann das Baby selbst nichts an der Situation ändern: Es vermittelt sein Befinden über verbale und nonverbale Signale und braucht dann andere (in der Regel die Eltern), die diese entschlüsseln und adäquat beantworten. Dieser Kommunikationsprozess ist bei Eltern mit Schreibabys beeinträchtigt, so dass die Kinder ihr Leben mit der Erfahrung beginnen, in ihren Bedürfnissen häufig nicht richtig verstanden zu werden.
Auf diesem Hintergrund werden Eltern, die wegen Schreiproblemen ihrer Babys um Behandlung nachsuchen, in der Beratungsstelle „MenschensKind“ zunächst zu einer „Baby-Lese-Stunde“ eingeladen. Ihnen wird bei der telefonischen Anmeldung gesagt, dass das Schreien eine Kommunikationsform ihres Kindes ist, die es – wie andere Äußerungen auch – zu entschlüsseln gilt. Erst wenn Eltern die „Sprache“ ihres Babys verstehen, so die Erläuterung, können sie etwas Spezifisches tun, um ihrem Kind zu helfen. Beide Eltern werden dann mit dem Baby zu einer zweistündige Sitzung einbestellt. Dabei wird der Termin in eine Zeit gelegt, in der die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind „aus vollem Halse“ schreit, hoch ist. D.h. in dieser Behandlungsform ist das exzessive Schreien kein unerwünschtes Nebenprodukt, das die Behandlung stört, sondern ein Verhaltenszustand, der ausdrücklich in Erscheinung treten soll, denn nur, wenn das Babys das für die Eltern schwierige Verhalten zeigt, kann im Hier und Jetzt des Beratungskontextes ein anderer Umgang damit geübt werden.
Eine wesentliche theoretische Grundlage dieser Sitzungen ist das der Bindungstheorie entlehnte Konzept der elterlichen Feinfühligkeit. Dabei geht es darum, die kindlichen Signale a) frühzeitig zu bemerken und b) richtig zu interpretieren, um sie dann c) angemessen und d) prompt zu beantworten. Das Verstehen und Beantworten der kindlichen Äußerungen ist jedoch nicht immer leicht und kann die intuitiven elterlichen Fähigkeiten auf eine große Probe stellen. Dies ist insbesondere der Fall bei hypersensiblen, schwer tröstbaren Babys mit geringen selbstregulativen Fähigkeiten. Sie fangen häufig von einer Minute zur anderen an zu schreien, ohne dass es den Eltern möglich ist, die Signale zu verstehen oder beruhigend auf ihre Säuglinge einzuwirken. „Angesichts derart extremer Babys entwickeln die Eltern leicht das Gefühl, ausgeschlossen und zu nichts nutze zu sein. Wenn ihnen niemand hilft, ihr Baby zu verstehen, kann die zukünftige Interaktion durchaus in Gefahr geraten“. Diesem Gedankengang folgend wird der Verständigungsprozess zwischen Eltern und Kind, der üblicherweise intuitiv vonstatten geht und wenn alles gut läuft, auch nicht gestört werden sollte, in den „Baby-Lese-Stunden“ auf bewusster Ebene durchgeführt.
Die klinischen Erfahrungen zeigen, dass ein bis zwei „Baby-Lese-Stunden“ zu einer deutlichen Entspannung der Symptomatik führen können. Eine vollständige Besserung ist bei vielen Babys aufgrund der reifungsbedingten Anteile des exzessiven Schreiens in den ersten Lebensmonaten nicht zu erwarten. Die Behandlungerfahrungen liefern eine klinische Bestätigung des in jüngerer Zeit postulierten Zusammenhangs zwischen exzessivem Schreien und Problemen der Schlaf-Wach-Organisation dieser Kinder. D.h. viele Babys schreien, weil sie übermüdet sind und nicht einschlafen können oder nach kurzer Zeit aufwachen, weil ihnen der Übergang in den Tiefschlaf nicht gelingt. Deshalb liegt der Schwerpunkt in den „Baby-Lese-Stunden“ zunächst meist darauf, die Fähigkeiten der Babys, ein- und über einen längeren Zeitraum hinweg durchzuschlafen, zu verbessern. Gelingt dies, berichten die Eltern in den Folgesitzungen häufig auch von befriedigenderen Spielinteraktionen im Wachzustand. Manchmal wird in den „Baby-Lese-Stunden“ jedoch auch deutlich, dass Eltern die „kostbaren“, weil bei jungen Babys so kurzen Zeiten wacher Aufmerksamkeit nicht erkennen und/ oder diese Zeit nicht ausreichend für lustvolles gemeinsames Spiel nutzen. Es wird dann überlegt, woran das liegen könnte, und neue Interaktionsformen werden in der Behandlung geübt. Eine solche verbesserte Kommunikation im Wachzustand kann ebenfalls einen positiven Einfluss auf die Schlaforganisation der Babys habe.
Bei einem Teil der Familien wird schnell deutlich, dass „Baby-Lese-Stunden“ allein nicht zur Problemlösung führen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn innere elterliche Konflikte einer realitätsangemessenen Interpretation der kindlichen Signale im Wege stehen oder wenn sofort eine negative Übertragung entsteht. Für solche Familien könnten psychotherapeutisch orientierte Verfahren wie die Eltern-Säuglings-Psychotherapie erfolgversprechend sein. Liegt eine Kumulation psychosozialer und medizinischer Risikobedingungen vor, muss die Einbeziehung anderer Institutionen und Berufsgruppen erwogen werden.
Die Attraktivität von „Baby-Lese-Stunden“ besteht darin, dass sie ein niedrigschwelliges Behandlungsangebot sind. Wenn Eltern erfahren, dass es dabei zunächst nur darum geht, herauszufinden, was das Kind mit seinem Quengeln und Schreien eigentlich zum Ausdruck bringen möchte, um daraus dann elterliche Interventionen abzuleiten, sind sie in der Regel sehr angetan. Ein solches, sich an den kindlichen Signalen orientierende Vorgehen steht in deutlichem Gegensatz zu den verbreiteten unspezifischen Beruhigungsbemühungen, wie ein Baby, das quengelt oder schreit, immer zu stillen/ füttern, herumzutragen, mit dem Fön zu bepusten oder im Kinderwagen bzw. Auto spazierenzufahren. Typisch für solche Strategien ist, dass das Kind keine spezifischen, d.h. adäquaten Antworten auf seine Äußerungen bekommt. Wie soll es z.B. verstehen, dass es mit einem Fön bepustet wird, wenn es doch eigentlich hungrig oder müde ist?
Ein Hinweis für die hohe Akzeptanz von „Baby-Lese-Stunden“ kann darin gesehen werden, dass inzwischen fast 30% der Klientel von „MenschensKind“ aus Eltern mit exzessiv schreienden Säuglingen bis zu 4 Monaten besteht. Dieses Erreichen von Familien zu einem so frühen Zeitpunkt hat einen hohen therapeutischen als auch präventiven Wert.
Renate Barth ist psychologische Psychotherapeutin und Gründerin der Beratungsstelle „MenschensKind“ für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern in Hamburg
Ausführliche Beschreibung der „Baby-Lese-Stunden“:
Barth, R. 2000, „Baby-Lese-Stunden“ für Eltern mit exzessiv schreienden Säuglingen – Das Konzept der „angeleiteten Eltern-Säuglings-Übungsstunden“, in: Praxis Kinderpsycholog. Kinderpsychiat. 49: 537-549
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