fK 2/01 Salgo

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Berücksichtigung der Meinung des Kindes

(Art. 12 UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes)

von Ludwig Salgo

Am 16.05.2001 hat die Bundesregierung den 2. Staatenbericht zur Umsetzung der UN- Kinderrechtskonvention endlich verabschiedet. Der Termin zur Abgabe dieses Berichts war der 5. April 1999. Diese Verspätung wird nunmehr von der Bundesregierung mit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 sowie mit der politischen Diskussion um die Rücknahme der deutschen (Vorbehalts-)Erklärung, die anlässlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgegeben worden war, entschuldigt. Der Anwärterstaat Bundesrepublik Deutschland auf einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann sich eine über zweijährige Verspätung mit einer solchen Entschuldigung kaum leisten, insbesondere dann nicht, wenn diese politische Diskussion trotz Entschließung des Parlaments an die Adresse der Bundesregierung nicht zur Rücknahme der erwähnten Erklärung geführt hat, obwohl selbst die Regierung im Bericht zur Einschätzung gelangt, „dass es aus heutiger Sicht nicht notwendig gewesen wäre, die deutsche Erklärung abzugeben“. Eine solche Verspätung lässt nichts Gutes ahnen, trotz mannigfacher verbaler Bekenntnisse zur Bedeutung der Kinderrechte.

Da sich dieser Beitrag auf Art. 12 des UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes konzentriert, kann auch nur insoweit auf den 2. Staatenbericht der Bundesrepublik eingegangen werden. Anlässlich der Verabschiedung dieses Berichts erklärte Bundesministerin Bergmann u.a.: „Ein weiteres Schwergewicht [der Bundesregierung] wird auf der Partizipation liegen. Denn von der Frage , wie wir Kinder an Entscheidungen in ihrem Lebensumfeld beteiligen, hängt die Zukunft unserer Demokratie ab“. Immerhin anerkennt die Bundesregierung in diesem Bericht, dass hinsichtlich der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in zahlreichen Lebensbereichen ein deutlicher Handlungsbedarf besteht: „Die neue Bundesregierung hat sich den Ausbau der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als prioritäres Ziel gesetzt“. Insgesamt fällt die regierungsamtliche Einschätzung hinsichtlich bereits verwirklichter Kindesbeteiligung in Deutschland recht positiv aus. Dies kontrastiert mit zahlreichen Evaluationen und Praxisberichten, die keineswegs nur solche positiven Rückmeldungen verzeichnen. Zwar ist die Liste der Bundes-, Länder- und Kommunalaktivitäten im Zweitbericht beeindruckend: „Immer mehr [Bundes-] Länder gehen dazu über in ihre Ausführungsgesetzte zum SGB VIII sowie in weitere Gesetze „partizipatorische Elemente aufzunehmen“. Ob und wie über diesen wichtigen ersten Schritt gesetzlicher Verankerung solcher Elemente im SGB VIII hinaus „Partizipation„ wirklich geschieht, ist angesichts der Personalressourcen in Ländern und Gemeinden eine andere Frage. Partizipation ist nämlich nirgends umsonst zu haben. In der Diskussion um Kinderrechte, insbesondere um Kinderbeteiligung wird dieser Schlüsselaspekt ihrer Verankerung und Fortentwicklung nur allzu gerne vernachlässigt: Immer ist es noch billig für die Politik über Kinderrechte und Partizipation zu reden.

Nationale wie völkerrechtliche Bemühungen konzentrieren sich in den letzten Jahren zunehmend auch auf die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte von Kindern und Jugendlichen in gerichtlichen, aber zunehmend auch in behördlichen Verfahren – überhaupt auf Partizipation von Kindern und Jugendlichen auf allen Ebenen. Auf nationaler Ebene ist hier einerseits die längst überfällige Wahrnehmung von Minderjährigen als Rechtssubjekte und die Zurückweisung des hergebrachten Standpunktes, welcher Minderjährige allzu gerne als Gegenstand fürsorglicher Besorgnis ansah, zu vermelden. Dies hat bereits Rückwirkungen auf zivilgerichtliche Kindesschutzverfahren: Hier ist mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) der Verfahrenspfleger (§ 50 FGG) eingeführt worden. Über „Kinderkrankheiten“ und Implementationsdefizite dieser neuen Rechtsfigur, aber auch über beachtliche fachpolitische und wissenschaftliche Entwicklungen gibt es Bemerkenswertes zu vermelden: Einerseits haben führende Wohlfahrtsverbände und andere Träger beachtliche Weiterbildungsangebote zur Verfahrenspflegschaft entwickelt, andererseits haben sich bislang über 100 Verfahrenspfleger(innen) zur BAG Verfahrenspflegschaft zusammengefunden und bereits Standards für Verfahrenspfleger(innen) verabschiedet. Maud Zitelmann hat mit ihrer Arbeit „Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht“ maßgebend in die fachliche und fachpolitische Debatte eingegriffen. Es zeichnet sich bereits ab, dass zunehmend – und meines Erachtens zu Recht – auch für die kinder- und jugendbehördlichen Verfahren eine eigenständige, unabhängige – hoffentlich der herausfordernden Aufgabe gewachsene – Interessenvertretung gefordert wird. Hinter diesen Entwicklungen stehen einerseits früher bestrittene, inzwischen erkannte und anerkannte Defizite der Wahrnehmung des Kindes, seiner Stimme, seiner Rechte und Interessen in gerichtlichen und behördlichen Verfahren. „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ wäre in der Diktion des BVerfG diese Entwicklung zu bezeichnen. Völkerrechtlich stoßen wir auf eine ganz ähnliche Entwicklung:
Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes:
(1)    Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
(2)    Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch ­einen Vertreter oder geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.

Bedeutung und Reichweite

Die UNICEF (United Nations Children´s Fund) hat im Jahre 1998 ein Implementationshandbuch herausgegeben, welches insbesondere sich auf positive wie negative Beispiele in den Erstberichten (Art. 44 Abs. 1a) aus zahlreichen Ländern an den Ausschuss für die Rechte des Kindes (Art. 43) stützt. Auf die wertvollen Hinweise aus diesem, wohl aus Kostengründen bisher leider nicht auf deutsch vorliegenden, Implementationshandbuch wird Bezug genommen. Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes gilt als ein Grundsatz von fundamentaler Bedeutung für die Implementation aller Aspekte der UN-Konvention über die Rechte des Kindes; er gilt aber zugleich als eine der größten Herausforderungen an die Staatengemeinschaft. Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes umfasst ein sehr weites Feld, keineswegs nur etwa richterliche Anhörungen oder behördliche Entscheidungen, und keineswegs nur förmlichen Entscheidungen, die das Kind berühren wie etwa im Schul-, Gesundheits-, Planungs- und Umweltbereich. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes betont immer wieder, dass das Kind ein aktives Subjekt von Rechten ist. Art. 12 muss im Zusammenhang mit dem Recht des Kindes auf freie Meinungsäußerung (Art. 13), auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14) sowie dem Recht des Kindes, sich frei mit anderen zusammenzuschließen und sich friedlich zu versammeln (Art. 15), gesehen werden. Damit wird der Status von Kindern als Individuen mit Menschenrechten, mit eigenen Sichtweisen und Gefühlen hervorgehoben. Art. 12 räumt dem Kind zwar nicht das Recht zur Selbstbestimmung ein, vielmehr postuliert es das Recht des Kindes, in Entscheidungsprozesse einbezogen zu werden. Damit stellt die UN-Konvention klar, dass der Sichtweise des Kindes eine zentrale Bedeutung zukommt. Dieser Grundsatz muss aber mit dem in Art. 3 Abs. 1 festgelegten Grundsatz gesehen werden: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Nach der UN-Konvention kommt folglich sowohl dem „Wohl des Kindes“ sowie seiner Meinung, also seinem „Willen“, seinen „Willensäußerungen“ jeweils eine zentrale Bedeutung zu. Das Wohl des Kindes ist Schutzgegenstand der Konvention wie im innerstaatlichen Recht Schutzgegenstand der kindschaftsrechtlichen Generalklausel in § 1666 BGB, weil das Kind zu einer Selbstbestimmung seiner Interessen rechtlich nicht in der Lage ist und deshalb sein objektiv bestimmtes „wohlverstandenes Interesse“ in den Vordergrund tritt. Kindesschutz dient ja letztendlich der Wahrung der Grundrechte des Kindes und seiner Entwicklung zu einer selbständigen, eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Dann kann aber der subjektive Wille des Kindes bei der Konkretisierung seines Wohls nicht unberücksichtigt bleiben. Kindern wird so die Möglichkeit geschaffen, Entscheidungen zu verstehen, auch wenn diese anders ausfallen, als sie es sich gewünscht hätten. Nur so werden Kinder zu aktiven Partnern, mit entsprechend sich entwickelnden Fähigkeiten zur Beteiligung. Die Konvention geht in den Art. 5 und 14 vom Recht des Kindes auf Entwicklung aus und respektiert damit die wachsende Fähigkeit des Kindes zur Selbstbestimmung und Eigenentscheidung. Einzelne spezifische Bestimmungen des UN-Übereinkommens sehen eigens das Recht des Kindes vor, gehört zu werden: Bei Trennung des Kindes von seinen Eltern, im Rahmen von Adoptionsverfahren; bei seiner Inhaftierung ist zusätzlich zu diesem Anhörungsrecht dem Kind das Recht auf einen rechtskundigen Beistand und das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung seiner Inhaftierung eingeräumt.

Aktivitäten zur Umsetzung

Art. 12 des UN-Übereinkommens hat für alle Lebensbereiche von Kindern Bedeutung, denn überall soll sichergestellt sein, dass das Kind sich frei äußern kann, dass die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt wird: in der Familie, in der Schule und Vorschule, in allen gerichtlichen und behördlichen Verfahren, in allen Institutionen, in denen Kinder untergebracht sind. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes erwartet von den Einzelstaaten eine Vielzahl von nachweisbaren Aktivitäten, um das Bewusstsein in den Familien wie in der Öffentlichkeit zu stärken, damit Kinder überall ermutigt werden, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auch tatsächlich auszuüben. Mit Kindern arbeitende Fachkräfte sollen entsprechend aus- und fortgebildet werden, damit sie es lernen, den Standpunkten der Kinder bei den zu treffenden Entscheidungen ein angemessenes Gewicht zu geben. In Ausbildungsprogramme über die Entwicklung von Kindern möchte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes u.a. nachfolgende Professionelle einbezogen sehen: Richter, insbesondere Familien- und Jugendrichter, Bewährungshelfer, Polizisten, Vollzugsbeamte, Lehrer, Mitarbeiter aus den ­Gesundheitsdiensten. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes erwartet, dass die Einzelstaaten Nachweise über entsprechende curriculare Anstrengungen zur Umsetzung von Art. 12 in den Aus- und Fortbildungseinrichtungen führen: an den juristischen, psychologischen, soziologischen und medizinischen Fakultäten, an den Lehrerausbildungsinstitutionen, an Ausbildungseinrichtungen der Polizei, Sozialarbeit, Sozialpädagogik und in der Erzieherausbildung. Der Zweitbericht versucht den Eindruck zu erwecken, als ob alle zuständigen Richter und Richterinnen sowie Staatsanwälte und Staatsanwältinnen bundesweit an einschlägigen Fortbildungsveranstaltungen zur Kindesanhörung teilnehmen. Dieser Eindruck täuscht erheblich. Erstens ist die Teilnahme an solchen Veranstaltungen freiwillig, zweitens deckt das minimale Angebot bei weitem den Fortbildungsbedarf hier nicht ab.

Wie ängstlich zuweilen die Politik im Bereich von Kinderrechten, trotz gegenteiliger verbaler Bekundungen, agiert, ließe sich an einem jüngsten Beispiel aus Hessen veranschaulichen: So sollte z.B. meines Erachtens in Hessen jedem in einer stationären Einrichtung aufgenommenem Minderjährigen bei der Aufnahme die jeweils neueste Fassung des Erlasses des Hessischen Sozialministers über die „Grundrechte und Heimerziehung“ gegen Unterschrift ausgehändigt werden. Zwar liegt nunmehr wohl eine aktualisierte Fassung dieses bereits aus dem Jahre 1972 stammenden, bereits damals weit in die Zukunft weisenden Dokuments vor, meines Wissens konnte man sich zu dem von mir vorgeschlagenen Weg bis heute nicht durchringen. Das zuständige Hessische Sozialministerium ist noch nicht einmal bereit, die im Wege des Beschlusses durch den Landesjugendhilfeausschuss vom 10.11.2000 angenommene Neufassung der „Grundrechte und Heimerziehung“ durch Erlass im Staatsanzeiger erneut zu veröffentlichen. Man muss schon froh sein, dass der nach wie vor gültige Erlass von 1972 nicht zurückgenommen wird. Ich frage mich, wer hat denn wovor Angst?! Selbstverständlich sollte hier nicht nur dieser Erlass, sondern auch die UN-Konvention über die Rechte des Kindes in einer für Kinder und Jugendliche verständlichen Fassung ausgehändigt werden. Meines Wissens ist bis heute curricular durch die Kultusminister der Länder nicht sichergestellt, dass die UN-Konvention über die Rechte des Kindes zum Pflichtunterrichtsgegenstand an allen Schulen und in verschiedenen Alterstufen gehört.

Motivierung der Kinder

Die Fähigkeit, Kinder zu Meinungsäußerungen zu motivieren, sie einzubeziehen und sie zu verstehen, setzt selbstverständlich das Vorhandensein entsprechender Kompetenzen und Zeitreserven voraus. Es macht keinen Sinn, z.B. die Verpflichtung zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im KJHG überall vorzusehen ohne entsprechende Ausbildung der Fachkräfte und ohne entsprechende Zeitressourcen und räumliche Gestaltung. Hier muss sich in der Haltung der Fachkräfte und bereits im Rahmen ihrer entsprechenden Qualifikation, der Organisation, der zeitlichen, räumlichen und personellen Rahmenbedingungen vieles verändern. Die politischen und für den Haushalt verantwortlichen Gremien und die Leitungsebenen der Sozial- und Jugendbehörden, der Justiz u.v.a. tragen die Verantwortung für die zeitgemäße Ausstattung, damit Beteiligung tatsächlich auch verwirklicht werden kann.

Die Reichweite der von Art. 12 umfassten Bereiche ist bewusst sehr weit gefasst worden: „alle das Kind berührenden Angelegenheiten“. Es fällt schwer, Bereiche in der Familie, der Schule, der Gemeinde, der Region, der nationalen wie internationalen Entscheidungsfindung zu benennen, die Kinder nicht berühren. Deshalb ist es auch nicht möglich, mit Listen oder Fallkatalogen die Bereiche abschließend aufzuzählen. Kinder sollen von Kindesbeinen an, also bereits in ihren ersten Jahren, ermutigt werden, am kulturellen Leben in ihren Gesellschaften teilzunehmen. Aus den Erstberichten vieler Länder, armen wie reichen, wird deutlich, welche Herausforderung in Art. 12 steckt. Kinder sind herausragende und verlässliche Erkenntnisquellen für Spielplatzgestaltung, Unfallverhütung, Hilfeplanung, Gerichtsentscheidungen usw. Ihre Beteiligung qualifiziert nicht nur die Entscheidung. Die Beteiligung von Kindern an Entscheidungsprozessen stärkt sie in ihrer Identitätsfindung, in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer wachsenden Selbständigkeit. Es ermutigt sie, sich einzubringen und gibt ihnen das Gefühl, doch einen gewissen Einfluss auf die anstehenden Entscheidungen auch in für sie schwierigen Situationen zu haben. Sofern Kinder an Entscheidungsprozessen beteiligt waren, entstand bei ihnen das Gefühl, dass es um „ihre“ eigene Sache geht, sie waren unter solchem Umständen eher bereit, auch emotional auf einen positiven Ausgang zu setzen und dafür auch ihrerseits zu „investieren“; unter solchen Voraussetzungen zustande gekommene Hilfepläne führen weit häufiger zum Erfolg als solche ohne Kindesbeteiligung. Immer wieder hat sich gezeigt, dass selbst dann, wenn die Beteiligung des Kindes nicht zum von diesem bevorzugten Ergebnis geführt hat, die Kinder dennoch mit positiven Gefühlen auf diese Verfahren und Entscheidungen zurückblicken, weil sie mit Respekt behandelt worden waren. Es existieren vielfältige Möglichkeiten, Kinder in Entscheidungsprozesse einzubeziehen ohne die Verantwortung für die schließlich anstehende Entscheidung auf sie abzuwälzen. Immer wieder führte die Einbeziehung von Kindern bei Erwachsenen, bei freien und öffentlichern Trägern der Jugendhilfe und bei Gerichten u.v.a.m. zu einem flexibleren Denken und Handeln und vor allem dazu, dass gerade durch die Beteiligung der Kinder sich eine Vielzahl von Perspektiven im Rahmen der Entscheidungsfindung eröffneten, die zuvor nicht im Blickfeld waren.

Die Intention von Art. 12 geht davon aus, dass die Sichtweise und die Meinung des Kindes stets ein relevanter Faktor bei allen es betreffenden Entscheidungen ist, so dass ohne entsprechende Einbeziehung der Kinder die getroffenen Entscheidungen einen unheilbaren Mangel tragen. Einzelne Oberlandesgerichte in Deutschland haben, sofern entsprechende Verfahrensfehler an sie überhaupt herangetragen worden sind – z.B. dass die Kinder trotz entsprechender gesetzlicher Vorgaben (§ 50b FGG) von den zuständigen Familien- und Vormundschaftsrichtern nicht angehört worden waren – , die Entscheidungen wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels für ungültig erklärt und aufgehoben. Dennoch „werden von den zuständigen Gerichten von den drei- bis neunjährigen Kindern weniger als die Hälfte und von den älteren Kindern und Jugendlichen nur ca. drei Viertel persönlich angehört“. Diese wesentlichen Verfahrensverstöße werden in der weitüberwiegenden Mehrzahl der Fälle von niemandem gerügt. Einzelne Obergerichte haben auch, wenn die Verfahrenspflegerbestellung gem. § 50 FGG unterblieb und hierfür auch keine oder keine überzeugende Begründung gegeben worden war, das nicht hingenommen. „Die Einführung des Verfahrenspflegers für die Minderjährigen ist ein Zeichen dafür, dass dieses Vollzugs- und Kontrolldefizit vom Gesetzgeber erkannt wurde und als tendenziell nachteilig für die betroffenen Kinder und Jugendlichen angesehen wurde“.

Keine Altersstufen

Die Konvention setzt in Art. 12 bewusst keine untere Altersgrenze: Dieser Artikel gilt für das Kind, „das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden“. Die Konvention geht davon aus, dass Kinder bereits in einem frühen Lebensalter im Stande sind, sich eine Meinung zu bilden, und unterstützt hier die Einführung von festgelegten Altersstufen bewusst nicht. Für beeinträchtigte Kinder mit Artikulations-, Seh- und Sprachstörungen müssen besondere Anstrengungen unternommen werden, damit auch für sie Art. 12 zum Tragen kommt. Traditionell werden Mädchen noch geringere Beteiligungsrechte eingeräumt als Jungen, obwohl ihnen die gleichen Mitwirkungsrechte zustehen. Soweit echte Sprachbarrieren bestehen, ist ein Übersetzer hinzuzuziehen (für Strafverfahren vgl. Art. 40 Abs. 2 a VI).

Besonderes Gewicht legt der Ausschuss für die Rechte des Kindes auf die Errichtung von effektiven Beschwerdemöglichkeiten für Kinder als einen wesentlichen Teil der Erfüllung der Standards aus Art. 12. Kinder sind wegen ihrer strukturellen Unterlegenheit weit mehr als Erwachsene auf den leichten Zugang zu solchen Beschwerdemöglichkeiten hinsichtlich aller Aspekte ihrer Lebensbedingungen angewiesen. Dies gilt ebenso für die Bedingungen in ihren Familien wie bei Fremdplazierung in Heimen oder Pflegefamilien oder in anderen Einrichtungen wie z.B. der Schule. Solche Beschwerdeverfahren müssen von Kindern auch ohne Zustimmung der jeweils für sie Verantwortlichen in Gang gebracht werden können. Hierüber müssen Kinder frühzeitig informiert werden. Beschwerden müssen auch anonym möglich sein, gerade diesen muss nachgegangen werden. Für Kinder und Jugendliche müssen solche Beschwerdemöglichkeiten nicht nur bekannt, sondern auch leicht zugänglich sein. Die Beschwerden müssen zügig – sofern ihnen nicht abgeholfen – von externen Experten bearbeitet werden; die Ergebnisse den Beschwerdeführern schnellstens bekannt gemacht werden. Schikanen gegenüber Beschwerdeführern durch die betroffenen Fachkräfte müssen arbeitsrechtlich geahndet werden.

Selbstverständlich unterwirft Art. 12 das Kind keinerlei Verpflichtung, sich äußern zu müssen; hier umfasst Art. 12 auch die negative Freiheit, sich nicht zu äußern. „Sich frei zu äußern“ bedeutet, dass es keinerlei Zwang oder Nachteile in diesem Zusammenhang geben darf. Dass Kinder, die dazu in der Lage wären, sich nicht äußern, sollte ein Alarmzeichen sein, damit entsprechende Untersuchungen und Unterstützungssysteme in Gang kommen, niemals aber zu Zwang und Repression führen. Gemäß § 50 FGG eingesetzte Verfahrenspfleger könnten immer wieder solchen Kindern begegnen, Kinder, die kein Vertrauen mehr haben, weil sie zu oft getäuscht und enttäuscht worden sind. Hier kommen auf die Verfahrenspfleger besonders herausfordernde Aufgaben zu.

Die Staatenverpflichtung aus Art. 12 gilt im Gegensatz zu vielen anderen Forderungen aus der Konvention als klar und präzise, so dass in diesem Bereich der Ausschuss für die Rechte des Kindes bei seiner Überprüfungsaufgabe es verhältnismäßig leicht hat. Der Ausschuss hat darauf hingewiesen, dass er Budgetrestriktionen als Entschuldigungsgrund für die Nichteinhaltung der Standards der Konvention, insbesondere der Rechte des Kindes aus Art. 12, nicht zu akzeptieren bereit ist.

Angemessene Berücksichtigung der Meinung des Kindes

„…berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“: Diese Worte postulieren eine aktiv wahrzunehmende Verpflichtung; Kinder müssen aktiviert und motiviert werden, sich zu äußern, und sie müssen ernst genommen werden. Damit das Kind überhaupt in den Stand versetzt wird, sich eine eigene Meinung zu bilden, sollte es die notwendigen Informationen über die bestehenden Möglichkeiten und die jeweils daraus folgenden Konsequenzen bekommen. Eine Entscheidung ist nur dann eine freie Entscheidung, wenn sie auf einer genügenden Informationsbasis getroffen werden kann.

Gerichtsverfahren

„Alle das Kind berührenden Gerichtsverfahren“ (Art. 12 Abs. 2): Dies deckt eine weite Spannbreite gerichtlicher Verfahren und die dort jeweils durchzuführenden Kindesanhörungen ab. Aus den zivilrechtlichen Verfahren stehen hier die Anhörungen von Kindern bei Scheidung, Sorgerechts- und Umgangsregelungen, zivilrechtlichen Kindesschutzmaßnahmen, in Vermögenssorgeangelegenheiten, bei Entscheidungen über den Aufenthaltsort des Kindes, bei Namensänderungen und Adoptionen, bei Änderung der Staatsangehörigkeit, bei Auswanderung, in Schul- und Berufswahl- sowie medizinischen Entscheidungen im Mittelpunkt. Diese Anhörungspflicht erfährt auch in das Kind direkt betreffenden Strafverfahren ab Strafmündigkeit eine besondere Bedeutung, gilt aber auch in Strafverfahren gegen die Eltern, soweit deren Ergebnisse Auswirkungen auf Kinder haben.

Auf eine viele Kinder in Deutschland betreffende Situation und die Bedeutung von Art. 12 Abs. 2 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes für diese Fälle soll näher eingegangen werden: Es geht um Kinder und Jugendlichen, die von Trennung und Scheidung ihrer Eltern betroffen sind. Zwar sollten mit dem neuen Kindschaftsrecht „die Rechte der Kinder auf bestmögliche Art und Weise gefördert werden“, gleichzeitig ist aber mit diesem neuen Recht die Einbeziehung der überwiegenden Mehrzahl dieser Kinder und Jugendlichen, nämlich ihre Anhörung gem. § 50b FGG, ersatzlos beseitigt und abgeschafft worden. Dies war Gegenstand heftiger Kontroversen während des Gesetzgebungsverfahrens und ist nach wie vor Gegenstand heftiger fachpolitischer Debatten. Im Falle der Fortführung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach Trennung und Scheidung ist im neuen Recht eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung der hiervon betroffenen Kinder im Verfahren nicht mehr vorgesehen, obwohl gerade Kinder und Jugendliche, die von dieser Art von Familienkrisen betroffen sind, jemanden brauchen, dem sie ihre Sorgen und Ängste mitteilen können, der ihnen zuhört, ihnen das Geschehen erklärt und weitere Hilfen anbieten kann; dies alles können die Eltern häufig wegen ihrer eigenen Verstrickung ins Trennungs- und Scheidungsgeschehen nicht. Diese gesetzgeberische Entscheidung gegen jegliche Form der Beteiligung des Kindes überrascht um so mehr, als sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifizierung des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes verpflichtet hat, die dort niedergelegten Grundsätze im innerstaatlichen Recht zu beachten, und die Bundesregierung dieses Übereinkommen als „Meilenstein der Entwicklung des internationalen Rechts“ begrüßt hat. Die Berücksichtigung des Kindeswillens und die Einbeziehung der Kinder ist, wie sich u.a. an Art. 12 festmachen lässt, ein besonderes Anliegen dieses Übereinkommens. Die Quintessenz der Untersuchungen von Wallerstein u.a. lautet: „Diese Kinder wollen, dass ihre Sorgen gehört werden“. Die Abschaffung jeglicher Kindesanhörung und Jugendamtsbeteiligung für die überwiegende Anzahl der Fälle, die im früheren Recht in jedem Falle obligatorisch waren, lassen sich kaum mit der Zielsetzung der Bundesregierung für die Kindschaftsrechtsreform vereinbaren: „Die Rechte des Kindes sollen verbessert, und das Kindeswohl soll auf bestmögliche Art und Weise gefördert werden“. Das völlige Übergehen des Kindes scheint also nicht nur völkerrechtswidrig, es ist auch verfassungsrechtlich höchst fragwürdig, muss doch das Kind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Verfahren, die seine Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und seine Persönlichkeitsrechte (Art. 2 Abs.1 GG) betreffen, seine persönlichen Beziehungen zu den übrigen Familienmitgliedern erkennbar machen können. Die bisherigen Beteiligungsrechte der Kinder und die Pflichten zur Kindesanhörung sind für alle Fälle, in denen die Eltern keine Anträge stellen, gegenstandslos, weil kein Verfahren bei Gericht anhängig ist, das die Personensorge betrifft. Es handelt sich hier nicht nur um ein schwerwiegendes Defizit der Kindschaftsrechtsreform, die Bundesrepublik Deutschland verstößt durch diesen Ausschluss von Kindern, wenn sie nach Alter und Reife schon fähig sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, gegen Art. 9 Abs. 2 und gegen Art. 12 Abs. 2 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes, obwohl sie diese Konvention durch Zustimmungsgesetz vom 17. Januar 1992 in nationales Recht überführt hat. Zu diesem Zeitpunkt erfüllte Deutschland in diesem Bereich seine völkerrechtliche Verpflichtung aus den Art. 9 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 2 mit § 50b FGG, seit der Abschaffung jeglicher Kindesbeteiligung durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz, in Kraft seit dem 1. Juli 1998, verfehlt die Bundesrepublik hier die eingegangene völkerrechtliche Verpflichtung.

Ein Info- und Beratungssystem für Kinder und Jugendliche

Ob die Wiedereinführung der bisherigen Form der Kindesbeteiligung in Form der richterlichen Kindesanhörung und die Jugendamtsbeteiligung gefordert werden soll, müsste näher durchdacht werden. Es ist nach wie vor davon auszugehen, dass Trennung und Scheidung ihrer Eltern für viele Kinder nicht nur kein belangloses Ereignis ist, sondern bei einer nicht unerheblichen Zahl von Kindern zu nachhaltigen und u.U. langanhaltenden Beeinträchtigungen führen kann. Der Gesetzgeber und die Sozialpolitik sind hier aufgrund des verfassungsrechtlichen Auftrages aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und wegen der sich aus Art. 1 und 2 GG ergebenden Schutzpflichten der staatlichen Gemeinschaft zugunsten von Kindern aufgefordert, ein wirksames, auf diese Situation zugeschnittenes Schutzkonzept zu entwickeln, welches von allen hier betroffenen Eltern und Kindern tatsächlich in Anspruch genommen werden kann. Hier müssen wir neue Formen der Beteiligung entwickeln, die von Kindern und Jugendlichen, aber ebenso von ihren Eltern, auch angenommen werden. Bereits für die Entwicklung solcher neuen Konzepte können Kinder und Jugendliche essentielle Beiträge leisten. Dies ist überzeugend von der Scheidungsforschung des Auslandes belegt worden. Das seit dem 1. Juli 1998 geltende Recht der Bundesrepublik stellt noch nicht einmal sicher, dass Kinder und Jugendliche über die wenigen marginalen Rechte, wie z.B. über ihren Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung ihres Umgangsrechts (§ 1684 Abs. 1 BGB i.V.m. § 18 Abs. 3 Satz 1 und 2 KJHG), informiert werden. Hier bedarf es des Auf- und Ausbaus eines Systems zur Information und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte:

Das nachfolgende Modell orientiert sich an dem von Christina Lyon, Edward Surrey und Judith E. Timms vorgeschlagenen System zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte:
(1) Infosystem für Kinder und Jugendliche über ihre Rechte mit Hilfe von Broschüren, Videos, Fernsehspots, Comics, Computerprogrammen, Internetinfos, Plakate in U- und S-Bahnen etc. Der Zugang für Kinder und Jugendliche zu diesen Informationen muss überall dort, wo sich Kinder und Jugendliche gewöhnlich aufhalten, sichergestellt sein (Schule, Kindergarten, Sportverein, Freizeitstätten etc.).
(2) Es muss ein entsprechendes niedrigschwelliges und auf diese Fragen spezialisiertes Beratungsangebot (Lawshops for Kids, Rechtsberatungsstellen etc.) vor Ort aufgebaut werden, auf die bereits in den unter 1. genannten Infos hingewiesen wird.
(3) Bereitstellung spezialisierter Interessenvertreter(innen) für gerichtliche und behördliche Verfahren.

Ausblick

Auf die Vielfalt der durch Art. 12 veranlassten, aber noch sehr unterentwickelten Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – etwa an Verfahren nach dem KJHG – konnte kaum näher eingegangen werden, obwohl die Beteiligungsdefizite, etwa im Bereich der „Hilfen zur Erziehung“, nach wie vor erheblich sind. Mit der Einführung der Verfahrenspflegschaft gem. § 50 FGG ist zwar die Bundesrepublik auf dem richtigen Weg zur Erfüllung der Staatenverpflichtung aus Art. 12, aber es handelt sich dabei lediglich um einen Minimalkompromiss.

Zwar hat sich bei einem Großteil der Familien das Leitbild vom Verhandlungshaushalt durchgesetzt, zwar haben Erziehungsziele wie Selbständigkeit und Autonomie des Kindes eine Aufwertung erfahren; Kinder haben mehr Entscheidungs- und Mitsprachemöglichkeiten als früher und auch bei den gravierendsten Strafpraktiken sind Veränderungen zu verzeichnen. Dennoch verwundert es, wie unehrlich der Zweitbericht hinsichtlich der Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Art. 12 ist. Gerade hinsichtlich der Berücksichtigung der Meinung des Kindes durch den Staat und seine Organe bleibt noch enorm viel zu tun.

Es entsteht der Eindruck trotz des erheblichen Argumentationsaufwandes im Zweitbericht, dass die Tragweite von Art. 12 auch noch nach 12 Jahren seit der Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen von der Bundesrepublik Deutschland trotz der angemeldeten Anwartschaft auf einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen immerhin im Gegensatz zum Erstbericht zwar erkannt, aber noch längst nicht umgesetzt ist, teilweise sind sogar Rückschritte zu vermelden. Ob „erhebliche Fortschritte“ im Hinblick auf Partizipation während des Berichtszeitraums erzielt wurden, wie die Bundesregierung behauptet, ließe sich für viele Bereiche bezweifeln. „Es bleibt daher weiterhin eine zentrale Aufgabe und Herausforderung, in den Köpfen der Erwachsenen ein Umdenken herbeizuführen, denn ohne Erwachsene, die auf Kinder hören, ist Partizipation nicht zu realisieren“.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Ludwig Salgo ist Hochschullehrer am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Frankfurt/M. und am Fachbereich Rechtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.

Dr. Reinald Eichholz ist Jurist, Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und Mitglied der Koordinierungsgruppe der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.

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