21 Aug fK 4/01 Grauel
180 Jahre Kinderheilkunde in der Berliner Charité
von Ludwig Grauel
Die Gründungszeit
Die Klinik wurde 1829 gegründet und gilt als das erste deutsche Kinderkrankenhaus.
Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts war die Kindersterblichkeit in Europa noch immens hoch. Es starben 30 % aller Säuglinge und nur die Hälfte der Neugeborenen hatte die Chance, das 5. Lebensjahr zu erreichen. Es lag also nicht fern etwas für die Kinder zu tun, zumal die Kriege der ersten Jahre des 19. Jh. das Ihre getan hatten die Bevölkerung zu dezimieren. Das zunehmende Interesse an den Kinderkrankheiten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. zeigt sich u. a. auch am Erscheinen einer Reihe von deutschsprachigen Lehrbüchern in dieser Zeit, z. T. als Bearbeitungen aus dem Französischen oder nach in Paris gesammelten Erfahrungen, wo das Mekka der Kinderheilkunde war. Schon im Wintersemester 1802/03 kündigt Hufeland eine Vorlesung über Kinderkrankheiten am Collegium medico-chirurgicum in Berlin an. Auch der Geburtshelfer Friedländer las zwischen 1810 und 1821 über Kinder- und Frauenheilkunde und K. I. Lorinser zwischen 1820 und 1822 über Entwicklungskrankheiten. Letzterer hat bereits 1836 „Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen“ publiziert.
Die Direktoren
Im Herbst 1829 ordnete J. N. Rust, der Direktor der chirurgischen Klinik und Präsident des Berliner Kuratoriums für die Krankenhaus- und Hospitalangelegenheiten, nachdem bereits eine Kinderpoliklinik eingerichtet worden war, die Einrichtung auch einer Station für kranke Kinder an. Die Klinik verfügte über 30 „Lagerstätten“ und war in einem der Flügel der „Alten Charité“ untergebracht.
Sie stand zunächst unter der Leitung von Eduard Wolf, dem Direktor der „Deutschen (Medizinischen) Klinik“ (im Gegensatz zur Lateinischen – nach der Vorlesungssprache). Am 24. Mai 1830 jedoch wurde „die Leitung der ärztlichen Geschäfte und der klinische Unterricht dem Regierungs-Medizinalrath und Privatdocenten Dr. Barez übertragen“, der 1838 zum a.o. Professor ernannt wurde und 1847 aus den Diensten der Charité ausschied.
Ihm folgte nach einem Interregnum von 2 Jahren 1849 Hermann Ebert, „provisorisch und unter Vorbehalt des Widerrufs“ vom Ministerium berufen, dem von der Fakultät empfohlen worden war, die Stelle wegen Zweifeln am Gedeihen einer Kinderklinik unbesetzt zu lassen. Die Fakultät hatte bereits 1846 über die Auflösung der Klinik diskutiert, da die äußeren Umstände offensichtlich miserabel, die Ansteckungen der Kinder untereinander ungemein häufig und die Zahl der Todesfälle hoch waren. Wesentliche Änderungen gelangen Ebert, der erst 1867 zum a.o. Professor berufen wurde, jedoch während seiner immerhin 23-jährigen Amtszeit nicht.
1872 erfolgte die Berufung des von 1849 – 1868 zunächst als Privatdozent, dann als a. o . Professor für Innere Medizin an der Fakultät tätigen Eduard Heinrich Henoch. Henoch hatte bereits seit 1850 an der Inneren Klinik Vorlesungen über Kinderheilkunde gehalten und von 1860 – 1871 in seiner Wohnung in der Wilhelmstraße eine private Kinderpoliklinik betrieben.
Unter Henoch vergrößerte sich die Klientel der Klinik ganz erheblich; die Zahl der stationären Patienten verdreifachte, die der ambulanten, die Henoch im wesentlichen selbst betreute, verzehnfachte sich. Henoch öffnete die Klinik auch für die Aufnahme von Säuglingen, die bis dahin ausgeschlossen waren. Bewährt hat sich dies nicht: 75 % der aufgenommenen Säuglinge verstarben, „Atrophische“ zu über 90 %. So kam er zu dem Schluss, man solle Säuglinge in „eigentlichen Krankenhäusern“ nicht aufnehmen. „sondern nur in Anstalten, die durch angestellte Ammen eine biologische Ernährung gewährleisten.“ Er riet Heubner, die Säuglingsstation wieder eingehen zu lassen.
Ein Ordinariat erlangte Henoch trotz eigener vielfältiger Bemühungen und der Unterstützung des 1882 als Ministerialrat ins „Ministerium der geistlichen, Medicinal- und Unterrichtsangelegenheiten“ berufenen Friedrich Althoff nicht. In einem Gutachten zu Henochs Antrag aus dem Jahre 1884 stellt die Fakultät fest, „dass sie in der Errichtung eines Ordinariats für Kinderheilkunde eine schädliche, und in ihren weiteren Konsequenzen gefährliche Maßregel erblicken müsse“.
Althoff zog daraus seine Lehren. Als nach Henochs Ausscheiden Otto Heubner berufen werden sollte, sagte er diesem ohne Rücksprache mit der Fakultät bereits vorab ein Ordinariat zu und schrieb den Einspruch dieser nach erfolgter Ernennung im Dezember 1894 „zu den Akten“.
Otto Heubner, ebenfalls Internist und seit 1868 Privatdozent in Leipzig, folgte dem Ruf Althoffs und erhielt das erste Ordinariat für Kinderheilkunde in Deutschland. Aus seiner Schule sind eine Reihe sehr bekannter Pädiater hervorgegangen, so Finkelstein, Salge, Noeggerath, Rietschel und Langstein, der später langjähriger Direktor des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Hauses in Berlin-Charlottenburg war, Rott, der Vater der Sozialpädiatrie und Stoeltzner.
Heubner gelang es trotz der anfangs miserablen räumlichen Bedingungen – immer noch in den dunklen und engen Räumen der „Alten Charité“ – die Sterblichkeit in der Klinik deutlich zu senken. Er stellte gegen den Widerstand der Verwaltung Ammen ein und verbesserte ganz wesentlich die Pflege: So „verfügte ich mich eines schönen Tages früh 5 Uhr auf meine Abteilung, um als passiver Zuschauer den ganzen Dienst vom Morgen bis zum Abend kennenzulernen. An diesem Tage gewann ich den Einblick in die Unzahl von Fehlern und Verstößen, die gegen eine zielbewusste Ordnung im gesamten Krankendienst sich eingeschlichen hatten, und war nun in der Lage, Richtlinien für dessen gründliche Änderung aufzustellen“. Mit dem Neubau der Kinderklinik 1903 verbesserten sich auch die äußeren Bedingungen ganz erheblich.
1913 schied Heubner aus, und es wurde auf seine Empfehlung Adalbert Czerny berufen. Die zwanzig Jahre seines Direktorats sind wohl die größten Jahre der Klinik gewesen. Er hatte sich nach einer theoretischen Ausbildung am histologischen Institut in Prag und einer Ausbildung am Prager Findelhaus 1893 für das Fach Kinderheilkunde habilitiert und kam über Breslau und Straßburg nach Berlin. Er muss ein begnadeter Lehrer gewesen sein. An seinen Visiten sollen sich zeitweise neben den Assistenten bis zu 80 Ärzte aus vieler Herren Länder beteiligt haben, so dass sie schließlich im Hörsaal stattfinden mussten Auch seine Schule weist eine große Zahl bedeutender Namen auf, so Stolte, Kleinschmidt, Hamburger, Schiff, Peiper, Opitz, Gottstein.
Dost, von 1952 – 1959 Direktor dieser Klinik, hat über Heubner und Czerny wohl richtig geurteilt: Heubner hat die Pädiatrie in Deutschland zur Anerkennung gebracht, Czerny hat sie zur Weltgeltung geführt .
1932 schied Czerny aus dem Dienst. Als sein Nachfolger wurde Georg Bessau berufen, der auch von 1933 – 1938 die durch den Tod Langsteins frei gewordene Leitung des KAVH übernahm.
Die Machtübernahme der Nazis ging an der Klinik nicht spurlos vorüber: zwischen 1933 und 1935 wurde 8 namhaften Hochschullehrern, darunter Finkelstein, Hamburger, Schiff die Venia legendi entzogen, eine düstere Entwicklung begann. Es ist nicht bekannt, ob Bessau sich dem entgegenzustellen versucht hat. Mitglied der NSDAP oder offen antisemitisch war er sicherlich nicht, wenn man Zeitzeugen glauben darf. Er war offensichtlich auch nicht verwickelt in die Euthanasieprogramme, wie etwa sein Schüler Catel in Leipzig, jedoch hat er andererseits nicht davor zurückgeschreckt, in der „Kinderfachabteilung“ Berlin-Wiesengrund an durch den Reichsausschuss zur Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden erfasster Kinder mit Tuberkulin zu experimentieren.
Die Luftangriffe auf Berlin bedrohten seit 1942 die im Zentrum der Stadt liegende Klinik besonders. Die Nacht verbrachten die Patienten in den S-Bahn-Bögen, die Mehrzahl wurde nach Buch verlegt.
Georg Bessau starb am 16. 11. 1944 an einem Hirntumor.
Wenige Wochen später übernahm Hans Kleinschmidt für einige Monate die Klinik. Über die Monate der Belagerung und der Eroberung Berlins war ein Oberarzt Bessaus, Camann, Klinikleiter, ehe schon im Juli 1945 Wilhelm Stoeltzner die Klinik übernahm. Stoeltzner – damals schon 73 Jahre alt – war 1937 aus politischen Gründen von seinem Lehrstuhl in Königsberg entfernt worden und trat nun wieder an. Unter seiner Leitung begann die Enttrümmerung und die notdürftige Wiederherstellung der noch nutzbaren Gebäude. Als dies geschafft war, ließ er sich 1947 endgültig emeritieren.
1947 übernahm Klinke die Klinik. Auch er – 1928 in Breslau habilitiert – war zunächst von den Nationalsozialisten aus dem Hochschuldienst entlassen, 1944 aber nach Rostock berufen worden. Er konnte das von Czerny geplante, von Bessau in Betrieb genommene, ausgebrannte Haus entlang der Schumannstraße wieder in Betrieb nehmen. Da seine Wahl zum Dekan jedoch nicht von der staatlichen Behörde bestätigt wurde, folgte er 1951 einem Ruf nach Düsseldorf. Unter seiner Leitung begann die Profilierung in der Klinik mit dem Aufbau einer Arbeitsgruppe zur präoperativen Herzdiagnostik.
Nach einer neuerlichen Interimszeit unter der Leitung Herbert Brugschs wurde 1951 F.H. Dost als Direktor eingesetzt und 1953 zum ordentlichen Professor berufen. Unter seiner Aegide erfolgte der Wiederauf- und Umbau des Haupthauses einschließlich des Hörsaals und vor allem der Laboratorien sowie von zwei der drei völlig zerstörten „Baracken“. Sie wurden bis 1958 bezogen und beherbergten neben der Milchküche eine Säuglings- eine Frühgeborenen- und zwei Infektionsstationen. Dost wurde von seinen Mitarbeitern mehrheitlich als sehr geduldiger, etwas trockener Chef beschrieben, der – noch keine 50 Jahre alt – als „Papa Dost“ bezeichnet wurde. Er konnte letztendlich auf die Dauer mit dem herrschenden Regime nicht leben und verließ die Klinik Ende 1959 um einem Ruf nach Gießen zu folgen. Das beeinträchtigte die Arbeitsfähigkeit letztendlich deutlich, da ihm sehr bald eine Reihe von erfahrenen Oberärzten folgte, so dass die Klinik unter der interimistischen Leitung eines Oberarztes, F.M.G. Otto, schwere Zeiten durchmachte.
Erst nach fast anderthalb Jahren wurde 1960 Josef Dieckhoff aus Leipzig berufen. Dieser führte die Profilierung der Klinik, die schon unter Dost weitergeführt worden war, zu Ende. Er stärkte die Arbeitsgruppe Kardiologie und machte sie praktisch selbständig, so dass sie letztendlich mit der Berufung J.Bartels zum ordentlichen Professor zu einer selbständigen Abteilung geführt werden konnte. Ebenso verfuhr er mit der Nephrologie, die unter P. Großmann selbständig geführt und um ein Kinderdialysezentrum erweitert wurde. Vor allen aber gründete er 1970 die Abteilung Neonatologie, die im wesentlichen in der Frauenklinik in der Tucholskystraße untergebracht war und bis 1973 unter der Leitung von Ingeborg Syllm-Rapoport stand.
Als Dieckhoff 1972 emeritiert wurde, übergab er eine in den Strukturen geordnete Klinik, die von seinem ehemaligen Oberarzt P. Großmann bis zu dessen Emeritierung 1991 weiter geführt wurde. Die Klinik hatte in ihren „besten Tagen“ in allen Abteilungen zusammen mehr als 300 Betten.
In diese Zeit fällt besonders der Ausbau der poliklinischen Aktivitäten, die von 10000 Konsultationen Anfang der 70er auf über 70000 Konsultationen Mitte der 80er Jahre anstiegen. Dazu hat besonders die Schaffung einer Vielzahl von Spezialsprechstunden und die Durchführung gemeinsamer Sprechstunden mit Kinder- und Neurochirurgen sowie Urologen beigetragen.
In diese Zeit fällt auch der Einzug von Teilen der Kinderklinik in das 1982 bezogene Hochhaus, das eigentlich allein den chirurgischen Fächern zugedacht war. Es war ganz wesentlich den Aktivitäten Großmanns zuzuschreiben, dass über die Neonatologie hinaus dort auch pädiatrisch geleitete interdisziplinäre Stationen geschaffen wurden, die Kinder gemeinsam mit den HNO- und Augenärzten, den Urologen und Orthopäden betreuten. Er war es auch, der mit dafür sorgte, dass in den 70er Jahren die Kinderchirurgie in der Charité wieder fest etabliert werden konnte und letztendlich zu einer eigenen Klinik wurde, die mit der Kinderheilkunde gemeinsam eine Intensivtherapiestation betrieb.
Zweifellos war Großmann ein der Staatsdoktrin sehr treu ergebener Mann, der auf seinem Wege auch protegiert worden ist. Er war aber auch jemand, der wider den Stachel löcken konnte, wenn er es für erforderlich hielt, so zum Beispiel als er begann, sich publizistisch mit Kindesmisshandlungen zu befassen, die es im Sozialismus nicht geben durfte. Er war ein eloquenter Lehrer und guter Organisator, ein potenter Kliniker und ein Chef, der wissenschaftlich seinen Mitarbeitern viel, vielleicht manchmal zu viel Freiraum ließ.
Baugeschichte
Bis 1886 waren die Räumlichkeiten der Kinderklinik in einem Flügel der „Alten Charité“ notdürftig untergebracht. Sie waren einer der Medizinischen Kliniken „abgezwackt“ und da die Stellung des Leiters der Kinderklinik nicht sehr hoch angesehen war, war ein wesentlicher Zugewinn kaum möglich, ja, sie musste auch mehrfach umziehen und wurde so behindert. Ein Neubau einer Kinderklinik wurde daher Anfang der 80er Jahre des 19. Jh. beschlossen, scheiterte aber am Grundstückserwerb. Erst die durch die Zunahme der Bevölkerung Berlins nach der Reichsgründung immer prekärer werdende Situation auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten, besonders auch der Hospitalinfektionen, erzwang den Neubau eines Infektionshauses für Kinder, der 1888 fertiggestellt wurde. Das Gebäude bot Platz für je 10 Scharlach-, Masern und Diphtheriekranke sowie 6 Einzelbetten für Mischfälle im Aufnahmepavillon.
1897 bewilligte der preußische Landtag Mittel für den grundlegenden Neu- und Umbau der Charité. Da die zu bauende Kinderklinik auf einem relativ leicht zu beräumenden Gelände geplant war, war sie der erste der Neubauten, die im Oktober 1903 bezogen werden konnten. Heubner konnte erreichen, dass die Klinik für damalige Zeit großzügige Laboratorien erhielt, Röntgenräume, einen Raum für kleinere Operationen, eine Milchküche und natürlich eine große Poliklinik mit 6 Untersuchungsräumen. Ein für damalige Verhältnisse perfekt ausgerüsteter Hörsaal für 120 Hörer – er wurde unter Czerny 1919/20 für 234 ausgebaut – schloss unmittelbar an. Und als 1904 Koch auch seine unmittelbar benachbarten Infektionsbaracken aufgab, wurden diese ebenfalls der Kinderklinik zugeordnet.
Die Heubner’schen Gebäude wurden bei der Bombardierung 1944 und bei den Kämpfen 1945 zu 50%, die Bessau’schen Nebengebäude zu 75 % zerstört. Sie wurden bis 1958 bis auf eines wieder errichtet.
Schwerpunkte in Lehre und Forschung
Barez und Ebert, die beiden ersten Direktoren, sind wissenschaftlich wenig in Erscheinung getreten. Ihre Hauptaufgabe waren Krankenversorgung und Lehre. Immerhin gebührt Barez das Verdienst, gemeinsam mit Romberg, dem Lehrer Henochs, 1843 die erste deutsche Fachzeitschrift, das „Journal für Kinderkrankheiten“ ins Leben gerufen zu haben. Als Regierungsmedizinalrat wurde er im Februar 1848 mit Rudolf Virchow nach Oberschlesien geschickt, um die Ursachen der dort grassierenden Fleckfieber-Epidemie zu klären. Der Aufenthalt dort hat vor allem Virchow in seiner weiteren Entwicklung wesentlich beeinflusst, denn er hat hier die Quelle zu seinem zukünftigen sozialhygienischen Engagement gefunden.
Henoch wird von den meisten Autoren besonders als begabter Kasuistiker hervorgehoben. Geblieben ist von diesen Kauistiken die „Purpura Schönlein-Henoch“, die er 1868 beschrieben hat. Sein Hauptwerk jedoch sind die „Vorlesungen über Kinderkrankheiten“, die zwischen 1881 und 1903 in 11 Auflagen erschienen. Die „Vorlesungen“ zeichnen sich durch große Praxisnähe, Betonung der Individualität und die Berücksichtigung sozialer Verhältnisse in der Krankheitsentstehung wie für die Therapie. Noch Czerny hält dieses Lehrbuch für das beste ihm bekannte.
Die eigentlich wissenschaftliche Pädiatrie nahm ihren Anfang mit Otto Heubner. Die von ihm eingerichteten Laboratorien ließen eine Vielzahl von modernen Methoden zu, so dass unter seiner Aegide insbesondere zu den Infektionserkrankungen wichtige Ergebnisse erzielt werden konnten. Genannt seien die Arbeiten zur Wirksamkeit des Diphtherieserums gemeinsam mit v. Behring, der Nachweis der Meningokokken im Liquor von Kindern mit Meningitis, Arbeiten über Tuberkulose, Scharlach und Keuchhusten, die Beschreibung der schweren Verdauunginsuffizienz bei Kindern jenseits des Säuglingsalters (Zoeliakie). Besonders hervorgehoben werden sollten aber seine gemeinsamen Arbeiten mit den Grundlagenfächern der Medizin, vor allem mit dem Physiologen Rubner, mit dem umfangreiche Untersuchungen zum Stoffwechsel durchgeführt wurden, in deren Zusammenhang er den noch heute verwendeten Begriff des Energiequotienten einführte.
Auch unter Czerny setzte sich das Interesse für den Stoffwechsel und die Ernährung des Säuglings intensiv fort. Gemeinsam mit Keller und Finkelstein wurde ein ganzes Lehrgebäude errichtet, das in seinem mit Keller publizierten zweibändigen Werk „Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie“ , erstmals 1906 erschienen und 1925 modernisiert seine Zusammenfassung erhielt. Czerny erkannte den Zusammenhang zwischen Ernährungszustand und Abwehrfähigkeit des kindlichen Organismus, er schuf uns heute noch geläufige Begriffe wie die der Diathesen und der Konstitution, der alimentären Toxikose. Seine Auffassung der Rachitis als einer Allgemeinerkrankung, die weit über das Skelettsystem hinausgeht, war bahnbrechend.
Darüber hinaus hat sich Czerny sehr intensiv mit Fragen der Erziehung und der Schulhygiene befasst. Publikationen über „Die Entstehung und Bedeutung der Angst im Kindesalter“ oder „Die freie Zeit des Schulkindes“ sind auch heute noch interessant zu lesen.
Die Ernährung des Säuglings war auch Hauptgegenstand der Forschung in der Zeit Bessaus, der seine Hauptaufgabe darin sah, eine künstliche, der Muttermilch adaequate Nahrung zu entwickeln. 1939 führte Bessau die Rachitisprophylaxe mit Vitamin D ein.
Die Zeiten des zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit waren natürlich nicht geeignet, große Forschungsaktivitäten zu entwickeln. Erst mit der Berufung von Klinke kann wieder von einer Forschung wirklich gesprochen werden, die sich mit der beginnenden Spezialisierung ergab. Unter Dost waren es besonders Fragen der Immunhämatologie und Syndromatologie, die eine große Rolle spielten. Mit dem Namen Dost verbindet sich aber insbesondere die Mathematisierung der Stoffwechseluntersuchungen. Sein Werk „Der Blutspiegel“, gilt als eines der Basiswerke der Pharmakokinetik und ist letztendlich für etliche Jahre maßgebend gewesen für eine Reihe von Untersuchungen Großmanns, Rapoports und deren Mitarbeiter im Zusammenhang mit der Hyperbilirubinämie und der Austauschtransfusion, zu Fragen des Stoffwechsels im Neugeborenalter und bei Niereninsuffizienz, später vor allem unter den neuen Bedingungen der Nierenersatztherapie.
Unter Dieckhoff waren Ernährungsprobleme bei angeborenen Stoffwechselerkrankungen, vor allem der Phenylketonurie erfolgreich. So gelang es Ende der 60er Jahre eine phenylalaninarme Nahrung für die DDR zu entwickeln.
Die Diagnostik und Therapie angeborener Herzfehler waren weitere Schwerpunkte, nachdem sich in den 70er Jahren die Kinderkardiochirurgie zu entwickeln begann und Porstmann – ein Radiologe der eng mit der Kinderklinik kooperierte – erstmals nichtinvasive Therapieprinzipien, so den Verschluss des Ductus Botalli, einführte.
Untersuchungen zur Physiologie von Reifung und Alterung von Erythrozyten auch unter den Bedingungen des Sauerstoffmangels wurden in enger Kooperation mit dem Institut für Biochemie, vor allem nach der Emeritierung von Frau Rapoport durchgeführt, die noch über Jahre eine forschende Arbeitsgruppe leitete und dabei weiter sehr eng mit der Abteilung für Neonatologie zusammenarbeitete.
Darüberhinaus ergaben sich aus der Intensivtherapie Neugeborener immer neue Fragestellungen hinsichtlich der Atemphysiologie und auch der Entwicklung eines DDR-eigenen Surfactants. Dabei sind wir allerdings von der politischen Entwicklung überholt worden.
Für einige Jahre verfügten wir über eine von einem Biochemiker geleitete Forschungsabteilung, die sich tierexperimentell mit Fragen der Hypoxie des Neugeborenen-ZNS befasste.
Letztendlich aber spielte die Forschung nicht die gleiche Rolle wie die Patientenversorgung und die Lehre, der eine sehr hohe Bedeutung beigemessen wurde. In dieser Hinsicht waren wir ein paar Jahre unserer Zeit fast voraus: Wir hatten für einige Jahre sowohl ein Forschungsstudium, das Studenten auf eine wissenschaftliche Laufbahn vorbereiten sollte, als auch ein sehr intensives pädiatrisches Praktikum, während dessen alle Studenten obligatorisch über vier Wochen auf Kinderstationen arbeiteten und dort wirklich lernten mit Kindern umzugehen. Leider ist beides Reformen in den 80 er Jahren zum Opfer gefallen, weil es sich letztendlich als zu aufwendig erwies.
Sowohl Dieckhoff als auch Großmann gaben gemeinsam mit anderen Ordinarien in der DDR Lehrbücher heraus, die den Mangel an Literatur für den Unterricht im wesentlichen beheben konnten.
Ausblick
Mit der Umgestaltung des Hochschulwesens nach der Wende änderten sich die Verhältnisse natürlich auch an der Klinik grundlegend. Dies noch mehr als 1995 die Fusion zwischen Virchowklinikum und Charité beschlossen wurde und so Doppelvorhaltungen entstanden, die auf Dauer nicht tragfähig sein konnten. So kam es zu erheblichen Abteilungs- und Bettenreduktionen.
1989 war auf dem Gelände des Virchowklinikums mit dem Bau einer großen, hochmodernen Kinderklinik für die Freie Universität begonnen worden. Nach deren Fertigstellung zogen bis auf die Kliniken für Kindernephrologie, Kinderkardiologie und Neonatologie (derzeit die letzte Doppelvorhaltung) alle Kinderbetten in die neuerbaute Klinik. Die am alten Standort Mitte noch verbliebenen werden in den nächsten Jahren folgen. Damit geht eine mehr als 180-jährige Geschichte zu Ende, aus meiner Sicht eine Notwendigkeit, um die Einheit der Kinderheilkunde trotz der zunehmenden Spezialisierung zu bewahren. Es wird die Aufgabe der heutigen und der kommenden Generation sein, die Traditionslinien der Charité und des Kaiserin-Auguste-Victoria-Hauses – zweier ehemaliger Konkurrenten – zusammenzuführen und fruchtbar zu machen.
Eine etwas ausführlichere mit Abbildungen versehene Fassung wird im Jahre 2002 in der Zeitschrift „Paediatrie und Grenzgebiete“ erscheinen.
Prof. Dr. Ludwig Grauel ist ehemaliger Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité
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