17 Aug fK 4/02 Maywald
Kindeswohl und Kindesrechte
von Jörg Maywald
Das so genannte Kindeswohl ist vermutlich der am meisten strapazierte und zugleich am heftigsten umstrittene Begriff, wenn es darum geht, Entscheidungen für Kinder und mit Kindern zu treffen und zu begründen.
Was, wann und unter welchen Umständen im wohl verstandenen Interesse eines Kindes oder Jugendlichen liegt, darüber gehen die Meinungen bei Richtern, Anwälten, Medizinern, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeitern und nicht zuletzt bei Eltern oder Elternteilen häufig weit auseinander. Als Konstante im zumeist dissonanten Konzert der unterschiedlichen Positionen kann allenfalls ausgemacht werden, dass die Kinder und Jugendlichen selbst zu der Frage, was in ihrem besten Interesse liegt, häufig nicht einmal gehört werden.
Kindeswohl: ein unbestimmter Rechtsbegriff
Einerseits ist das Kindeswohl zu Recht die zentrale Norm und der wichtigste Bezugspunkt im Bereich des Kindschafts- und Familienrechts. Auf den wenigen Seiten des mit „Elterliche Sorge“ überschriebenen Fünften Titels des Vierten Buchs des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird allein mehr als zwanzig Mal der Begriff des Kindeswohls bemüht.
Gemäß § 1666 BGB stellt eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls die zentrale Begründungsnorm und damit das Einfallstor dar für einen legitimen Eingriff des Staates in das grundgesetzlich verbürgte Elternrecht.
In § 1697 a BGB wird das Wohl des Kindes zum allgemeinen Prinzip richterlicher Entscheidungen erhoben. Dort heißt es: „Soweit nicht anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.“
Auch im Sozialrecht ist das Kindeswohl ganz oben angesiedelt. In § 1 Abs. 3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG, SGB VIII) heißt es u.a., dass „Jugendhilfe (…) Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen (soll)“.
Andererseits steht an keiner Stelle eines Gesetzes, was unter dem Kindeswohl eigentlich zu verstehen ist. Handelt es sich hierbei doch um einen so genannten unbestimmten Rechtsbegriff, der sich einer allgemeinen Definition entzieht und der daher einer Interpretation im Einzelfall bedarf. Die Rechtsanwender – Richter und Anwälte – sind auf außerjuristische Erkenntnisse insbesondere aus den Medizin- und Sozialwissenschaften angewiesen.
Auf dem Weg zu einem allgemeingültigen Kindeswohlbegriff
Hier jedoch – in den Humanwissenschaften – sah es lange Zeit nicht besser aus. Zwar behaupten die dort tätigen Fachkräfte immer wieder im Einzelfall zu wissen, was das Beste für ein Kind sei. Vor die Aufgabe gestellt, allgemeine und verbindliche Kriterien des Kindeswohls anzugeben, haben aber auch sie allzu oft kapituliert. Bestenfalls wurde der Versuch unternommen, durch die Angabe negativer Bedingungen, bei deren Vorliegen das Kindeswohl keinesfalls gesichert sei, einen Ausweg aus der Misere zu finden.
Welche Konsequenzen sind hieraus zu ziehen? Sollten wir möglicherweise überhaupt aufgeben, nach einer Definition des Begriffs Kindeswohl zu suchen? Handelt es sich nur um eine Schimäre, der wir nachjagen? Sollten wir zulassen, dass sich jede Profession, jede Interessengruppe, letztlich jeder Einzelne einen eigenen Begriff zulegt, nach dem Motto „anything goes“? Löst sich der Begriff des Kindeswohls auf in den unterschiedlichen Perspektiven der jeweils Beteiligten?
Eine extreme Relativierung oder gar Aufgabe des Kindeswohl-Begriffs käme einer Kapitulation der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Kindern gleich. Dies wäre weder zu rechtfertigen noch zu verantworten und mit fatalen Folgen besonders für diejenigen Kinder verbunden, die des besonderen Schutzes bedürfen: Kinder in hoch strittigen Trennungs- und Scheidungskonflikten, vernachlässigte, misshandelte, missbrauchte Kinder.
Für eine allgemeingültige Bestimmung des Begriffs Kindeswohls ist der Bezug sowohl auf die Grundbedürfnisse als auch auf die Grundrechte des Kindes notwendig, ein Wechselbezug also zwischen dem, was Kinder brauchen und dem, was Kindern zusteht. Ein Wechselbezug zwischen deskriptiven Beschreibungen und normativen Setzungen dessen, was für eine gesunde Entwicklung des Kindes unabdingbar ist.
Ein am Wohl des Kindes (Best Interest of the Child) ausgerichtetes Handeln wäre demzufolge dasjenige Handeln, das die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt.
Grundbedürfnisse von Kindern
Zur Sicherung des Kindeswohls ist die Befriedigung elementarer Bedürfnisse unabdingbar. Erste Versuche einer Konkretisierung basaler kindlicher Bedürfnisse sind in der Kindeswohl-Trilogie von Goldstein, Freud und Solnit (1974, 1982, 1988) zu finden. Zu den grundlegenden Bedürfnissen rechnen sie Nahrung, Schutz und Pflege, intellektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt. Außerdem brauche das Kind Menschen, die seine positiven Gefühle empfangen und erwidern und sich seine negativen Äußerungen und Hassregungen gefallen lassen. Sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit im späteren Leben bleibe abhängig von seiner Stellung innerhalb der Familie, d.h. von dem Gefühl geschätzt, anerkannt und als vollwertiges Familienmitglied betrachtet zu werden.
Von Fegert (2002) stammt der Versuch, sechs Grundbedürfnisse (Basic Needs of Children) zu identifizieren und die negativen Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Hierzu gehören
(1) Liebe, Akzeptanz und Zuwendung: Der Mangel an emotionaler Zuwendung kann zu schweren körperlichen und psychischen Deprivationsfolgen bis hin zum psychosozialen Minderwuchs und „failure to thrive“ (nicht organisch bedingten Gedeihstörungen) führen
(2) Stabile Bindungen: Bindungsstörungen zeigen sich bei kleinen Kindern zunächst in Auffälligkeiten der Nähe-Distanz-Regulierung und können später zu massiven Bindungsstörungen führen
(3) Ernährung und Versorgung: als Folgen einer Mangel- oder Fehlernährung treten Hunger, Gedeihstörungen und langfristig körperliche sowie kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen auf
(4) Gesundheit: Mängel im Bereich der Gesundheitsfürsorge führen zu vermeidbaren Erkrankungen mit unnötig schwerem Verlauf, z.B. infolge von Impfmängeln, Defektheilungen etc.
(5) Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung: psychisch können diese Belastungen zu Anpassungs- bzw. posttraumatischen Störungen führen, die durch eine Fülle von Symptomen und teilweise langfristige Erkrankungsverläufe gekennzeichnet sind
(6) Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung: Mängel in diesen Bereichen führen zu Entwicklungsrückständen bis hin zu Pseudodebilität.
Ein weiterer Versuch einer positiven Bestimmung des Kindeswohls stammt von Brazelton und Greenspan. In ihrem Beitrag „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ beziehen sie ergänzend zu Fegert die soziale und kulturelle Dimension ein (siehe den Artikel von Resch und Lehmkuhl in diesem Heft).
Grundrechte von Kindern
Kinder sind Träger eigener unveräußerlicher Grundrechte. Die in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Mindeststandards haben zum Ziel, die Würde, das Überleben und die Entwicklung aller Kinder auf der Welt sicherzustellen. Der Kinderrechteansatz basiert auf folgenden Prinzipien:
(1) Das Prinzip der Kinder als Träger eigener Rechte
(2) Das Prinzip der Unteilbarkeit der Rechte: alle Rechte sind gleich wichtig
(3) Das Prinzip der Universalität der Rechte: alle Kinder haben gleiche Rechte
(4) Die vier allgemeinen Prinzipien der Kinderrechtskonvention
- Das Recht auf Nicht-Diskriminierung (Artikel 2)
- Der Vorrang des Kindeswohls (Artikel 3)
- Das Recht auf Leben und bestmögliche Entwicklung (Artikel 6)
- Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12)
(5) Das Prinzip der Verantwortungsträger: Familie, Gesellschaft und Politik tragen Verantwortung für die Verwirklichung der Kinderrechte
In den 54 Artikeln der Kinderrechtskonvention werden Kindern umfassende Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte zuerkannt. Die in dem „Gebäude der Kinderrechte“ wichtigsten Rechte finden sich in den Artikeln 2, 3, 6 und 12.
Schutzrechte
Der Artikel 2 enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Alle Rechte gelten für jedes Kind, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler, ethnischer oder sozialer Herkunft, Vermögen, Behinderung, Geburt oder sonstigem Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.
Weitere Schutzrechte finden sich in Artikel 8: Schutz der Identität; Artikel 9: Schutz vor Trennung von den Eltern; Artikel 16: Schutz der Privatsphäre; Artikel 17: Schutz vor Schädigung durch Medien; Artikel 19: Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung einschließlich des sexuellen Missbrauchs; Artikel 22: Schutz von Kinderflüchtlingen; Artikel 30: Schutz von Minderheiten; Artikel 32: Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung; Artikel 33: Schutz vor Suchtstoffen; Artikel 34: Schutz vor sexuellem Missbrauch; Artikel 35: Schutz vor Entführung; Artikel 36: Schutz vor Ausbeutung jeder Art; Artikel 37: Schutz in Strafverfahren und Verbot von Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe; Artikel 38: Schutz bei bewaffneten Konflikten.
Förderrechte
In Artikel 3 ist der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben, demzufolge das Wohl des Kindes bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen vorrangig zu berücksichtigen ist. Alle, die für die Entwicklung eines Kindes Verantwortung tragen, sind verpflichtet, das Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand bei der Wahrnehmung seiner Rechte zu unterstützen.
Artikel 6 enthält das Recht auf Leben und Entwicklung. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Überleben und die Entwicklung des Kindes in größtmöglichem Umfang zu gewährleisten.
Ergänzende Förderrechte sind festgelegt in Artikel 10: Recht auf Familienzusammenführung; Artikel 15: Recht auf Versammlungsfreiheit; Artikel 17: Zugang zu den Medien; Artikel 18: Recht auf beide Eltern; Artikel 23: Recht auf Förderung bei Behinderung; Artikel 24: Recht auf Gesundheitsvorsorge; Artikel 27: Recht auf angemessenen Lebensstandard; Artikel 28: Recht auf Bildung; Artikel 30: Recht auf kulturelle Entfaltung; Artikel 31: Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung; Artikel 39: Recht auf Integration geschädigter Kinder.
Beteiligungsrechte
Nach Artikel 12 hat jedes Kind das Recht, in allen Angelegenheiten, die es betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden.
Weitere Beteiligungsrechte der Kinder sind niedergelegt in Artikel 13: Recht auf freie Meinungsäußerung sowie auf Informationsbeschaffung und -weitergabe und in Artikel17: Recht auf Nutzung kindgerechter Medien.
Verfahrensregeln
Neben den so genannten materiellen Rechten sind eine Reihe von Verfahrensregeln von Bedeutung. Hierzu gehören neben der Definition des Begriffs „Kind“ (alle Menschen von 0-18 Jahren) die Verpflichtung der Staaten zur Umsetzung (Artikel 4) und zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Artikel 42), die Einsetzung eines UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (Artikel 43), die Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Artikel 44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen (Artikel 45).
Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert, allerdings nicht uneingeschränkt. In einer Interpretationserklärung wurden Vorbehalte besonders im Hinblick auf die rechtliche Situation solcher Kinder formuliert, die aus Krisengebieten nach Deutschland geflohen sind. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben demnach nicht die gleichen Rechte wie die deutschen Kinder. Auf Grund ausländerrechtlicher Vorschriften ist ihr Wohl beispielsweise in puncto Bildung und Gesundheitsfürsorge nachrangig gegenüber anderen Erwägungen.
Kinderrechte und Elternrechte – Spannungsfeld aber kein Gegensatz
Die Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte ist Ausdruck für einen tief greifenden Wandel im Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern. Hier zeigt sich der Übergang zu einem neuen Generationenverhältnis. An die Stelle der Unterordnung des Kindes unter den Willen und die Macht der Eltern tritt eine Beziehung auf der Basis gleicher Grundrechte, in der die Würde und die Rechte des Kindes neben denen der Erwachsenen einen selbstverständlichen Platz einnehmen.
Dieser Perspektivenwechsel darf aber nicht zur Folge haben, tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern einfach einzuebnen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Auf Grund ihres Alters, auf Grund ihrer sich noch entwickelnden körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Möglichkeiten bedürfen Kinder des besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge. Kinder brauchen eigene Kinderrechte. Sie brauchen ein Recht auf Kindheit, und zwar auf einen Schon- und Spielraum, in dem Verantwortlichkeit wachsen und eingeübt werden kann.
In dieser Spannung zwischen Gleichheit einerseits – Kinder sind Menschen – und Differenz andererseits – Kinder haben altersbedingte spezifische Bedürfnisse – liegt das besondere Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Immer mehr setzt sich deshalb durch, das Elternrecht ausschließlich als pflichtgebundenes, treuhänderisches Recht zu verstehen, das seine Grenze am Wohl des Kindes findet. Elternrecht heißt heutzutage vor allem Elternverantwortung. Diese Verantwortung beinhaltet das Recht und die Pflicht der Eltern, „das Kind bei der Ausübung (seiner) anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 der UN-Kinderrechtskonvention).
Dr. Jörg Maywald ist Soziologe, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland
Literaturhinweise:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.)
Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien
Bonn 2000
Salgo, Zenz, Fegert, Bauer, Weber, Zitelmann (Hg.)
Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche
Ein Handbuch für die Praxis
Köln 2002
International Save the Children Alliance
Child Rights Programming
London 2002
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