17 Aug fK 2/03 Märzheuser
Was tun, wenn’s passiert?
Erste Hilfe bei Kinderunfällen
fk: Sollten Eltern eigentlich generell in erster Hilfe trainiert sein?
Märzheuser: Ich denke, es ist wichtig, dass Eltern in Gefahrensituationen ihrer Kinder vorbereitet sind und ruhig und besonnen reagieren können. Ob dann die Verbände oder überhaupt die Erste-Hilfe-Maßnahmen medizinischen Standards entsprechen, das ist eine ganz andere Frage. Denn in Deutschland kann man über den Notruf 112 innerhalb kürzester Zeit auch adäquate Hilfe anfordern und sich dann wirklich professionell unterstützen lassen.
fk: Wir nehmen mal an, es passiert zu Hause, wo es ja tatsächlich häufig vorkommt, etwas mit meinem Kind, was muss man eigentlich am klügsten tun?
Märzheuser: Das allererste was man machen muss, ist das allerschwierigste, nämlich Ruhe bewahren. Und dann das Kind beruhigen. Wenn Sie das schaffen, dann haben Sie schon die Hälfte der besten Erstversorgung des Unfalls geleistet. Eine schreiende, eine weinende, eine aufgeregte Mutter, die kann nicht helfen, und zusätzlich verunsichert sie das verletzte Kind noch mehr. Denn wir Erwachsenen haben uns ja abgewöhnt, unsere Gefühle in so wilder Weise zur Schau zu stellen wie durch Weinen. Wenn jetzt ein Kind sich verletzt und die Mutter auch noch weint, dann bedeutet das für das Kind, um Gottes Willen, jetzt muss mir ja etwas Furchtbares passiert sein. Das ist eine Erfahrung, die ich in der Rettungsstelle der Kinderchirurgie sehr häufig mache, dass das die Kinder wirklich ganz tief erschüttert. Also Ruhe bewahren, das Kind beruhigen. Dann sollte man sich als nächstes die Gefahrenstelle genau anschauen, die absichern, dann die Verletzung betrachten, die das Kind hat. Bei einer Verbrühung zum Beispiel ist das beste und das einfachste, wenn man das Kind abduscht. Ausziehen, kalt abduschen. Kalt heißt nicht, dass das Wasser eiskalt sein muss. Es reicht, wenn das Wasser so 15, 20 Grad temperiert ist. Und damit duscht man das Kind 20 bis 30 Minuten ab. Das macht für mich als Kinderchirurgin unter Umständen einen Unterschied aus zwischen einer transplantationspflichtigen Verletzung, also ein Leben lang bleibenden Narben, und einer Verletzung, die ohne Narben abheilt.
fk: Es gilt also, Ruhe zu bewahren. Gibt es denn eine Möglichkeit für Eltern, so eine Sicherheit sich irgendwo zu holen, wenn man sie nicht von vorneherein schon hat?
Märzheuser: Man sollte sich schon vorher Gedanken darüber machen, was mache ich, wenn mal etwas passiert ist. Da gibt es eine ganze Menge Bücher, die Tipps geben. Aber was ich natürlich als Präsidentin der Bundesarbeitsgemeinschaft Kindersicherheit empfehlen würde: Es gibt bei uns eine Erste-Hilfe-Broschüre, die ist genau für Eltern oder Betreuer von Kindern verfasst, die gibt ganz einfache Erste-Hilfe-Tipps und schildert ganz einfache Verbände, von denen ich wirklich denke, dass das eine Mutter – und ich bin selbst Mutter dreier Kinder – auch wenn sie aufgeregt ist, leisten kann.
fk: Wenn man Autofahren lernt, dann ist ja der Erste-Hilfe-Kurs obligatorisch. Sollte es so etwas auch für Eltern geben?
Märzheuser: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Diese Erste-Hilfe-Kurse, die wir alle für den Führerschein machen, die gaukeln einem natürlich vor, dass man jetzt was gelernt hat, und dass man jetzt was weiß. Aber das ist dann viele Jahre her, und gut, man kann auch eine Auffrischung machen, aber gerade Reanimation, Wiederbelebung bei Kindern, ist sehr, sehr schwierig. Glücklicherweise passieren ja häufig eher kleine Unfälle. Natürlich sollte eine Mutter auch, wenn ihr Kind nicht atmet oder einen Herzstillstand hat, versuchen, dieses Kind wiederzubeleben, denn selbst eine falsche Wiederbelebung ist besser, als keine Wiederbelebung. Aber um das perfekt zu können, muss man’s furchtbar oft gemacht haben.
fk: Kann zuviel Information nicht auch dazu führen, dass Mütter oder Väter ihr Kind überhaupt nicht mehr laufen lassen und in Watte packen?
Märzheuser: Das ist ganz bestimmt richtig. Aber man kann nicht alle Kanten glätten. Kleine Unfälle dürfen den Kindern ruhig passieren. Es sind die großen und die schlimmen Unfälle, die ihnen einfach nicht passieren dürfen. Ein Kind darf sich einfach nicht schwer verbrennen, denn dann ist es ein Leben lang geschädigt. Ein Kind darf nicht unter Wasser kommen und nahezu ertrinken, auch das kann zu einer bleibenden Schädigung führen. Oder es darf nicht an die Steckdose fassen. Es gibt Unfälle, die dürfen einfach nicht passieren. Aber sie dürfen sich auch ruhig mal den Kopf stoßen und dann eine kleine Beule haben.
fk: Wie sieht es aus mit Kindergarten, Kinderarzt, Vorschule? Sollten diese Institutionen von sich aus in Erster Hilfe informieren?
Märzheuser: Ich denke, es ist sinnvoll, dass erst mal das Betreuungspersonal sowohl im Kindergarten als auch in der Schule in Erster Hilfe geübt ist. Eine Kindergärtnerin muss unter Umständen 20 Kinder betreuen, und da ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei 20 Kindern, die man jeden Tag zehn Stunden betreut, ein Unfall passiert, unvergleichlich viel höher als bei einem einzelnen Kind zu Hause. Also Kindergärten, und das ist in Berlin auch Pflicht, machen regelmäßig Fortbildung in Erster Hilfe.
fk: Was sind denn die häufigsten Verletzungen, bei denen Erste Hilfe nötig wird, vielleicht auch aus Ihrer Sicht als Kinderchirurgin?
Märzheuser: Das kommt auf das Alter des Kindes an. In der Altersgruppe von null bis einem Jahr ist der häufigste Unfall der Sturz vom Wickeltisch, weil die Kinder zum Beispiel einen Moment lang nur allein auf dem Wickeltisch gelassen werden. Da wäre die einfachste Präventionsmaßnahme, immer eine Hand am Kind, denn man sagt immer, ich habe mein Kind im Auge, aber mit den Augen kann man das Kind nicht festhalten. Und wenn ein Kind vom Wickeltisch stürzt in dieser Altersgruppe, dann fällt es vorzugsweise auf den Kopf, weil der Schwerpunkt in diesem Alter am Kopf liegt. Dementsprechend haben die Kinder dann häufig Schädelverletzungen. Das müssen keine dramatischen sein, aber es kann in schlimmen Fällen bis zu einer Hirnblutung gehen. Also ein Sturz vom Wickeltisch ist manchmal eine Bagatelle, aber leider nicht immer.
In der Altersgruppe von null bis fünf Jahren bleibt der Sturzunfall generell der häufigste Unfall, aber dann treten auch noch andere Ursachen hinzu, zum Beispiel Verbrennungen. Ein Thema, das mich in der Kinderchirurgie immer sehr beschäftigt, weil Verbrennungen häufig bleibende, entstellende Narben zurücklassen. Und ein Kind, was sich mit elf Monaten vielleicht am Inhalt einer Kaffeetasse verbrüht, ist im Alter von elf Jahren unter Umständen immer noch Patient bei uns in der Kinderchirurgie, weil da zum Beispiel, wenn es sich um ein Mädchen handelt, das Brustwachstum beginnt. Und wenn jetzt eine Narbenplatte über dem sich entwickelnden Busen liegt, dann kann der sich nicht entwickeln. Und dann muss man dieses elfjährige Kind, das sich Jahre vorher verletzt hat, operieren.
fk: Was würden Sie Eltern mit auf den Weg geben, die sich mit diesen Problemen überhaupt noch nicht befasst haben?
Märzheuser: Also als erstes würde ich Eltern immer empfehlen, vorausschauend zu denken. Also darüber nachdenken, welchen Entwicklungsschritt wird mein Kind als nächstes nehmen und welche Unfallgefahren lauern da. Dann mache ich mir natürlich auch über mögliche Verletzungen Gedanken. Und dann sollte man sich eben überlegen, wo ist die Erste-Hilfe-Kiste, wo steht die, wie kann ich die erreichen. Und man sollte sich zum Beispiel in Absprache mit dem Kinderarzt beraten, was denn in eine solche Erste-Hilfe-Box hineingehört. Also Verbandmaterial, Coolpacks, um eine Verletzung eventuell zu kühlen. Und was ich sehr empfehle, das ist auch gleichzeitig wieder Prävention, bewahren Sie Medikamente und Verbandmaterial getrennt auf. Wenn Ihre Kinder nämlich älter sind, dann sollten auch Ihre Kinder in der Lage sein, einen Verband anzulegen. Ihre Kinder sollten aber nicht an Medikamente kommen können. Also würde ich das getrennt aufbewahren, das Verbandmaterial an einer Stelle, wo jeder in der Familie weiß, o.k., da steht’s, da darf ich dran, da ist Desinfektionsmittel drin, Pflaster, Verbände. Und dann an einer anderen Stelle, da stehen nur die Medikamente, und da haben nur die Eltern zum Beispiel Zugriff.
Die Fragen stellte Annette Wilmes.
Dr. Stefanie Märzheuser ist Kinderchirurgin an der Charité Berlin und Präsidentin der Bundesarbeitsgemeinschaft Kindersicherheit
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