12 Aug fK 6/03 Uslucan
Interkulturalität in Erziehung und Familie: Risiken und Chancen
von Haci-Halil Uslucan
In einer Welt beschleunigten Wandels nehmen Begegnungen und Zusammenarbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ständig zu. Daraus ergibt sich eine zentrale Anforderung, ein möglichst hohes Maß sowohl an Sensibilität als auch Verständnis für kulturbedingte Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu entwickeln. Kontakte mit Vertretern fremder Kulturen allein oder auch Migrationserfahrungen reichen nicht aus, um Fehlwahrnehmungen und Vorurteile auszuräumen. Hierfür ist die Herausbildung einer spezifischen Schlüsselqualifikation, die der „interkulturellen Kompetenz“, notwendig, um kulturelle Überschneidungssituationen zu bewältigen.
Mit interkultureller Kompetenz werden jene persönlichen Voraussetzungen verstanden, mit Angehörigen verschiedener Kulturen angemessen kommunizieren und zusammenleben zu können. Für den pädagogischen Bereich heißt das, dass mit „interkultureller Erziehung“ nicht früh genug begonnen werden kann, um die Sensibilität für Differenzen von Kindheit an zu lernen und mit ihnen vertraut zu sein.
Erziehung im Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem
Im Folgenden möchte ich mich den Hintergründen der besonderen Sozialisationsbedingungen von Migrantenkindern und -jugendlichen widmen, die generellen Mechanismen und Probleme des Akkulturationsprozesses benennen und zugleich einige Aspekte exemplarisch an der Gruppe der türkischen Migranten näher veranschaulichen. Die Einschränkung auf die türkischstämmige Population folgt inhaltlichen Kriterien: Mit über zwei Millionen Mitgliedern stellt sie die größte ethnische Minderheit innerhalb der rund sieben Millionen zugewanderter Menschen in Deutschland dar.
Vielfach entwickeln Familien türkischer Herkunft in der Aufnahmegesellschaft einen stärker behütenden und kontrollierenden Erziehungsstil als Familien in der Türkei, weil sie die rasche Akkulturation (Erwerb der relevanten Verhaltensaspekte der Fremdkultur) ihrer Kinder als eine Entfremdung von ihren herkunftskulturellen Bezügen deuten. Denn die Kinder ihrerseits sehen sich unter dem Druck, sich in der schulischen Sozialisation rasch an die Kultur des Einwanderungslandes zu akkulturieren, verlieren aber gleichzeitig ihre sozialisatorischen Bindungen an ihre Herkunftskultur. Das Verhalten der Eltern lässt sich daher als eine Reaktion auf eine als gefährdend wahrgenommene Migrationssituation verstehen.
Gleichzeitig bilden Kinder für ihre Eltern ein Medium der Vermittlung der neuen Kultur bzw. eine „Brücke“ zwischen der Kultur des Herkunfts- und des Einwanderungslandes, wodurch sie mehr und mehr das Privileg bekommen, an Informationen heranzukommen, die für sie sonst nicht zugänglich wären. Damit ergibt sich aber innerhalb der Familie eine Umkehrung der familialen Hierarchien zwischen den Generationen, die den üblichen Rollenerwartungen entgegengesetzt ist, weshalb aus der Perspektive der Eltern sie mehr und mehr ihre Autorität gefährdet sehen. Beispielhaft sind hierfür türkische Kinder, die vielfach Übersetzerdienste für ihre Eltern leisten müssen. Bidirektionale Sozialisationsverläufe, bei denen also Kinder ihre Eltern „sozialisieren“, sind bei Migrantenfamilien ein häufig anzutreffendes Phänomen.
Den Studien von Nauck zufolge ist erzieherisches Verhalten türkischer Eltern wesentlich vom Ausbildungsniveau der Eltern determiniert. Je länger die Schulbildung der Eltern war, desto weniger waren traditionelle Geschlechtsrollenorientierungen und behütende Erziehungseinstellungen. Hierbei ist zu bedenken, dass bis 1998 in der Türkei nur eine fünfjährige Schulpflicht bestand und diese erst seit 1998 auf acht Jahre angehoben ist. In der Hierarchie der Erziehungsdispositionen in türkischen Familien nahm die Behütung den ersten Rang ein, gefolgt von der autoritären Rigidität. Permissivität (d.h. Gewährenlassen, liberale Einstellung zu den Wünschen der Kinder) dagegen nahm den letzten Rang ein, d.h. war am wenigsten wichtig. Auf der einen Seite überbehütend und rigide, verfolgen türkische Eltern auf der anderen Seite sehr hohe Bildungsaspirationen für ihre Kinder, d.h. sie wünschen sich für sie hohe Berufsziele; manchmal solche, die in Widerspruch zu den Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder stehen und die die Kinder offensichtlich zu überfordern drohen. Diese hohe Bildungsaspiration ist möglicherweise darin begründet, dass viele türkische Eltern das duale System in Deutschland nicht kennen und qualifizierte Berufe direkt mit akademischen Abschlüssen verbinden, wie es in der Heimat in der Regel auch üblich ist.
Von den Eltern geht in der Erziehung latent eine widersprüchliche Haltung aus, die sich alltagssprachlich wie folgt umschreiben lässt: „Passe dich geistig der deutschen Kultur an, bleibe aber emotional deiner Herkunft treu!“.
Generell scheinen Inkonsistenzen zwischen den familialen Wertvorstellungen der jeweiligen ethnischen Minderheit und den zum Beispiel durch die Schule vermittelten Werten der Aufnahmegesellschaft bei Migrantenkindern höher zu sein. Diese Inkonsistenzen haben Auswirkungen auf das Selbstbild und auf die Leistungsbereitschaft. Durch ihre sprachlichen Defizite erfahren sich Migrantenkinder vielfach als weniger Wert. Sie erfahren weniger Anerkennung, die sie vielfach durch körperliche Auseinandersetzungen (Aggression gegen andere) zu kompensieren trachten.
In der politischen und wissenschaftlichen Diskussion nimmt der Begriff des „Kulturkonflikts“ eine Schlüsselposition ein. Während in den Anfangszeiten der Migration kaum die Rede von „Integration“ der Migranten war, wurde seit den 1970er Jahren, als deutlich bewusst wurde, dass die Arbeitsmigration nicht auf Zeit, sondern auf Dauer angelegt war, kritisch auf die Notwendigkeit einer sinnvollen Integrationsstrategie hingewiesen. Insbesondere die Rückkehrorientierung und die starke Bindung an die Heimat der ersten Generation, die von Anfang an ihre materiellen wie psychischen Investitionen in die Heimatkultur tätigte, erwies sich für die nachkommende zweite wie auch noch dritte Generation als ein Integrationserschwernis. Besondere Aufmerksamkeit kam dabei dem Ansatz der „bikulturellen Sozialisation“ zu. Die Prämisse des bikulturellen Sozialisationsansatzes ging davon aus, dass besonders Kinder gezwungen sind, ihr kulturelles Bezugssystem zu wechseln und dass sie in diesem Kulturwechsel einen Prozess der Entwicklung und Veränderung ihrer Identität durchmachen, der mit einem kulturellen Konflikt einhergeht. Der Konflikt resultiert dabei aus den entgegengesetzten Einflüssen der Familie auf der einen und die des Migrationslandes auf der anderen Seite, die auf das Kind wirken. Vermutet wurde, dass sich diese Diskrepanz der beiden „Kulturen“ auf die Entwicklung von Kindern negativ auswirkt und Identitätsprobleme hervorbringt.
Zweifellos sind die interkulturelle Situation und der Bezug zu zwei unterschiedlichen Kulturen wichtige Aspekte der spezifischen Situation von Migranten. Kulturkonflikt-Konzepte greifen jedoch zu kurz, wenn „Kulturwechsel“ einseitig als eine Entwicklungseinschränkung des Individuums betrachtet wird. Deshalb soll im Folgenden ein Modell vorgestellt werden, das diese Begrenzungen sprengt, gleichermaßen die Perspektiven der Mehrheit und der Minderheit (Aufnahmebereitschaft und Anpassungsbereitschaft) berücksichtigt und explizit interaktiv angelegt ist.
Die Vielfalt der Akkulturationsprozesse
Zwar verinnerlicht das Kind im Laufe seiner Sozialisation zunächst die Werte und Normen seiner Familienkultur, ist jedoch nicht auf diese fixiert, sondern kann diese variabel gestalten. So ist der angebliche Kulturkonflikt, wenn sich z.B. ein türkisches Kind im Elternhaus anders verhält als in der Schule oder im Kindergarten, nicht zwangsläufig ein belastendes Erlebnis, sondern kann auch eine Herausforderung für die Persönlichkeitsentwicklung sein, weil es viel mehr zu einer Stellungnahme und zu einer Reflexion erlebter Differenzen angeregt wird.
Es lässt sich vermuten, dass die Qualität „ökologischer Übergänge“, denen Migrantenkinder und ihre Familien begegnen, wesentlich dadurch bestimmt ist, dass die Eltern das doppelte Verhältnis, einerseits zur eigenen Kultur, andererseits zur Aufnahmegesellschaft, eigenaktiv gestalten müssen. Dabei lassen sich in idealisierter Form vier Optionen unterscheiden: Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung. Während bei Integration und Assimilation Handlungsoptionen stärker auf die aufnehmende Gesellschaft bezogen sind, wobei Integration zugleich Bezüge zur Herkunftskultur stärker berücksichtigt, ist Separation durch eine stärkere Abgrenzung zur aufnehmenden Gesellschaft bei gleichzeitiger Hinwendung zur eigenen Kultur und Marginalisierung durch eine Abgrenzung sowohl von intra- als auch interkulturellen Beziehungen gekennzeichnet. Empirische Befunde sprechen dafür, dass Marginalisation und Separation mit höheren psychischen Belastungen verbunden sind als Integration und Assimilation.
Tabellarisch lassen sich die unterschiedlichen Akkulturationsorientierungen von Migranten und Einheimischen in dem – leicht abgewandelten – theoretischen Konzept von Bourhis, Moise, Perreault, & Senécal (1997) veranschaulichen (Abb. 1). Im Zentrum dieses Modells stehen die Interaktionsbeziehungen zwischen der Migrantenpopulation und der aufnehmenden Mehrheitskultur. Es wird von einer dynamischen Sichtweise ausgegangen.
Aufnehmende Gesellschaft | Migranten | |||
---|---|---|---|---|
Integration | Assimilation | Separation | Marginal- isation | |
Integration | Konsens | Problem atisch | Konflikt | Problem atisch |
Assi- milation | Problem atisch | Konsens | Konflikt | Problem atisch |
Segrega tion | Konflikt | Konflikt | Konflikt | Konflikt |
Exklusion | Konflikt | Konflikt | Konflikt | Konflikt |
Modellhaft wird hier verdeutlicht, mit welchen Alternativen die aus psychologischer Sicht wünschenswerte Akkulturationsorientierung „Integration“ theoretisch zu konkurrieren hat: So zeigt die Tabelle, dass lediglich das Aufeinandertreffen von integrations- oder assimilationsorientierten Haltungen der jeweiligen Mitglieder relativ unproblematisch erfolgt. Alle anderen Konstellationen dagegen sind latent problembehaftet, so z.B. wenn Migranten eine eher integrationsorientierte Haltung favorisieren (d.h. Schlüsselelemente der eigenen Kultur beibehalten wollen) und gleichzeitig die Bereitschaft zeigen, Schlüsselelemente der Aufnahmekultur zu erwerben, die Aufnahmegesellschaft jedoch von ihnen eher eine Assimilation (d.h. die Aufgabe der kulturellen Wurzeln und eine Adaptation der Normen und Werte der Aufnahmekultur) erwartet.
Jedoch scheint hier der Hinweis wichtig, dass individuelles psychisches Wohlbefinden und die politisch wünschenswerte Option „Integration“ nicht immer einhergehen: So bringt beispielsweise eine Rückzugstendenz in landsmannschaftliche Gruppen, die insbesondere in türkischen Familien häufig vorzufinden ist, kurzfristig eine Entlastung und Bewältigung des Stresses mit sich, wird von den Betroffenen als angenehm erlebt, doch auf Dauer werden dadurch Isolation und Segregation von der Aufnahmegesellschaft verstärkt.
Pointiert formuliert lässt sich festhalten: In der Migration kommt es in jedem Falle zu einer Werteveränderung, und zwar auch dann, wenn die Werte der Herkunftskultur aufrechterhalten werden. Denn dann neigen Migranten vielfach dazu, die neue Umwelt mit ihren neuen Werten abzuwehren und sich stärker von ihr zu differenzieren, d.h. sie bilden dann Defensivstrategien aus. Auch zeigen sich bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen erst im Migrationskontext als identitätsrelevant, so etwa bei dem Befolgen des Schweinefleischverbotes in Deutschland, wo Schweinefleisch in großen Mengen zur Verfügung steht. In der Türkei dagegen ist diese Handlung kein Hinweis auf eine islamisch definierte Identität, sondern gehört zum common sense.
Chancen interkultureller Öffnung
In dem Maße, wie die Mehrheitsgesellschaft bestrebt ist, die ethnischen Minderheiten einzuschließen, drückt sie zugleich auch ihre Flexibilität und Toleranz für Abweichungen aus. Als ein klassisches Muster einer gelungenen Integration sind die Polen im Ruhrgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzusehen. Wenn in der Mehrheitskultur die prinzipielle Offenheit signalisiert und kultureller Wandel durch Migranten begrüßt wird, dann erscheint Kultur – als etwas Prozesshaftes und Unabgeschlossenes – als ein gemeinsam geschaffener und weiterhin gemeinsam zu erschaffender Horizont, an dem alle einen Platz haben.
Auf Seiten der Aufnahmekultur können folgende Aspekte ausfindig gemacht werden, die eine Akkulturation von Migranten erleichtern: Einstellung der Mitglieder der Aufnahmekultur gegenüber Fremden, Toleranz gegenüber anderen Denk- und Lebensweisen, kommunikative Offenheit Fremden gegenüber, soziale Durchlässigkeit der Institutionen etc. Will man z.B. türkische Eltern und Kinder zu einer stärkeren Kooperation in schulischen und Betreuungseinrichtungen gewinnen, so ist zu fragen, inwiefern auch deren „Kultur“ in der KiTa oder Schule repräsentiert, akzeptiert, wertgeschätzt und in den pädagogischen Alltag integriert wird. Inwieweit werden dort z.B. religiöse Feste und Rituale wie Ramadan etc. thematisiert? Hier gilt es vermehrt, Eltern, die Experten ihrer jeweiligen Familienkultur sind, in die pädagogische Gestaltung der Einrichtung einzubeziehen.
Vor dem Hintergrund, dass das Eigene wertgeschätzt wird, können Kinder sich auf das Neue und Unbekannte einlassen. Im günstigen Falle erweist sich die so erworbene bikulturelle oder multikulturelle Identität nicht nur inhaltlich reicher (z.B. durch eine konsequente Zweisprachigkeit der Erziehung) sondern auch gefestigter in der Persönlichkeit, weil die Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und zu ertragen) gesteigert wird. Diese Interkulturalität hat nicht nur Auswirkungen auf Kinder nichtdeutscher Herkunft, sondern diese Fähigkeiten werden durch eine konsequente interkulturelle Erziehung auch bei deutschen Kindern angeregt. Denn auch sie müssen lernen mit Differenzen umzugehen, sich mit Neugier statt Angst auf Fremdes einzulassen. Denn wer sich generell akzeptiert fühlt, kann auch andere in ihrem Anderssein tolerieren. Interkulturelle Erziehung kann daher nicht als ein zusätzlicher Aspekt des Erziehungsalltags begriffen werden, wie etwa Gesundheits- oder Verkehrserziehung des Kindes, sondern sollte sinnvoller Weise als ein durchgängiges Prinzip verstanden werden. Interkulturelle Erziehung ist daher als Antwort und Vorbereitung auf die faktisch gelebte Wirklichkeit der multikulturellen Gesellschaft zu verstehen. Sie ist eine Pädagogik für Mehrheiten wie für Minderheiten.
Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. Haci-Halil Uslucan ist Literaturwissenschaftler und Psychologe. Er ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
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