06 Aug fK 3/04 Kasten
Geschwisterbeziehungen –
zwischen Nähe und Rivalität
von Hartmut Kasten
Die Bedeutung von Geschwistern für die individuelle Entwicklung liegt auf der Hand und wird nicht bestritten. Dass Geschwisterbeziehungen in der Forschung trotzdem lange Jahrzehnte wenig Beachtung gefunden haben, ist verwunderlich: Anderen Sozialbeziehungen, wie Eltern-Kind-Beziehungen, (Ehe-)Partnerbeziehungen, Peers-Beziehungen oder hierarchischen Beziehungen (z.B. Vorgesetzter-Untergebene), wurde demgegenüber wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
Ob das inzwischen gewachsene sozialwissenschaftliche Interesse am Forschungsgegenstand Geschwister in Verbindung gebracht werden kann mit der sinkenden Geburtenquote in den reichen Industrieländern, ist eine offene Frage. Faktum ist dagegen, dass in Deutschland Familien mit Geschwisterkindern seltener werden: Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland belegt, dass 1999 in 51,1% aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren nur ein Kind lebte, 37,8% der Familien hatten zwei Kinder, 8,7% drei Kinder und nur 2,4% vier oder mehr Kinder.
Geschwisterbeziehung: grundlegende Merkmale
Beziehungen zwischen Geschwistern können durch spezifische, relativ stabile Merkmale charakterisiert werden, aufgrund derer sie sich von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheiden. Zu den grundlegenden Merkmalen der Geschwisterbeziehung gehören:
– Die Geschwisterbeziehung ist die längste, d.h. zeitlich ausgedehnteste Beziehung im Leben des Menschen.
– Geschwisterbeziehungen besitzen etwas Schicksalhaftes, weil man sie sich nicht aussuchen kann, sondern in sie hineingeboren wird.
– Geschwisterbeziehungen können nicht beendet werden; sie wirken fort, auch wenn sich die Geschwister getrennt haben oder keine Kontakte mehr stattfinden.
– In unserem Kulturkreis gibt es keine gesellschaftlich kodifizierten Regeln, die auf den Ablauf und die Gestaltung von Geschwisterbeziehungen Einfluss nehmen (so wie Heirat, Scheidung, Taufe, Kündigung oder andere legislativ bzw. religiös verankerte Prozeduren und Rituale).
– Zwischen Geschwistern existieren im Allgemeinen mehr oder weniger ausgeprägte, ungeschriebene Verpflichtungen, die sich in solidarischem, Anteil nehmenden, hilfsbereitem und hilfreichem Verhalten manifestieren können.
– Durch das „Aufwachsen in einem Nest“ können Geschwisterbeziehungen durch ein Höchstmaß an Intimität charakterisiert sein, das in keiner anderen Sozialbeziehung erreicht wird.
– Typisch für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tiefverwurzelte (oftmals uneingestandene) emotionale Ambivalenz, d.h. das gleichzeitige Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen (Liebe, Zuneigung) und negativen Gefühlen (Ablehnung, Hass).
Nähe: die positive Komponente in der Geschwisterbeziehung
In einer großen Zahl empirisch orientierter Arbeiten wurde versucht, mit Konstrukten wie „affection“, „affiliation“, „closeness“ oder „intimacy“ die zwischen Geschwistern im allgemeinen nachweisbare Nähe, Vertrautheit und gefühlsmäßige Verbundenheit zu erfassen. Die methodischen Bemühungen des Messbarmachens von „Nähe“ zielen dabei in zwei Richtungen: Erfassung von „Nähe“ als innerpsychischem Zustand durch Aufzeigen von subjektiven Variablen (z.B. Emotionalität, innere Wahrnehmung) beziehungsweise Erfassung des Konstruktes von „außen“ durch soziologische, soziodemographische und physikalische Variablen (z.B. Kontakthäufigkeit, geographische Distanz der Wohnorte, Familienstand, Kinderzahl).
Versucht man die vorgelegten Befunde in längsschnittlicher Orientierung zusammenzufügen, so zeichnet sich folgendes Gesamtbild ab: In der frühen Kindheit ist es zunächst Aufgabe der Eltern, einer Beziehung zwischen den Geschwistern den Weg zu ebnen. Nach Kreppner, Paulsen und Schütze (1981), die ein Drei-Phasen-Modell für die Zeit nach der Geburt des zweiten Kindes in der Familie vorlegten, obliegt es den Eltern in der ersten und zweiten Phase (bis ungefähr zum 16./17. Lebensmonat des jüngeren Geschwisters), den Ansprüchen der beiden Kinder gerecht zu werden und damit die Beziehung zwischen den Geschwistern zu regeln. Im Verlauf der dritten Phase, die bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr des zweitgeborenen Kindes dauert, nehmen die Konflikte zwischen den Geschwistern allmählich ab und nach und nach etabliert sich zwischen ihnen eine Beziehung, die auch unabhängig von elterlichen Einflüssen Eigendynamik gewinnt.
Britische und nordamerikanische Forscherteams (z.B. Teti & Ablard 1989), die sich mit der Entwicklung von „attachment“ oder Anhänglichkeit zwischen Geschwistern im Verlaufe der frühen Kindheit beschäftigten, fanden Anhaltspunkte dafür, dass die jüngeren Geschwister mehr Attachmentverhalten bezogen auf die älteren Geschwister zeigen als umgekehrt und dafür, dass eine sichere und verlässliche Bindung beider Kinder an die Mutter dem Aufbau von Anhänglichkeit zwischen den Geschwistern förderlich ist.
Ein geringer Altersunterschied und Gleichgeschlechtlichkeit begünstigen wechselseitige Identifikationsprozesse zwischen den Geschwistern, worauf z.B. auch die Familientherapeuten Bank und Kahn hinweisen, die zwischen Geschwistern mit hohem (emotionalen) Zugang zueinander und niedrigem Zugang differenzieren. Ein niedriger emotionaler Zugang zueinander (und wenig Nähe und Intimität) korreliert häufig mit einem großen Altersunterschied (von mehr als acht Jahren) und Ungleichgeschlechtlichkeit (vgl. Bank & Kahn 1989).
Eine Reihe von Forschungsbefunden sprechen dafür, dass sich im Verlaufe der Jugendjahre Geschwister immer mehr weg von der Herkunftsfamilie bewegen: die gleichgeschlechtlichen Freundschaften und im allgemeinen ungleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen erhalten einen immer höheren emotionalen Stellenwert, demgegenüber die Geschwister zunehmend in den Hintergrund rücken (vgl. z.B. Pulakos 1989). Die während der Adoleszenz und frühen Erwachsenenjahre anstehenden Entwicklungsaufgaben, eine eigene Identität und Intimität aufzubauen, d.h. die Fähigkeit, enge Beziehungen einzugehen und intensive Beziehungen zu gestalten und aufrechtzuerhalten, bringen es mit sich, dass sich die Geschwister (häufig auch geographisch) etwas voneinander entfernen und die Nähe zwischen ihnen sich reduziert.
Im mittleren Erwachsenenalter, wenn der Beruf und die Karriere, die Partnerbeziehung und die Kindererziehung im Vordergrund stehen, rücken die Geschwister (und meist auch die eigenen Eltern) etwas in den Hintergrund. Nicht selten reduzieren sich während dieser Altersphase die geschwisterlichen Kontakte auf regelmäßige, fast ritualisierte Treffen zu besonderen Anlässen, wie Feiertage, Geburtstage oder Jubiläen. Im späteren und höheren Erwachsenenalter und höherem Alter rücken die Geschwister dann in der Regel wieder näher zusammen. Wenn die erwachsen gewordenen Kinder das Haus verlassen haben, beginnen für die Geschwister gemeinsame Entwicklungsaufgaben, in deren Mittelpunkt die alten Eltern stehen.
Rivalität: Die negative Komponente in der Geschwisterbeziehung
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Rivalität (und damit verbundene negative Gefühle, wie Eifersucht, Neid, Ablehnung, Aggression) zum Geschwisteralltag dazu gehört, so wie Geschwisterliebe, -solidarität und -vertrauen. Viele Geschwisterforscher sind sogar der Meinung, dass das gleichzeitige Vorhandensein von positiven und negativen Gefühlen ein ganz wesentliches, universelles Merkmal aller Geschwisterbeziehungen ist. Rivalität zwischen Geschwistern kommt also nicht nur in unserem Kulturkreis vor, sondern ist auch in anderen Gesellschaften verbreitet, kann z.B. also auch in so genannten Stammeskulturen, bei den sprichwörtlich friedlichen Südseeinsulanern, beobachtet werden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass es auch in der Vergangenheit nicht anders war; jedenfalls finden sich historische Dokumente von verfeindeten Geschwistern, die sich ihr Leben lang erbittert bekämpften, in großer Zahl und im Alten Testament faszinieren die Geschichten von Kain und Abel oder von Jakob und seinen Brüdern.
Ursachen von Geschwisterrivalität
Über die Ursachen, die letzten Wurzeln von Geschwisterrivalität wurde viel geschrieben. Bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts vertraten die Gründungsväter der Psychoanalyse die Ansicht, dass Geschwister beständig um die Liebe und Zuneigung der Eltern kämpfen. Es beginnt mit dem „Entthronungstrauma“, welches das ältere Geschwister erlebt, wenn sein jüngeres Geschwister auf die Welt kommt. Von diesem Zeitpunkt an fühlt es sich zurückgesetzt, muss lernen zu teilen und steht nicht mehr allein im Mittelpunkt der elterlichen Aufmerksamkeit. Es empfindet Eifersucht dem jüngeren Geschwister gegenüber und tut sich schwer zu akzeptieren, dass sich die Mutter immer so lange und intensiv mit dem Baby beschäftigen muss, um es zu versorgen, zu trösten und mit ihm zu schmusen. Nicht selten verhält es sich dem Jüngeren gegenüber offen ablehnend und entwickelt sogar feindselige Impulse.
Die Haltung der Eltern
Dass es nicht zwangsläufig zu einem Entthronungstrauma kommen muss, liegt auf der Hand. Wenn sich die Eltern bemühen, das ältere Kind angemessen vorzubereiten auf das bevorstehende „freudige Ereignis“, ihm z.B. die Vorteile des Lebens mit einem Geschwister verdeutlichen, und darauf achten, dass es nicht zu kurz kommt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die ablehnende Haltung des Älteren in Grenzen hält. Der Vater kann dadurch dazu beitragen, dass er sich in den kritischen ersten Monaten besonders intensiv um das „entthronte“ ältere Kind kümmert. Dieses ist dann vielleicht hin und wieder einmal neidisch auf das Jüngere, wenn es mehr Beachtung, z.B. von Verwandten, Bekannten oder Freunden der Eltern erfährt, kommt aber im allgemeinen ganz gut mit ihm zurecht, besonders dann, wenn es sich allmählich als immer besserer Spielpartner erweist.
Weitere Gründe für Geschwisterrivalität
Für erfahrungswissenschaftlich orientierte Psychologen ist der Kampf um die Liebe der Eltern nur eine Ursache von geschwisterlicher Rivalität. Sie führen andere Gründe ins Feld, die im konkreten Fall wichtiger sein können und in den Vordergrund treten. Regelmäßig zu beobachten ist nämlich, dass Geschwister besonders dann intensiv miteinander rivalisieren, wenn sie altersmäßig eng benachbart sind und das gleiche Geschlecht haben. Solche Geschwisterpaare sind oft wie Hund und Katze, ihre ständigen Streitereien strapazieren das Nervenkostüm der Eltern und trüben das Familienklima. Schaut man genauer hin, woran sich Geschwisterstreit entzündet und warum es immer wieder zu aggressiven Auseinandersetzungen kommt, so wird deutlich, dass es in erster Linie die beständigen Vergleiche sind, welche die Geschwister bezogen aufeinander anstellen und die sie bewegen, miteinander in Konkurrenz zu treten. Sie vergleichen sich miteinander natürlich, weil sie einander in der Regel recht ähnlich sind (Geschwister haben im Durchschnitt 50% identische Gene) im Hinblick auf Aussehen, Eigenschaften und Fähigkeiten und weil sie so oft miteinander zu tun haben (Geschwister im Kleinkind- und Kindergartenalter verbringen die meiste Zeit zusammen). Dadurch finden sich ständig Anlässe zu Vergleichen („Der kann das aber besser…“ – „Der darf das und ich nicht“ – „Der hat etwas, was ich nicht habe“ usw.) und im Gefolge Gefühle von Benachteiligung (zuweilen auch Bevorzugung), Kränkung und Frustration. Natürlich können die Eltern die Neigung ihrer Kinder sich zu vergleichen noch verstärken und das geschwisterliche Konkurrieren und Wetteifern dadurch noch anstacheln. Das gelingt ihnen z.B. dadurch, dass sie von sich aus Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Sprösslinge hervorheben, zueinander in Kontrast setzen und bewerten („Der Große ist unsportlicher“ – „Der Kleine hat zwei linke Hände“ usw.). Wenn sie sich darüber hinaus wenig Mühe geben, die Kinder gerecht zu behandeln und keines (auch nicht vorübergehend) zu bevorzugen, dann entsteht eine Atmosphäre, in der Rivalität und damit verbundene Gefühle von Neid und Eifersucht an der Tagesordnung sind.
Eine gewichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung von Geschwisterrivalität spielt aber auch die Gesellschaft: In unserem Kulturkreis ist „Leistung“ ein zentraler Wert; wir werden nach Leistung und unserer Effizienz im Produktionsprozess bezahlt und jemand, der wenig leistungsfähig ist oder gar Leistung verweigert, gilt als Tunichtgut oder Schmarotzer. Um optimale Leistung zu erbringen, treten wir in Konkurrenz zu anderen, wetteifern um die beste Idee, sinnvollste Verbesserung, großartigste Erfindung, revolutionärste Neuerung. In unserer Leistungsgesellschaft sind Konkurrenzkampf und Wettbewerb allgegenwärtig und dominieren das Leben. Das gilt für öffentliche Bereiche, wie Wirtschaft, Kultur, Sport, Politik, in gleicher Weise, wie für die privaten Belange in Partnerschaft und Familie. Und so werden schon die Kleinsten, lange bevor sie in den Kindergarten kommen, bewertet und miteinander verglichen auf der Grundlage von Leistungskriterien („früher“, „schneller“, „besser“). Ihre Lernfortschritte – schon beim Sauberwerden, Laufen- und Sprechenlernen – und die von ihnen angefertigten Produkte, ihre ersten gemalten Kopffüßler und korrekt gelegten Puzzles, stehen im Mittelpunkt des elterlichen Interesses. Und die Eltern, die die Normen der Leistungsgesellschaft verinnerlicht haben, würdigen weniger den individuellen Fortschritt ihrer Kinder, sondern beurteilen deren Leistungen und Fortschritte unter Bezugnahme auf Gütemaßstäbe, die ihnen von Elternzeitschriften und Erziehungsratgebern vorgegeben werden. Sie vergleichen dabei natürlich auch die unterschiedlichen Leistungen ihrer Kinder und spiegeln dies, zuweilen ohne dass es ihnen bewusst ist, diesen wieder. Besonders augenscheinlich wird diese Tatsache, wenn man sich vor Augen führt, dass bereits im Kindergarten die Bastelarbeiten, Bilder und sonstigen Werke der Kleinen ausgestellt werden und zu kritischen Vergleichen geradezu auffordern.
Günstige Geschwisterkonstellationen
Dass Geschwister, die altersmäßig eng beieinander liegen und dasselbe Geschlecht haben, in aller Regel intensiver miteinander rivalisieren, wurde bereits erwähnt und ist auch einleuchtend: Sie erleben sich als ähnlicher, als dies z.B. bei Geschwistern mit größerem Altersabstand und ungleichem Geschlecht der Fall ist, und haben deshalb in ihrem alltäglichen Umgang miteinander auch viel mehr Berührungs- und Vergleichspunkte, an denen sich Streit und Wettkampf entzünden kann. Der „große Bruder“ und die „kleine Schwester“ haben im Alltag nicht nur nicht so viel miteinander zu tun, sondern unterhalten zumeist auch ein recht harmonisches, entspanntes Verhältnis, in dem Rivalität kaum einen Stellenwert hat.
Viele Familienpädagogen raten jungen Eltern einen Altersabstand von drei Jahren zwischen ihren Kindern einzuhalten. Dieser Altersabstand hat sich in der Praxis häufig als optimal erwiesen, denn er trägt nicht selten dazu bei, dass die Geschwister besonders gut miteinander auskommen, nicht so oft rivalisieren und viel miteinander anfangen können.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Dr. habil. Hartmut Kasten ist Mitarbeiter am Staatsinstitut für Frühpädagogik und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München
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