06 Aug fK 6/04 Lempp
Veränderte Gesellschaft – veränderte Kindheit – veränderte Werte?
von Reinhart Lempp
Jeder Mensch – so habe ich als Student in Tübingen bei Eduard Spranger gehört – hat zu jeder Zeit den Eindruck, dass er gerade in einem gesellschaftlichen Umbruch lebe. Dennoch glaube ich, dass wir es von unserer Zeit mit Recht behaupten können, und wenn man wie ich alt genug geworden ist, dann kann man auch die Beispiele der Veränderung ohne weiteres benennen. Es geht aber mir heute nicht darum, diese Änderungen zu beklagen und zu kritisieren, sondern es geht mir darum, sie deutlich zu machen und damit zu helfen, mit diesen Veränderungen richtig umzugehen.
Ich beschränke mich dabei im Wesentlichen auf zwei Bereiche, bei welchen die gesellschaftlichen Veränderungen besonders deutlich sind: Das sind die Familie und die Folgen der so genannten elektronischen Revolution.
Veränderungen in der Familie
Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist die Familie bei uns kleiner geworden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen in jeder Familie durchschnittlich vier Kinder lebend zu Welt, wovon drei das 15. Lebensjahr erreichten. Heute bekommt jede Frau – natürlich im Durchschnitt – nur etwa 1,3 Kinder.
Im Zusammenhang damit sind auch immer mehr Mütter berufstätig als früher. Es sind bei uns allerdings weniger als in andern europäischen Staaten, wie auch in der ehemaligen DDR. Vor hundert Jahren, als noch fast 90 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft lebten, waren die Mütter auch berufstätig, aber die Arbeitswelt der Eltern war auch die Welt der Kinder. Erst seit der zunehmenden Industrialisierung kennen die meisten Kinder die Arbeit ihrer Eltern meist gar nicht mehr. Da auch mehr Frauen als früher eine differenzierte Ausbildung absolvieren, werden die Mütter bei ihrer ersten Geburt immer älter. Das Erstgeburtsalter steht zur Zeit bei 28 Jahren, mit Tendenz zu 30 Jahren.
Vor über hundert Jahren verließen noch etwa 95% der Kinder mit etwa 15 Jahren das Elternhaus zur Lehre oder Lohnarbeit, heute besuchen über die Hälfte eine weiterführende Schule und bleiben bis zum 19. oder 20. Lebensjahr zu Hause. Auch wenn sie eine Lehre machen, bleiben sie meist daheim bei den Eltern. Für die Schulkinder gibt es Schulbusse oder sie werden von einem Elternteil dorthin gefahren. Meine Mutter ging noch auf der Schwäbischen Alb täglich acht Kilometer zur Schule, wenn sie nicht manchmal der Briefträger auf dem Fahrrad mitnahm.
Die Ehe wird zunehmend zur probeweisen Lebens- oder Lebensabschnittsgemeinschaft. Jede dritte Ehe wird geschieden. Damit nimmt auch die Zahl der Scheidungswaisen und die der nichtehelichen Kinder ebenso zu, wie die Zahl der Alleinerziehenden. Dabei sind dies bei den tatsächlich Alleinerziehenden im Verhältnis eins zu zehn die Mütter.
Schließlich ist noch zu erwähnen, dass eine genau geplante Elternschaft seit etwa 40 Jahren möglich und üblich geworden ist.
Die elektronische Revolution
Noch nach dem zweiten Weltkrieg benötigte man, um von Heidelberg nach Mannheim zu telefonieren, einen ortsfesten Telefonanschluss und das Fräulein vom Fernamt. Heute kann jedes Kind mittels Handy, wo es sich auch gerade aufhält, um die halbe Welt telefonieren, und besorgte Eltern können sich jederzeit vergewissern, wie es ihren Kindern geht, sofern diese nicht vorsorglich ihre Handys ausgeschaltet haben.
Man braucht heute kaum mehr Kenntnisse in den Grundrechenarten. Der Taschenrechner erledigt das allein.
In fast jeder Wohnung steht heute ein Fernsehgerät, das 24 Stunden täglich visuelle Unterhaltung bietet, und im Internet findet man bequem viele interessante und noch mehr uninteressante Informationen. Die jungen und die erwachsenen Kinder können sich mit Videospielen aller Art ihre Langeweile vertreiben.
Was hat das für Folgen für die Kinder?
Als die wesentlichste Folge erscheint mir das Faktum, dass der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder eingeschränkt wurde. Das muss nicht in jedem Fall ein Nachteil sein, denn nicht alle Eltern haben einen nur positiven Einfluss auf ihre Kinder. Jedenfalls aber erleben Eltern und Kinder weniger Zeit miteinander, vor allem nur noch die Freizeit, keine Arbeitszeit mehr. Wir haben vorwiegend Wochenendfamilien und neben die Eltern treten schon in den ersten Kindheitsjahren andere Personen, die das Wesen der Kinder prägen, die Tagesmutter, die Erzieherinnen und Erzieher in Hort, Kindergarten und in der Schule, aber auch fremde und anonyme Informanten, auf welche die Eltern keinen Einfluss mehr haben.
Die Zunahme der Ehen mit einem oder zwei Kindern haben bezüglich der Einzelkinder keine bekannten negativen Folgen. Eine frühere Untersuchung ergab auf die Frage, welche Kinder in welcher Geschwisterkonstellation in einer kinderpsychiatrischen Klinik und Ambulanz unverhältnismäßig häufiger vorgestellt werden, dass es die Älteren von zwei Geschwistern sind. Wir haben das so gedeutet, dass diese die Entthronung als verwöhntes Erst- und Einzelkind nur an sich selbst erleben, und nicht, wie nach der Geburt weiterer Kinder, dass auch die Nächsten aus dieser Position ebenso verdrängt werden. Auch sind zwei Geschwister ausweglos auf sich gegenseitig angewiesen und können nicht, wie bei drei und mehr Geschwistern, wechselnde duale Beziehungen eingehen.
Soziales Lernen ist für Einzelkinder im allgemeinen erst im Hort oder im Kindergarten möglich, wogegen Kinder in einer Geschwisterreihe dies ganz von allein vom ersten Lebenstag an erfahren. Das soziale Lernen im Kindergarten geschieht auch nicht auf der gleichen emotionalen Basis wie in der Familie, weil die anderen Kinder zunächst fremd sind. Überhaupt beeinträchtigen die fehlenden Geschwister und die vermehrte Abwesenheit der berufstätigen Eltern dieses soziale und emotional geprägte Fundament des Kindes. Großeltern, die im Allgemeinen heute länger leben als früher, können das bis zu einem gewissen Grade ersetzen, wenn sie in der Nähe wohnen.
Wir haben früher einmal an Hand der Kirchenbücher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zwei Gemeinden bei Tübingen untersucht, wie in der damaligen Zeit dieses soziale Netz beschaffen war. Es zeigte sich, dass damals 75% bis 85% der Bevölkerung zeitlebens im Ort geblieben sind. Das bedeutet, dass sie zwar mit einem ziemlich kleinen Horizont lebten, aber ganz stabile, das ganze Leben überdauernde soziale und emotionale Bindungen pflegen konnten.
Die Labilität der Ehen, ihre relative Unverbindlichkeit, der Wechsel der Partnerschaften unter den Eltern erhöht die Bedeutung solcher emotionaler Basiserfahrungen für die Kinder. Wenn sie bis etwa zu ihrer Pubertät mit ihren Eltern zusammenleben konnten, dann sind diese Veränderungen der Elternbeziehungen für sie nicht mehr so belastend. Wenn es aber noch Klein- und Grundschulkinder sind, wenn sich ihre Eltern im Streit trennen, dann verlieren sie meist einen Elternteil, denn sie müssen sich und können sich nur mit einem der beiden identifizieren und das ist in der Regel derjenige, mit dem sie nach der Trennung mehr zusammenleben. Sie verleugnen dann oft der eigenen Erfahrung zuwider ihre bisherige Bindung an den anderen Teil, weil sie sich noch nicht allein zwischen die Eltern stellen können.
Die relative Unverbindlichkeit der Ehe beseitigt zwar manche früher erzwungene Heuchelei, sie macht aber diese Beziehungen immer weniger belastbar, und die Kinder lernen dabei nicht, wie Konflikte bewältigt werden können. Gute und schlechte Ehen werden „erblich“.
In der Beteiligung der Väter an der Kinderpflege und ihrer Betreuung hat sich manches gebessert, wenn auch noch nicht genug. Andererseits ist es unvermeidbar, dass die Beziehung der Mutter zum Kind immer einen Vorsprung von neun Monaten hat und das sollten die Väter auch akzeptieren.
Auch die einfach gewordene Planbarkeit der Kinder kann meines Erachtens die Eltern-Kind-Beziehung beeinträchtigen. Zum einen ist Planen immer ein Risiko und neun Monate dauert es immer noch, bis ein Kind zur Welt kommt und da kann sich manches ändern, so dass sich die Planung als falsch erweisen kann. Die Verantwortung für die Existenz eines Kindes liegt jetzt allein bei den Eltern, wo sie früher eine Gottesgabe oder eine erhoffte Selbstverständlichkeit war. Wenn das Kind nun nicht den hohen Erwartungen der Eltern entspricht, und sei es nur für kurze Augenblicke, oder wenn es gar mit einer Behinderung zur Welt kommt, dann kann der Entschluss nachträglich und damit die Existenz des Kindes bereut werden, was zumindest zu Schuldgefühlen der Eltern gegenüber dem Kind führen kann.
Die Veränderungen, die am stärksten in unsere Lebensweise und Gewohnheiten eingegriffen haben, sind die rasanten Entwicklungen der Elektronik, und dabei für die Kinder – wenn auch nicht nur für diese – besonders die Allgegenwart der Bildmedien. Dabei geht es nicht nur darum, dass viele Kinder – wie am Wochenende auch manche Eltern – täglich mehrere Stunden vor der Glotze sitzen, dabei viel Neues aus der ganzen Welt erleben können, aber nicht mehr die kreativitätsfördernde Wirkung der Selbstüberwindung der Langeweile erfahren können. Es geht um grundsätzliche entwicklungspsychologische Probleme, die meines Erachtens noch zu wenig erkannt und beachtet werden. Um dies ermessen zu können, muss man die grundsätzlich andere Wirkungsweise des Bildes, insbesondere des bewegten Bildes, gegenüber dem gehörten oder gelesenen Text kennen.
Wenn man einem Kinde eine Geschichte, etwa ein Märchen erzählt, dann stellt sich das Kind das Gehörte entsprechend seiner psychischen Struktur, seiner Fantasie und seiner Sensibilität in seiner eigenen, ganz individuellen Weise vor. Wenn dagegen beispielsweise eine Million Kinder einen Film über Schneewittchen ansehen, dann sieht Schneewittchen für diese Million Kinder zumindest für eine längere Zeit völlig identisch aus. Auch kann das Kind dabei belastende Szenen, Grausamkeiten und Brutalitäten, nicht ausklammern, sondern muss sie so aufnehmen, wie sie gezeigt werden. Auch in erzählten Märchen kommen grausame Szenen vor und empfindsame Kinder haben danach manchmal Einschlafschwierigkeiten, aber sie brauchen sich dies nicht mit allen belastenden Einzelheiten auszumalen.
Der Film dagegen nimmt keine Rücksicht auf die unterschiedliche Sensibilität der Zuschauer und erzwingt die Konfrontation. Sieht ein Kind oder ein Jugendlicher häufig solche Brutalitäten, dann bleibt ihm nur die seelische Abstumpfung, die gewohnheitsmäßige Vermeidung seiner natürlichen Empathie, der Fähigkeit und Bereitschaft sich in andere einzufühlen. Damit kann es dann „coolness“ beweisen, was sein Ansehen in der Clique steigern kann.
Dazu kommt, dass ein Kind erst nach seiner Einschulung Lesen lernt und erst mit etwa acht oder neun Jahren längere Texte ganz selbständig lesen und verstehen lernt. Einen Film kann es dagegen schon im Säuglingsalter ansehen, und schon bald danach auch inhaltlich erkennen und verstehen.
Nun geht es aber nicht nur um psychisch belastende Szenen, sondern es geht um die Unterscheidungsfähigkeit von Wirklichkeit und Schein, von Realität und Virtualität. Kinder bauen ihren Bezug zur Realität erst im Laufe der ersten Lebensjahre allmählich auf, sie fühlen sich als der Mittelpunkt ihrer Welt und beziehen alles, was geschieht, zunächst auf sich selbst, sie leben egozentristisch. Ihre Vorstellung ist dabei subjektiv genau so real und wirkungsfähig wie das, was wir als Realität bezeichnen. Ich bezeichne diesen subjektiven und objektiven Realitätsbezug als Nebenrealität und Haupt- oder gemeinsame Realität. Das Kind lernt allmählich diese zu unterscheiden und gewinnt auch die Fähigkeit zum Wechsel von der einen Realitätsebene zur anderen, die Überstiegsfähigkeit. Erst etwa mit der Einschulung dominiert eindeutig die gemeinsame Realität, diejenige der sie umgebenden Erwachsenen.
Beim Film aber, der sich bemüht, die Realität möglichst genau darzustellen, der „täuschend echt“ ist, kann ein kleines Kind diese Unterscheidung noch nicht sicher treffen. Selbst wir Erwachsenen lassen uns in einem positiv emotionalen Film gern von der Nebenrealität gefangen nehmen und kehren erst zur Wirklichkeit zurück, wenn das Licht im Kino wieder angeht. Zeichentrickfilme, also Filme, die nicht „täuschend echt“ sind, stellen daher für die Überstiegsfähigkeit der Kinder kaum Probleme dar.
Viele der Gewaltfilme lösen bei Zuschauern, vor allem beim noch nicht abgestumpften Kind und Jugendlichen, Angst aus. Angst aber ist die entwicklungsgeschichtlich wohl älteste, und deshalb wohl die wichtigste und folgenreichste Emotion, die es gibt. Auch das Tier hat Angst, aber nur vor einer realen, gegenwärtigen Bedrohung, auf die es entweder mit Flucht oder Aggression reagiert. Der Mensch aber kann sich als wohl einziges Säugetier seine Zukunft vorstellen. Das macht ihn einerseits sicherer, weil er Gefahren vermeiden und Vorsorge treffen kann, andererseits kann er auch vor ihr Angst bekommen. Da die angstauslösende Gefahr aber nicht real, sondern nur in seiner Vorstellung besteht, kann er nicht vor ihr fliehen, allenfalls mit Drogen vorübergehend. So bleibt ihm nur die Aggression, die er dann, weil keine konkrete Bedrohung vorhanden ist, an irgend jemand Schwächerem oder im Vandalismus abreagiert. Hinter jeder Aggressivität steht immer eine unbewältigte Angst. Auch dies ist eine der Wirkungen unserer Bildmedien und Gewaltvideos.
Diese haben aber noch weiter reichende und bisher kaum beachtete Folgen: Es gibt offenbar einzelne Menschen, insbesondere Jugendliche in der Reifeentwicklung und in der Zeit danach, die sich so intensiv und ausdauernd, fast süchtig mit aggressiven Videospielen beschäftigen und sich dabei so weit mit den Helden dieser Handlungen identifizieren, dass sie vorübergehend den Bezug zur Realität verlieren und wie Kinder diese von der Virtualität nicht mehr unterscheiden können und Tötungsdelikte begehen. Ein solcher Fall ist – für mich ganz ohne Zweifel – der 19jährige Robert Steinhäuser in Erfurt, der am 26. April 2002 zwölf Lehrerinnen und Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und dann sich selbst erschoss.
Diese Tat hatte damals bei uns großes Aufsehen erregt, obwohl es vorher schon vergleichbare Taten gab, in Bad Reichenhall, in Freising und in Gersthofen bei Augsburg. Alle diese Täter waren intensive Videokonsumenten. Aber außerhalb von Deutschland, vor allem in den USA, ist das Phänomen der „School Shootings“ bekannt und zwar in etwa 80 Fällen. Die bekannteste Tat war die in Littleton in Colorado, über die Michael Moore den Film „Bowling for Columbine“ gedreht hat. Diese Serie der School Schootings begann 1974 und steigerte sich bin heute kontinuierlich. Der amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Stop to teach our kids to kill“, in dem er darauf hinwies, dass dieselben Videos an den Kriegsschulen verwendet werden, um bei Spezialtruppen die Tötungshemmungen zu überwinden.
Der Einwand der Hersteller solcher Videos ist der Hinweis, dass Millionen Jugendlicher täglich solche Videos ansehen, ohne dass sie das Gesehene realisieren würden. Das ist nicht stichhaltig. Wenn ein nützliches Medikament in wenigen Fällen Todesfälle hervorrufen kann, dann wird dieses Medikament aus dem Verkehr gezogen. Es gibt offenbar eine bestimmte soziale und intrapsychische Konstellation bei einer bestimmten Anzahl von Jugendlichen, die dazu neigen, sich mit ihren Videohelden zu überidentifizieren und dann vorübergehend einen Realitätsverlust erleiden. Sie sind aber offensichtlich weder vorher noch nachher psychisch krank oder auffällig.
Ich habe seither im Rückblick aus meiner Erfahrung als Gerichtsgutachter in etwa 150 bis 200 Fällen von Tötungsdelikten einige wenige Fälle solcher Überidentifikation bei jugendlichen Tätern auch ohne Videokonsum gefunden. Die fanden nicht an Schulen statt. Es gibt wahrscheinlich häufiger solche Handlungen infolge Überidentifikation, sie fallen aber nur auf, wenn sie krimineller oder sonst spektakulärer Natur sind. Aber ich denke, schon seit Einführung der Schulpflicht träumen Jugendliche davon, einen ihrer Lehrer umzubringen, aber warum tun sie es erst seit 1974 in erschreckend zunehmendem Maße? Weil seither solche Videospiele weltweit und zunehmend verbreitet sind. Ein ursächlicher Zusammenhang liegt jedenfalls sehr nahe.
Und was ist mit den Werten?
Was sind eigentlich Werte? Ich denke, es sind Ideen, Vorstellungen von Haltungen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Urteilsweisen, die wir dann Tugenden nennen, die das Leben in einer Gemeinschaft für alle gemeinsam, aber auch für jeden einzelnen erleichtern und lebenswerter machen. Solche Ideen und Vorstellungen sind jedoch keineswegs absolut feststehend, sie wandeln sich im Lauf der Zeiten und Jahrhunderte. Die Haltung, die Würde eines jeden Menschen zu achten, ist ein Wert, den wir erst nach bitteren eigenen Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert als grundsätzlich notwendig einzusehen gelernt haben, und der vor längerer Zeit, als noch Hexen verbrannt und noch vor gar nicht so langer Zeit Menschen öffentlich blamiert und herabgewürdigt wurden, noch nicht als ein Wert für alle anerkannt war.
Das bedeutet, dass das, was wir als Werte bezeichnen, für uns und unsere Kinder nicht selbstverständlich und gewissermaßen angeboren ist. Sie müssen gelernt, sie müssen anerzogen werden. Erziehung ist aber kein Tun, sondern vielmehr ein Sein. Sie ist nicht nur die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, die nun Werteerziehung als neues Fach in den Unterrichtskatalog aufnehmen sollen. Erziehung ist, wie Pestalozzi einmal gesagt haben soll, Vorbild und Liebe. Es sind also vor allem die Eltern, die für die Erhaltung und Weitervermittlung der Werte verantwortlich sind.
Wir leiden nicht an einem Werteverlust, wie manche Leute – vor allem alte Leute – klagen. Unsere Werte werden im Grunde von den meisten Menschen theoretisch bejaht und anerkannt, aber nicht mehr überall gelebt, und unsere Kinder erleben sie nicht mehr regelmäßig und selbstverständlich, wie das auch der Pädagoge Hartmut von Hentig in seinem Büchlein „Ach die Werte“ beschreibt. Auch die geringer gewordene Bedeutung der Kirchen bei uns, die doch früher eine feste Burg für die Wahrung der Werte gewesen waren, mag zur Unsicherheit beim Bestand der Werte beigetragen haben.
Da wirkt sich aus, dass an der Erziehung der Kinder immer mehr fremde Menschen beteiligt sind, das heißt, dass auf viele Vorbilder, welche die Kinder erleben, die Eltern keinen Einfluss mehr haben. Einer derjenigen, die am stärksten als Vorbilder und Erzieher wirken, ob sie wollen oder nicht, sind die Bildmedien, nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für uns Erwachsene.
Das ist jedoch nicht so sehr das Fernsehprogramm im Allgemeinen. Die Rührserien sind nicht gegen unsere Werte gerichtet und auch in den klassischen Krimis wird das Gute am Ende belohnt und das Böse bestraft. Sie sind nur etwas zu häufig und geben dadurch ein falsches Bild von unserer Wirklichkeit. Die öffentlich-rechtlichen Sender bemühen sich zweifellos im allgemeinen um ein ausgeglichenes Programm. Ich gebe allerdings meinem Schulfreund Vicco von Bülow alias Loriot Recht, der meint, man hätte das Privatfernsehen nicht zulassen sollen. Aber das war wohl gar nicht zu vermeiden. Man muss übrigens den Kindern nicht nur Kinder- und Naturfilme zeigen, man kann sie auch schwierigere Filme sehen lassen, wenn man sie mit ihnen zusammen ansieht und sie damit nicht allein lässt. Da für Kinder meist das besonders interessant ist, was die Erwachsenen sehen und ihnen verboten ist, sollte man sie das sehen lassen, was wir auch sehen wollen, solange es ihnen nicht langweilig wird. Nur muss man ihnen es auch erklären. Etwas anderes ist es allerdings mit manchen Videospielen, die können süchtig machen, man kann davon abhängig werden und läuft Gefahr sich psychisch zu schädigen.
Problematisch wird es vor dem Fernseher erst bei den harmlos scheinenden Werbefilmen, welche gerade Kinder gerne ansehen, weil die regelmäßige Wiederholung des Gleichen ihrem Bedürfnis nach Regel und Struktur entgegen kommt. Wenn man als Eltern seinen Kindern die Werte „Wahrheitsliebe“ und den „Verzicht auf Prahlerei und Angebertum“ vermitteln möchte, dann lehrt das Werbefernsehen gerade das Gegenteil. Auch vermitteln sie neue, scheinbare Werte, etwa, wenn die zarte Beschaffenheit der Wäsche durch Weichspüler zum moralischen Wert ernannt wird. Das betrifft allerdings weniger die Kinder als die Erwachsenen, die angeblich rechtlich nicht mehr Erziehungsmaßnahmen unterworfen werden dürfen, weil sie über sich selbst bestimmen sollen. Tatsächlich werden wir ständig von der ubiquitären Werbung erzogen und zwar mit offenbarem Erfolg, da sie sonst nicht stattfände. Hiergegen seine Kinder einigermaßen immun zu machen, ist eine besondere Aufgabe der Vorbildfunktion. Sie dient auch der Erhaltung echter Werte.
Dabei scheint es heute so, als ob manche überkommenen Werte keine Gültigkeit mehr hätten. So sind Bescheidenheit, Genügsamkeit und Sparsamkeit – bei Schwaben ursprünglich genetisch verankert – wirtschaftsschädigende und damit gemeinschaftsschädigende Eigenschaften geworden. Auch ist es den Kinder nicht einfach zu erklären, warum wir immer die neuesten Dinge kaufen müssen, obwohl wir sie eigentlich gar nicht brauchen und es in der ganzen Welt, aber auch bei uns Menschen gibt, die eigentlich vieles nötig brauchten, es aber nicht bezahlen können.
Das Fehlen der Ordnung im Zimmer ihrer Kinder ist heute die Klage vieler Eltern. Sie braucht eigentlich keine Sorge bereiten. Kinder haben heute meist ein Zimmer für sich allein und müssen ihr Eigentum nicht mehr vor dem Zugriff ihrer Geschwister schützen. Wozu sollen sie Ordnung halten? Sie lernen sie später in der Regel von allein. Andere Werte, die früher vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen hochgehalten wurden, wie der Gehorsam, sind inzwischen fraglich geworden. Es war der Gehorsam, der Auschwitz erst möglich gemacht hat.
Der echte Wert der Gemeinsamkeit, der Mitverantwortung für den andern, der Solidarität steht im Widerspruch zu Konkurrenz und Rivalität als Leistungsprinzip eines Neoliberalismus. Sich Durchsetzen ist heute die oft geäußerte Aufforderung an die Jugendlichen. Diese Tendenz macht mir mehr Sorge als das unaufgeräumte Zimmer.
Hier wirkt im Gegensatz zu den bisher genannten gesellschaftlichen Veränderungen etwas mit, was sich in all den Jahrzehnten nicht geändert hat: unser Schulsystem. Das ist im Grunde immer noch dasselbe seit Wilhelm von Humboldt, als nur etwa 5% der Jugendlichen nach Ende der Schulpflicht mit 14 Jahren eine weiterführende Schule bis zum Abitur besuchten. Für diese gab es im Grunde damals nur fünf Berufe: Jurist, Lehrer, Pfarrer, Arzt oder Offizier. Heute sind es über 50%, die weiter zur Schule gehen und sie haben die Wahl unter einer unzählbaren Anzahl von speziellen Ausbildungen und Berufen.
Dazu lesen die Schulen ihre Schüler immer noch allein auf Grund des Schulzeugnisses in einer kleinen Zahl von Fächern aus, und damit wird die Zeugnisnote vielfach zukunfts- und schicksalsbestimmend für immer mehr Kinder und Jugendliche und gewissermaßen zu einer persönlichen Eigenschaft, obwohl sie für die tatsächliche spätere Lebensbewährung wenig aussagen kann. Diese Benotung nur um der Auslese willen trägt nun wesentlich dazu bei, dass schon die Kinder sich gegenseitig einstufen und bewerten, dass sie schon von klein auf zu Rivalen und Konkurrenten werden, anstatt dass sie frühzeitig erleben, worauf es später vor allem ankommt, auf ihre Einfühlungsfähigkeit, ihre Teamfähigkeit, und dass Begabung gegenüber andere verpflichtet.
Es wird dabei viel von Leistung gesprochen. Was ist Leistung? Ich denke, Leistung ist immer nur das, was auch anderen nützt oder – wenn ich an den Sport denke – was auch anderen Freude macht. Cleverness und Geldvermehrung nur um der Geldvermehrung willen, ist noch keine Leistung. So war ich doch etwas geschockt, als mir ein etwa zwölfjähriger Junge auf meine Frage, was er einmal werden wolle, wie aus der Pistole geschossen antwortete: „Bill Gates“ und hinzufügte: „weil der so viel Geld hat.“ Die wichtigsten Werte hat er offenbar noch nicht erleben können.
Es gibt im Übrigen auch anerkannte Werte, die einander entgegenstehen. Das gilt für die Werte Freiheit und Sicherheit. Ihre vollen Erfüllungen schließen sich gegenseitig aus. Je mehr Freiheit wir anstreben, desto mehr Unsicherheit müssen wir ertragen können, und je mehr Sicherheit wir haben wollen, desto mehr müssen wir auf Freiheit verzichten. Dies wird gerade gegenwärtig beim Kampf gegen den Terror sehr deutlich. Dieses Abwägen gegeneinander müssen wir aber auch unseren Kindern vorleben und sie nicht allzu sehr einschränken, weil wir die unvermeidliche Angst um sie nicht aushalten wollen.
Was ist also zu tun?
Zunächst müssen wir Erwachsene uns darüber klar sein, dass wir und unsere Gesellschaft die Ursache sind, wenn die Kinder und Jugendlichen sich nicht so verhalten, wie es wünschenswert ist. Es fehlt dann am Vorbild oder an der von uns geschaffenen oder geduldeten Struktur unserer Gesellschaft und meist an beidem. Es gibt aber auch Entwicklungen, die wir nicht wesentlich beeinflussen können. Auf diese müssen wir richtig reagieren.
Die Folgen für die Familie sind solche Entwicklungen. Wir wollen und können die klassische Rollenverteilung von Mann und Frau, von Vater und Mutter nicht wiederherstellen. Wir müssen also Möglichkeiten schaffen, Kindererziehung und -betreuung zu verbinden, durch Teilung der Aufgaben auf Vater und Mutter, durch kontinuierliche Tagesmütter, durch gute Kindergärten und Ganztagsschulen, aber auch durch ein erhöhtes Angebot an Teilzeitarbeit. Ich verstehe immer noch nicht, dass die Wirtschaft nicht gelernt hat, dass zwei halbe Arbeitskräfte viel mehr leisten als eine ganze. Andererseits sollten wir anerkennen, dass Kindererziehen und -betreuen eine berufswertige Tätigkeit ist und einer sozialen Absicherung bedarf.
Wir sollten es ermöglichen, dass eine junge Frau ihre Berufsausbildung auch neben einem Kleinkind wahrnehmen kann, mit gedehnter Ausbildungszeit, damit sie mit dem Kinderkriegen nicht immer warten müssen, bis das letzte Examen geschafft ist.
Wegen der zunehmenden Zahl der realen und virtuellen Miterzieher müssen wir diese mehr kontrollieren, auf gut ausgebildete Erzieher und Erziehrinnen und auf kleinere Gruppen und Schulklassen drängen. Bei den Bildmedien geht es darum, dass wir in unseren eigenen Fernsehgewohnheiten ein Vorbild sind. Wir sind es, die durch das Einschalten die Quote und damit die Sendequalität bestimmen. Gegen menschenverachtende Videospiele sollte man eigentlich gesetzlich vorgehen, was im rechtsfreien Raum des Internet schwierig ist, vor allem aber, weil alles Verbotene die Jugendlichen besonders lockt.
Was die Schulen anbelangt, so sollte man sich daran erinnern, dass man am besten lernt, wenn es Spaß macht und dass jedes Kind irgendwelche Fähigkeiten hat, die gefunden, entwickelt und anerkannt werden müssen. Auf Zeugnisse kann man durchaus verzichten und die gemeinsame Arbeit fördern. Eine Spezialisierung sollte einerseits später, also erst nach dem sechsten Schuljahr erfolgen – wie das in fast allen anderen Staaten der Fall ist –, andererseits sollte sie noch vor dem Abitur sich ganz nach dem besonderen Interesse und der Fähigkeit des Einzelnen richten. Mathematik für alle bis zum Abitur ist meines Erachtens Unsinn. Es gibt sehr viele akademische Berufe, die mit den Grundrechenarten auskommen. Wenn es wirklich nötig ist, kann man alles nachlernen und lernt es dann auch. Wir sind jetzt ohnehin beim lebenslangen Lernen angelangt.
Über all dem steht aber die Aufgabe für uns Erwachsene, dass wir den Kindern ihr Selbstbewusstsein nicht beschädigen, sondern fördern, und ihnen zutrauen, mit ihrer Zukunft fertig zu werden. Wenn ich daran denke, wie unnötig die Sorgen und Bedenken vor 40 Jahren wegen der damaligen so genannten sexuellen Revolution von Oswald Kolle gewesen waren, dann wird deutlich, dass die Kinder bisher immer alles besser geschafft, als die Alten es geglaubt haben. Das haben sie wieder bei der elektronischen Revolution bewiesen. Es ist wohl das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass die Großeltern bei den Enkeln in die Schule gehen.
Vertrauen wir unseren Kindern und behalten wir unsere Ängste um sie für uns, ohne sie damit zu belasten und zu behindern.
Der Beitrag ist die leicht gekürzte Fassung eines Festvortrags anlässlich der Verleihung des Präventionspreises Frühe Kindheit der Deutschen Liga für das Kind am 29.10.2004 in Heidelberg.
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhart Lempp ist Kinder- und Jugendpsychiater in Stuttgart
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