29 Jul fK 5/05 Hansen
Partizipation von Kindern – Herausforderung für Erwachsene
von Rüdiger Hansen
Partizipation von Kindern und Jugendlichen bedeutet ihre Beteiligung, Mitbestimmung, Mitwirkung an allen Angelegenheiten, die sie betreffen. Das Recht dazu wird ihnen von der UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 12) über das Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 8 SGB VIII) bis zu den Ausführungsgesetzen der Länder (Kindertagesstättengesetze, Jugendförderungsgesetze) wie auch einigen Gemeindeordnungen (Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen) zugesichert. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an allen Entscheidungen, die ihr eigenes Leben und das der Gemeinschaft betreffen, wird damit zur zentralen Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe.
Partizipation – Schlüssel zur Demokratie
Noch vor wenigen Jahren wurde die Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen überwiegend im Kontext einer frühen politischen Sozialisation diskutiert. Dabei zeigte sich, dass politische Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen und damit der Erwerb basaler demokratischer Handlungskompetenzen im frühen Kindesalter nur durch alltägliche Partizipationserfahrungen möglich ist.
Der wichtigste Zugang zu politischen Bildungsprozessen für Kinder in Kindertageseinrichtungen ist die Partizipation an Entscheidungen und Entwicklungen im Alltag der Einrichtungen und im kommunalen Umfeld. In Beteiligungsprozessen entwickeln sie eine politische Haltung („ich bin zuständig“) und die Fähigkeit, sich einzumischen. Dazu müssen sie eigene Interessen wahrnehmen und äußern, sowie diese Interessen im konstruktiven Streit vertreten und Lösungen bzw. Kompromisse finden können.
Derartige demokratische Haltungen und Kompetenzen entwickeln sich früh und sind auch für Jugendliche und Erwachsene noch die Antriebsfeder und die Voraussetzung für die Entfaltung individueller Lebensentwürfe und für gesellschaftliches Engagement. Partizipationsbereitschaft und Partizipationsfähigkeit können aber nicht lehrend vermittelt, sondern nur handelnd erworben werden. Demokratie lernt man, indem man sie praktiziert. Damit rücken die alltäglichen Partizipationsmöglichkeiten der Kinder in den Mittelpunkt aller Bemühungen um eine frühe demokratische Bildung und Erziehung.
Partizipation – Schlüssel zur Bildung
Im aktuellen Diskurs von Bildungsprozessen in Kindertageseinrichtungen spielt die Partizipation der Kinder eine über die politische Bildung hinausgehende Rolle. Bildung wird als Konstruktionsleistung der Kinder begriffen. Sie nehmen das, was um sie herum geschieht, auf und verarbeiten es zu einem inneren Bild ihrer Wirklichkeit. Dabei müssen sie, wie Donata Elschenbroich es ausdrückt, „die Welt neu erfinden“. Bildungsförderung durch Erwachsene setzt voraus, dass diese Aneignungs- und Bildungsprozesse der Kinder wahr- und ernst genommen werden und die Erwachsenen sich mit den Kindern über deren Weltsicht verständigen. Die Beteiligung der Kinder wird damit zum ausschlaggebenden Moment in bildungsfördernden Konzepten für Kindertageseinrichtungen. Dies greifen auch die zurzeit erarbeiteten Bildungsprogramme für Kindertageseinrichtungen der Bundesländer auf.
Das Schleswig-Holsteinische Modellprojekt „Die Kinderstube der Demokratie“ hat gezeigt, wie durch die „Zumutung“ von demokratischen Mitwirkungsrechten beeindruckende Selbstbildungsprozesse initiiert und gefördert werden können. In diesem Projekt wurden über 900 Kinder zwischen ein und zehn Jahren an unterschiedlichen Themen aus ihrem unmittelbaren Erfahrungsbereich beteiligt. Sie planten die Einrichtung ihrer neuen Tagesstätte, erarbeiteten Kinderstadtpläne, entwickelten ein Konzept für die Öffnung des Kindergartens, philosophierten mit ihren Erzieherinnen und Erziehern über Bildungsthemen und beteiligten sich souverän in institutionalisierten Gremien.
In dem folgenden Beispiel (DRK-Kindertagesstätte Turnstraße in Elmshorn) wird deutlich, welche Bildungsmöglichkeiten Partizipation Kindern eröffnet und wie kompetent sie diese nutzen. Die Erzieherinnen suchten gemeinsam mit den Kindern nach deren Bildungsthemen. Als sie ihnen in einem Gesprächskreis mitteilten, sie hätten beobachtet, wie viele Kinder in der Gruppe immer wieder ihre Größe verglichen, begannen die Kinder sofort, sich mit ihren Freundinnen und Freunden zu messen und zu vergleichen. Es entstand ein reger, leicht chaotisch anmutender Gedankenaustausch in der ganzen Gruppe. Die Beiträge reichten von „Die Mutter ist immer größer als der Vater“ über „Ich wachse auch, wenn ich schlafe, weil meine Beine dann weh tun“ bis „Ein Regenwurm wächst nicht so wie ein Mensch“. Die lebhafte Reaktion der Kinder zeigte den Erzieherinnen, dass sie ein Thema der Kinder richtig erkannt hatten, und lieferte bereits viele Fäden, die weitergesponnen werden konnten. Ein Projekt, das die Gruppe in den darauf folgenden Wochen beschäftigen sollte, war entstanden.
Die nächsten Projektphasen wurden immer wieder im Dialog zwischen Erzieherinnen und Kindern entwickelt. Höhepunkt des Projekts wurde die Beschäftigung mit der Frage, warum ein vierjähriges Mädchen größer sein könne als ein sechsjähriger Junge. Diese Feststellung widersprach dem bisherigen Alltagswissen der Kinder, dass ältere Kinder größer sind als jüngere. Sie suchten Erklärungen und überprüften sie. Sie schoben die Hosenbeine des Mädchens hoch, um nachzusehen, ob sie heimlich Stelzen trug. Sie wurde befragt, ob sie viel Gemüse esse oder über einen Zaubertrank verfüge. Und sie rechneten nach, dass sie nicht öfter Geburtstag haben könne, weil sie ja erst vier und der Junge schon sechs Jahre alt sei. Die Erklärungen wurden solange verworfen und durch neue ersetzt, bis einem Kind beim Kneten die Erleuchtung kam und sie sich darauf einigen konnten, dass Wachsen funktionieren müsse wie das Rollen von Knetgummischlangen: Aus kleinen dicken Kugeln werden lange dünne Schlangen, wenn sie nur ausdauernd genug gerollt werden.
Damit war das Thema für die Kinder vorerst abgeschlossen, auch wenn einige von ihnen noch die Konsequenz daraus zogen, ihre Eltern darum zu bitten, sie abends durchs Bett zu rollen. Sie waren mit ihrer Erklärung zufrieden. Das Thema war für sie zu diesem Zeitpunkt erschöpfend behandelt. Dass das Wachstum des Menschen dabei noch nicht „richtig“ erklärt wurde, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden zu einem späteren Zeitpunkt zu diesem Thema zurückkehren und ihre vorläufige Weltsicht weiterentwickeln.
Viel bedeutsamer erscheint, welche lernmethodischen Kompetenzen sich die Kinder in diesem Projekt aneignen konnten. Bei ihren Forschungen gingen sie genauso vor, wie Wissenschaftler sich einem Phänomen nähern. Sie bildeten Hypothesen, überprüften sie, verwarfen sie gegebenenfalls, bildeten neue Hypothesen, bis sie sich schließlich auf eine Theorie verständigen konnten.
Dieser Kompetenzgewinn wurde durch die Zurückhaltung ermöglicht, mit der die Erzieherinnen die selbsttätig forschende Auseinandersetzung der Kinder begleiteten. Sie konnten ihre Wege gehen und ihre Antworten finden, durch interessiertes Nachfragen und gezielte Hilfestellungen von den Erzieherinnen unterstützt.
In diesem Projekt waren die Kinder von der Themenfindung über die Gestaltung des Prozessverlaufs bis zur Entscheidung über das Projektende beteiligt. Nicht immer können Bildungsprozesse allerdings so offen und prozessorientiert moderiert werden.
Im ADS-Kindergarten in Tarp entwickelten Drei- bis Sechsjährige im Laufe eines Kindergartenjahres einen Ortsplan von Kindern für Kinder. Sie entschieden, welche Orte in Tarp aus ihrer Sicht für Kinder von Bedeutung sind, besuchten und beschrieben sie, verorteten sie in einer Straßenkarte, entwickelten Symbole für den Kinderortsplan und ein eigenes Faltsystem.
Die Erzieherinnen hatten die Kinder für diese Idee gewonnen und das Projekt gewissenhaft geplant. Sie moderierten den Prozess ergebnisorientiert, auch wenn sie hier und da eine didaktische Schleife einbauen mussten – schließlich sollte der Kinderortsplan fertig werden, bevor einige der beteiligten Kinder in die Schule gehen würden. Der Projektverlauf war jedoch transparent. Jedes Kind wusste zu jeder Zeit, was bereits geschehen war und was noch erledigt werden musste, bis der Plan fertig gestellt sein würde. Die Kinder fällten alle inhaltlichen Entscheidungen und hatten jederzeit die Möglichkeit, sich gegen eine Beteiligung auszusprechen.
Auch bei der Beteiligung an Spielraumplanungen können die Kinder nur wenig Einfluss auf die Prozesse nehmen, wenn die Zeitvorgaben aufwendiger Planungsverfahren eine kurzfristige, termingerechte Abgabe der Beteiligungsergebnisse erfordern. Darüber hinaus schränken baurechtliche oder finanzielle Rahmenbedingungen in der Regel sogar die inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten ein.
Partizipation verlangt daher stets, dass die Entscheidungsspielräume und vorgegebene Verfahrensweisen vorab geklärt und offen gelegt werden. Wie schwer sich Erwachsene damit tun, wird am deutlichsten sichtbar, wenn sie institutionalisierte Beteiligungsformen einführen wollen.
Partizipation – Herausforderung für Erwachsene
Das AWO-Projekt „LernOrt Kita“ will im Kontext der „Lernenden Region“ Neumünster die Grundlagen für eine lebenslange Lernbereitschaft legen. In den Modelleinrichtungen „Bollerwagen“ und „Zwergenland“ begann die Entwicklung einer geeigneten „neuen Lernkultur“ mit einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Beteiligungsmöglichkeiten der Kinder.
Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren sich bewusst, dass trotz aller formal zugesicherten Rechte die reale Entscheidungs- und Gestaltungsmacht in der Kindergartengruppe zunächst allein in den Händen der Erwachsenen liegt. Sie verglichen die Position der Kinder mit der des Volkes in einer absoluten Monarchie. Zwar gäbe es gute und schlechte Monarchen, die auf ihre Untertanen mehr oder weniger Rücksicht nähmen, sie mehr oder weniger in ihre Entscheidungen einbezögen. Aber die punktuell zugestandenen Mitspracherechte könnten jederzeit wieder entzogen werden. Es gäbe keine Rechtssicherheit. Auch die Beteiligung der Kinder in einer Kindergartengruppe sei vom „guten Willen“ der Erzieherin abhängig. Daher wollten sie die Beteiligungsrechte der Kinder strukturell verankern.
Die Einführung institutionalisierter Beteiligungsformen erfordert eine intensive Auseinandersetzung der pädagogischen Kräfte über die Inhalte und Grenzen sowie über die Formen der Beteiligung. Sie müssen klären, worüber die Kinder künftig mitentscheiden sollen und wie die Beteiligung erfolgen soll.
Dass darüber zunächst allein die Erwachsenen entscheiden sollten, hat mehrere Gründe. Erstens verfügen Kindergarten-Kinder in der Regel über keinerlei Erfahrungen mit demokratischen Gremien, die ihnen ermöglichen würden, angemessene Formen der Beteiligung auszuwählen. Erst wenn sie eine Weile in und mit den neuen Gremien gearbeitet haben, können sie diese beurteilen und gegebenenfalls Veränderungen einfordern. Zweitens – und das ist der gewichtigere Grund – verlangt die Partizipation der Kinder eine freiwillige Machtabgabe der Erwachsenen. Damit diese aber die Auswirkungen ihrer Zugeständnisse demokratischer Mitwirkungsrechte bereitwillig tragen und sich keine „Hintertürchen“ offen halten, müssen sich zunächst alle beteiligten Erwachsenen über Inhalte und Formen der Kinderbeteiligung verständigen.
Die Teams der Modelleinrichtungen traten daher als „Verfassunggebende Versammlungen“ zusammen. Ziel dieser Gremien war nicht, den Kindern möglichst weitgehende demokratische Rechte einzuräumen, sondern Rechtssicherheit herzustellen. Es sollte also eher eine Art konstitutioneller Monarchie entstehen, in der rechtlich eindeutig geregelt ist, worüber die Kinder in den Modelleinrichtungen zukünftig mitentscheiden könnten und worüber nicht.
In einem ersten Schritt waren die Teams rasch bereit, den Kindern Mitspracherechte über die Raum- und Tagesgestaltung, Themen und Inhalte von Projekten oder Festen, Einrichtungsregeln oder die Mahlzeiten zuzugestehen. Weniger eindeutig waren die Meinungen darüber, ob die Kinder auch über Finanz- und Personalangelegenheiten mitreden sollten. Erste Differenzierungen wurden vorgenommen. Sie sollten nicht über den gesamten Etat der Einrichtungen befinden, wohl aber über Anschaffungen, die sie direkt beträfen. Aber sollten ihre Vorstellungen bei jeder Ausgabe eingeholt werden oder wollten sich die Erwachsenen das Recht vorbehalten, aus ihrer Sicht nötige Anschaffungen ohne vorherige Rücksprache zu tätigen? Kontroverse Diskussionen entstanden auch über die Frage, ob Kinder in der Lage seien, bei Neuanstellungen von pädagogischen Kräften angemessene Entscheidungen zu fällen. Eine Einrichtung gestand letztlich den Kindern ein Vetorecht bei der Einstellung pädagogischer Fachkräfte zu.
Auf den zweiten Blick ließen sich auch andere Mitspracherechte nicht mehr so allgemein benennen. Sollte die Teilnahme an inhaltlichen Angeboten (beispielsweise Übungen zur phonologischen Bewusstheit) künftig freiwillig sein oder weiterhin für einzelne Kinder verpflichtend bleiben? Sollten die Kinder wirklich über die Gestaltung aller Räume mitreden, auch über die Materialkammer, das Büro und den Mitarbeiter-Raum? Und sollten sie künftig tatsächlich mitentscheiden, ob, wann, wo, mit wem, was, wie viel und wie sie essen würden?
Insbesondere die Frage der Mitbestimmung über die Mahlzeiten führte in einer Einrichtung zu vielschichtigen und widersprüchlichen Auseinandersetzungen unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Müssten Kinder auch künftig „wenigstens probieren“ oder würde es akzeptiert werden, wenn sie etwas nicht essen wollten? Es stellte sich heraus, dass meist die sehr unterschiedlichen eigenen Erfahrungen die wenig objektive Grundlage für die Haltung der Erwachsenen in dieser Frage waren. Die Ergebnisse eines Modellversuchs zur Prävention von Essstörungen wurden herangezogen, in dem jegliche Reglementierungen rund um die Nahrungsaufnahme aufgehoben wurden. Das Team mühte sich um einen Minimalkonsens. Wie aber sollten die diesbezüglichen Wünsche von Eltern berücksichtigt werden, wenn sie den Rechten, die das Team den Kindern zugestehen wollte, widersprächen? Es wurde deutlich, dass die Beteiligung der Kinder auch eine Beteiligung der Eltern nach sich ziehen würde.
Nach und nach wurden die Beteiligungsrechte der Kinder präziser formuliert. Erst danach wurde die Frage geklärt, welcher Gremien es bedürfe, damit die Kinder über die ihnen nunmehr zugestandenen Rechte mitentscheiden könnten. Es entstanden föderal aufgebaute Systeme aus Gruppenkonferenzen und einem „Hohen Rat“ bzw. einem „Kita-Parlament“, in denen Delegierte der Kinder, des Teams, der Leitung und der Eltern über gruppenübergreifende Angelegenheiten entscheiden sollten. Die Formen und Inhalte wurden anschließend in juristisch ausformulierten Verfassungen festgehalten, mit den Eltern diskutiert und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterzeichnet.
Trotz dieser intensiven Auseinandersetzungen erwischten sich die Teams beider Modelleinrichtungen gleich zu Beginn der Umsetzungsphase dabei, Verfassungsbrüche begangen zu haben. Während in einer Einrichtung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in gewohnter Weise ein Sommerfest planten, trafen sich ihre Kolleginnen und Kollegen in der anderen Modellkita nach der Schließungszeit im Sommer wie jedes Jahr einen Tag bevor die Kinder wieder kamen, um die Räume auf- und zum Teil auch umzuräumen. Beide Teams wurden sich in einer Reflexionsphase bewusst, dass diese Vorgehensweisen die Kinder um die ihnen gerade zugestandenen Beteiligungsrechte brachten.
Partizipation von Kindern verlangt von Erwachsenen, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Kinder als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung und Träger von Rechten wahr- und ernstzunehmen, bedeutet, Routinen zu hinterfragen und neue Wege zu beschreiten. Um den damit verbundenen hohen fachlichen und persönlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigen pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen Fortbildung und Begleitung und vor allem Zeit zur Planung und zur Reflexion.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Rüdiger Hansen ist Diplom-Sozialpädagoge und Moderator für kinderfreundliches Planen und Beteiligungsprozesse in Kindertageseinrichtungen am Institut für Partizipation und Bildung in Kiel.
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