25 Juni fK 2/09 Nentwich
„Die Kosten für eine stationäre Behandlung von Kindern sollten nur für Kinderkliniken übernommen werden“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Nentwich, langjähriger Chefarzt der Kinderklinik des Heinrich-Braun-Klinikums in Zwickau und Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Nentwich, langjähriger Chefarzt der Kinderklinik des Heinrich-Braun-Klinikums in Zwickau und Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
Maywald: Nur wenige medizinische Fachgebiete haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten so sehr gewandelt wie die Pädiatrie. Mit welchen Indikationen werden Kinder heutzutage typischerweise ins Krankenhaus aufgenommen und wie sah dies noch vor dreißig oder vierzig Jahren aus?
Nentwich: Die häufigsten Diagnosen, welche heutzutage zur stationären Aufnahme führen, sind Gastroenteritis, Infektionen der oberen Atemwege einschließlich Otitis media und Kopfverletzungen, in der Mehrheit Hirnerschütterungen. Den höchsten medizinischen Aufwand bereiten allerdings trotz geringerer Zahlen chronische und vital bedrohende Erkrankungen und die Frühgeborenenversorgung.
Maywald: Die vom Robert Koch Institut bundesweit durchgeführte Kinder- und Jugendgesundheitsstudie KiGGS beschreibt als wichtige Trends im Krankheitsspektrum von Kindern die Verschiebung von akuten zu chronischen Erkrankungen sowie die Verlagerung von körperlichen zu seelischen Beschwerden. Können Sie diese Trends auch für den stationären Bereich bestätigen?
Nentwich: Dieser Trend ist im niedergelassenen Bereich ausgeprägter, aber auch in geringerem Umfang stationär zu beobachten.
Maywald: Wie lange bleiben stationär aufgenommene Kinder gegenwärtig durchschnittlich im Krankenhaus und ist die Entwicklung hin zu einer Verkürzung der Liegezeiten tatsächlich im besten Interesse der jungen Patient(inn)en?
Nentwich: Die Verweildauer beträgt im Schnitt unter fünf Tage und wird zukünftig nur noch gering zu senken sein. Jeder Tag, den das insbesondere jüngere Kind nicht im Krankenhaus verbringen muss, ist im Sinne einer Verringerung der psychischen Belastung für das Kind ein Vorteil.
Maywald: Die Tatsache, dass Kinder heute früher nach Hause entlassen werden, führt zu zusätzlichen Belastungen der Eltern, von denen die ambulante Pflege übernommen werden muss. Sind die Eltern dieser Aufgabe gewachsen und welche Unterstützung ist hier notwendig?
Nentwich: Aus meiner Erfahrung sind die Eltern sehr wohl dazu in der Lage. Häufig gibt es auch zumindest zeitliche Unterstützung durch andere Bezugspersonen, zum Beispiel die Großeltern. Dies gilt vorwiegend nach Genesung von akuten Zuständen. Bei chronischen und kritischeren Verläufen wäre der weitere Ausbau der ambulanten Kinderkrankenpflege zu begrüßen, denn insbesondere diese Patienten sollten so kurz wie möglich im Krankenhaus liegen.
Maywald: Bis in die 1970er Jahre hinein waren die Besuchszeiten auf Kinderstationen in der Regel auf wenige Stunden in der Woche begrenzt. Kinder und Eltern konnten sich – durch eine Glasscheibe voneinander getrennt – häufig lediglich aus der Entfernung zuwinken. Wie beurteilen Sie aus heutiger Sicht die damalige Praxis und wie sieht die Realität inzwischen aus?
Nentwich: Die in den 1970er Jahren geübte Praxis war vordergründig zum Teil durch aus heutiger Sicht falsch eingeschätzte hygienische Gründe bedingt. Aktuell haben alle Kinderkliniken in Deutschland eine fast unbeschränkte Besuchszeit, welche teilweise im Sinne der Ruhebedürftigkeit für den Genesungsprozess individuell eine gewisse Reglementierung erfahren sollte.
Maywald: Um den Trennungsschmerz zu lindern und das Kind bei der Bewältigung seiner Krankheit zu unterstützen, können Eltern in vielen Fällen mit ins Krankenhaus aufgenommen werden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen allerdings noch darüber, ob dafür eine ärztliche Indikation notwendig ist oder ob allein die Eltern über ihre Mitaufnahme entscheiden. Was ist Ihre Meinung?
Nentwich: Nur die Eltern entscheiden und sollten sogar dazu animiert werden. Ausnahmen können im infektologischen Bereich bestehen.
Maywald: Wenn ein Kind körperlich erkrankt, ist immer auch seine Seele betroffen. Sind Kinderkrankenhäuser Ihrer Meinung nach ausreichend ausgestattet, um Kinder auch in seelischer Hinsicht gut versorgen zu können?
Nentwich: Eine aktuelle Auswertung von fast 50 Prozent aller Kinderkliniken ergab, dass sowohl im materiellen Bereich zum Beispiel das Vorhandensein von Spielzimmern als auch in der personellen Besetzung mit soziopädagogischen Mitarbeitern gute Verhältnisse vorhanden sind. Wobei letzteres immer professioneller entwickelt werden kann.
Maywald: Auf einer Kinderstation arbeiten unterschiedliche Berufsgruppen zusammen, neben dem ärztlichen Personal vor allem Pflegekräfte und Vertreter psychosozialer Berufe. Was sind Ihre Erfahrungen mit dieser Interdisziplinarität und wo bestehen möglicherweise Probleme?
Nentwich: Ich habe in dieser Beziehung während meiner langjährigen Tätigkeit als Chefarzt einer Kinderklinik keine größeren Probleme erlebt. Bei der Zusammenarbeit der einzelnen Personen müssen kollegiale, ehrliche und patientenorientierte Regeln beachtet werden.
Maywald: Auch heute noch liegen etwa 30 Prozent aller im Krankenhaus aufgenommenen Kinder und Jugendlichen auf Erwachsenenstationen und erhalten demzufolge keine altersgerechte Versorgung. Was sind die Gründe hierfür und wie kann Abhilfe geschaffen werden?
Nentwich: Mir sind allerdings dazu keine aktuellen gesicherten Zahlen bekannt. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin ist zurzeit bemüht eine verlässliche Analyse zu erstellen. Wirksame Abhilfe kann nur durch Entscheidung der Kostenträger geschaffen werden, indem die Kosten für eine stationäre Behandlung von Kindern nur für Kinderkliniken übernommen werden.
Maywald: Nach Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention sind Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen entsprechend Ihrem Alter und ihrer Reife zu beteiligen. Wie kann dieses Recht der Kinder im Falle medizinischer Entscheidungen verwirklicht werden?
Nentwich: Durch altersgerechte Einbeziehung in die Aufklärungsmaßnahmen und Beachtung der durch den Patienten ab circa 14 Jahren getroffenen eventuellen Nichteinwilligung in die vorgeschlagenen Maßnahmen. Dabei entsteht juristisch eine sehr komplizierte Situation, insbesondere wenn die Erziehungsberechtigten eine andere Meinung vertreten. Dann sind sehr vertrauensvolle Gespräche, eventuell auch mit einem Wechsel des Gesprächspartners notwendig. Ich bin froh, dass es immer gelungen ist, einen Konsens zu erreichen.
Maywald: Die zunehmende Spezialisierung in der Medizin führt unweigerlich zur Herausbildung weniger Zentren. Im Falle von Kindern und Jugendlichen heißt dies, dass die Entfernung zum nächstgelegenen Krankenhaus immer größer wird und eine flächendeckende Versorgung nicht immer gewährleistet ist. Was bedeutet dies für die Familien und wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Nentwich: Die Struktur von Kinderkliniken ist in Deutschland geprägt von unterschiedlicher Flächendeckung mit Erreichbarkeiten zwischen fünf und über 50 Kilometern und einer großen Anzahl von sehr kleinen Kliniken. Dies wird in den nächsten Jahren eine Umstrukturierung notwendig machen. Im Ergebnis wird ein Netz von Kliniken für die Maximalversorgung, dazwischen eine Anzahl von größeren Kinderkliniken und, wenn zur Flächendeckung notwendig, Einrichtungen mit alternativen Betriebsmodellen, zum Beispiel Kooperationsmodelle oder Gesundheitszentren unter Anwendung neuer Versorgungsformen, zum Beispiel Kliniken mit angeschlossenem Medizinischen Versorgungszentrum, entstehen.
Maywald: Die Einführung von Kostenpauschalen – so genannte DRG’s – vor einigen Jahren sollte zu mehr Kostengerechtigkeit und zu einer finanziellen Entlastung der Versicherten führen. Wurden diese Ziele erreicht und welche Auswirkungen ergaben sich für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen?
Nentwich: Das Ziel wurde nur partiell, aber zunehmend immer besser erreicht. Eine Auswirkung auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen kann ich nicht erkennen.
Maywald: Seit Jahrzehnten setzen Sie sich für eine gute stationäre Behandlung von Kindern ein. Wenn Sie einmal zurückblicken, was wurde bisher erreicht und worin bestehen die Herausforderungen der Zukunft?
Nentwich: Ich möchte neben vielen anderen vor allem die Erfolge auf onkologischem und neonatologischem Gebiet nennen. War die Diagnose Leukämie vor 30 Jahren für das Kind ein sicheres Todesurteil, so können heute über 90 Prozent der an Leukämie erkrankten Kinder geheilt werden. Die Säuglingssterblichkeit konnte in dieser Zeit mehr als halbiert werden. Eine besondere Herausforderung der Zukunft sehe ich in einer besseren Absicherung der Arzneimitteltherapie, denn viele Medikamente sind für die Anwendung bei Kindern noch nicht ausreichend untersucht.
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