25 Jun fK 5/09 Attia
Kita in der Einwanderungsgesellschaft
Zur Bedeutung von Kultur in der Pädagogik
von Iman Attia
Differenz ist seit jeher das zentrale Thema in der Pädagogik: Alter, rechtliche oder psychische Auffälligkeit, materielle Armut, Behinderung, Geschlecht sind genuine Themen der Pädagogik. Sie werden von der Gesellschaft als Probleme oder Lebensphasen herausgestellt, die der Intervention bedürfen. Dafür ist unter anderem die Pädagogik zuständig. In unterschiedlichen pädagogischen Kontexten wird mit dieser Aufgabe unterschiedlich umgegangen, nicht zuletzt deswegen, weil sich die Differenzlinien kreuzen, verstärken oder widersprechen können. Alter als Differenzlinie im Kindergarten (Kinder werden als entwicklungsbedürftig definiert und von Erwachsenen erzogen) trifft auf viele der anderen Differenzen (Klasse, Geschlecht, Behinderung usw.).
Mit diesen vielfältigen Differenzen wird im pädagogischen Alltag, in den Konzepten und durch die institutionellen Vorgaben unterschiedlich umgegangen: teilweise wird Differenz als willkommene Abwechslung oder selbstverständliches Abbild der Gesellschaft begrüßt (beispielsweise im Kindergartenalltag), in anderen pädagogischen Settings werden Gruppen homogenisiert und Differenz institutionell hergestellt (in der Schule über Leistung) oder aber Differenz – verstanden als Abweichung von der Norm – begründet zentral den Anlass für pädagogische Intervention (klassischerweise in der Sozialen Arbeit).
Wie Differenzen begegnet wird, hängt mit der Haltung von Pädagog(inn)en zusammen und mit ihrem professionellen Verständnis. Beides kann sich mit institutionellen Vorgaben und Routinen sowie mit ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen decken oder aber an ihnen reiben. Indem Pädagogik Differenz hervorhebt, ignoriert, abwertet, verkitscht, stereotypisiert, kontextabhängig berücksichtigt usw. trägt sie dazu bei, herrschende gesellschaftliche Normen zu bestätigen oder aber zu transformieren. Meist tut sie mal das Eine, mal das Andere, oft beides gleichzeitig. Denn die Bestätigung der Norm kann sowohl gegen als auch im Interesse der Einzelnen stehen. Oft genug raufen sich Pädagog(inn)en die Haare, wenn Mädchen nur noch mit rosa Röckchen Puppen spielen wollen oder aber damit gar nichts zu tun haben wollen. Von daher ist es im pädagogischen Alltag nicht per se richtig oder falsch, Differenz zu fördern oder zu vernachlässigen. Der jeweilige Kontext ist entscheidend.
In Genderdiskussionen hat sich die Unterscheidung in Differenz und Differenzierung durchgesetzt, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Differenzen, wie wir sie wahrnehmen, gemacht sind, dass sie einem Prozess unterliegen und in Strukturen eingebunden sind und dass sie von den Subjekten übernommen, verworfen, verändert usw. werden. Die Aufgabe von Pädagogik wäre dann, diese Prozesse und Strukturen zu reflektieren und durch pädagogische Angebote und die Haltung von Pädagog(inn)en jene förderungswürdigen Elemente zu stärken, die marginalisiert werden, um den Subjekten Möglichkeiten zu eröffnen und anzubieten, die ihnen sonst verwehrt wären.
Pädagogik als Profession, die es mit Differenzen und Differenzierungen zu tun hat, betritt also kein Neuland, wenn sie sich nun mit der als „kulturell“ markierten Differenz ihrer Zielgruppen beschäftigt. Ähnlich wie im Genderkontext das Doing Gender ist hier die Rede von Doing Culture oder Doing Ethnicity oder Doing Race. Die Differenz ist auch hier keine natürliche, von Raum und Zeit unabhängige, stets und überall gleiche, sondern hat sich in einem historischen und gesellschaftlichen Prozess entwickelt, prägt Institutionen und Wahrnehmungen, eröffnet Räume und schließt andere.
Kultur ist demnach nichts statisches, das man konserviert und im Gepäck mit sich herumschleppt. Kultur ist sehr beweglich, ist gleichzeitig auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges bezogen, ist der Raum, innerhalb dessen man sich mit den Gegebenheiten auseinandersetzt. In der und durch die Kultur drücken sich Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste, Wut, Zugehörigkeit, Ausschlusserfahrungen usw. aus. Diese haben mit unterschiedlichen Erfahrungen zu tun, die mit Migration und Flucht sowie (vermeintlicher oder tatsächlicher) religiöser und ethnischer Zugehörigkeit einher gehen können, aber auch mit Geschlecht, Klasse, Generation, Familienkonstellation usw. In ihnen drücken sich auch Auseinandersetzungen mit den Erwartungen und Vorstellungen der Mitmenschen aus, mit den Bildern über sich und andere, die in Werbung, Bilderbüchern, Redewendungen usw. verbreitet sind und die Wahrnehmung strukturieren. Und sie haben mit institutionellen Rahmenbedingungen zu tun, von denen Menschen unterschiedlich betroffen werden. Die Fokussierung auf nationale oder religiöse Kultur, wie dies üblicherweise geschieht, vereinseitigt „Kultur“. Sie läuft Gefahr, die Breite, Vielschichtigkeit und Komplexität kultureller Praktiken zu reduzieren. Andere als ethnisierende Differenzierungen werden als Nebenwidersprüche behandelt, indem beispielsweise sexistische oder patriarchale Verhaltensweisen als Ausdruck einer islamisch geprägten Kultur präsentiert werden.
Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen Bedingungen dieser „Kultur“ vernachlässigt – sie erscheint als etwas „aus der Heimat“ mitgebrachtes, Archaisches, das „unserer Kultur“ gegenübersteht. Die Bedeutung der Arbeitsmigration für alle in Deutschland lebenden Menschen – und nicht nur für die Eingewanderten –, von Kolonialismus, Nationalsozialismus und Globalisierung als kulturbildende Strukturen auch in jenen Ländern, die dieser Sichtweise zufolge „fremd“ sind, werden ausgeblendet. Die Sichtweisen auf die anderen, wie wir sie heute hier kennen, sind nicht neu. Sie haben sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt und an jeweils aktuelle Debatten angepasst. Durch die besondere Hinwendung zu nationaler oder religiöser „Kultur“ läuft auch Pädagogik Gefahr, ihre Bedeutung als Differenzierungsmerkmal zu verstärken. Gleichzeitig prägt dieses Verständnis von Kultur die Wahrnehmungen, Interaktionen, Diskurse und Praxis. Sie ist zu einer Wirklichkeit geworden, die auch in der Pädagogik nicht vernachlässigt werden kann.
Ein Beispiel
Jene Jugendliche, Kinder und ihre Eltern, die heute als Muslime wahrgenommen werden, wurden vor 30 Jahren als Gastarbeiter bezeichnet. Ihre Marginalisierung im Bildungssystem wurde der bäuerlichen, manchmal auch der proletarischen Herkunft ihrer Eltern zugeschrieben, sprachliche Probleme mit der „Sprachlosigkeit“ ihrer Eltern begründet, Verhaltensauffälligkeiten mit der Rückständigkeit ihrer Kultur in Verbindung gebracht usw. Der Blick auf „Gastarbeiter“ als fremd und anders kulturalisierte sie. Es stimmt zwar, dass die meisten „Gastarbeiter“ aus der Türkei nicht aus Akademikerfamilien kamen. Aber die, die kamen, waren genau die, die angeworben wurden. Die Bundesrepublik suchte Arbeitskräfte für jene Arbeiten, die hier niemand machen wollte, man spricht in diesem Zusammenhang von einer Unterschichtung der Arbeiterschaft bzw. der Gesellschaft. Die Arbeitsmigrant(inn)en wurden damals für einen kurzen Zeitraum angeworben, sie kamen in Wohnheimen in unmittelbarer Nähe ihrer Arbeitsstätten unter, sie arbeiteten und wohnten in Gruppen, die Sprache, Land und oft auch Arbeitsamtsbezirk teilten. Es war nicht vorgesehen, dass sie deutsch lernten, mit der hiesigen Bevölkerung in intensiven Kontakt traten, dass sie blieben und ihre Familien nachholten bzw. hier neue gründeten. Es ging um ihre Arbeitskraft, und zwar möglichst in konzentrierter Form. Diese Politik prägt die Arbeitsmigration bis heute. Die Bundesrepublik hat sich erst vor einigen Jahren durchgerungen, sich als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Absurderweise wird jedoch diese fehlende politische Anerkenntnis der Arbeitsmigration nun wieder den Einwanderern angelastet. Sie seien nun doch schon so lange hier und immer noch nicht integriert, das müsse an ihrer Kultur liegen und die sei durch den Islam geprägt. Anstatt die politischen Versäumnisse einzugestehen und dort anzusetzen, wo Fehler gemacht wurden, wird der Spieß umgedreht und dabei en passend (und darum geht es eigentlich) das eigene Selbstverständnis einer ethnisch, kulturell und religiös homogenen Gesellschaft, die auf so etwas wie „Volk“ beruhen soll und die es nie gegeben hat, zu bestätigen versucht.
Auf den Kita-Alltag bezogen heißt das: Partizipation ist überfällig, sie ist nicht nur ein wichtiges Signal an jene Gruppen, die bisher ausgeschlossen waren und immer noch sind. Sie ist ebenso eine notwendige Erweiterung des eigenen engen Selbstverständnisses. Damit meine ich nicht, dass Eltern nun kochend und tanzend als exotische Einsprengsel den eigenen tristen Alltag beleben sollen. Diese Form der so genannten interkulturellen Pädagogik ist mehrfach zu Recht kritisiert worden: Sie gibt nicht Alltag und Lebenswelten der Kinder und ihrer Familien wieder, auch wenn manche der Aufforderung, sich auf diese Weise einzubringen, aus verschiedenen Gründen nachkommen.
Eine Erzieherin beispielsweise fordert die Kinder auf, für ein interkulturelles Frühstück etwas Typisches aus der Heimat mitzubringen. Das Frühstück verläuft gut, die Erzieherin ist mit der Einheit zufrieden. Eine anschließende Befragung ergibt: Einige Kinder erzählen, dass weder sie selbst, noch die Eltern, noch die im Herkunftsland der Familie lebende Oma überhaupt frühstücken würden. Andere frühstücken Cornflakes oder Nutella. Sie haben aber Schafskäse und Oliven mitgebracht, um die nette Erzieherin nicht zu enttäuschen. Sie hatten also bereits gelernt, was von ihnen erwartet wird. Um nicht zu enttäuschen und nicht aufzufallen, erfüllen sie die von ihnen erwartete Demonstration ihrer Differenz. Aber es gibt natürlich auch Kinder und Eltern, die froh darüber sind, endlich wahrgenommen zu werden, und sei es auf diese Weise. Nur, sie sind nicht „typisch“ und die anderen „verwestlicht“ oder „eingedeutscht“ oder „traditionslos“, sondern haben unterschiedliche Vorlieben, gehen unterschiedlich mit den vorgefundenen Angeboten um, treten unterschiedlich mit ihrer Umwelt in Verbindung usw. Dabei kann so etwas wie die Herkunftskultur (des einen Großelternteils) eine Rolle spielen und diese Rolle kann durch die Markierung als anders in einigen Situationen an Bedeutung gewinnen, aber sie ist weder die einzige Bezugsgröße noch gibt sie Auskunft darüber, wie „in der Heimat“ oder „zu Hause“ gefrühstückt wird. Allerdings sind durch eine derartige Einheit Differenzierungen zwischen „uns“ und „den Anderen“ aktiv reproduziert worden.
Was also tun, angesichts dieser Viel- und Widersprüchlichkeit? Ein erstes Zwischenergebnis kann direkt aus diesem Beispiel abgeleitet werden. Es kreist um die Bedeutung der Sichtbarkeit und damit um die Frage, wie ich gesehen werde und wie ich mich darstellen und gesehen werden möchte, in welcher Situation und in welcher Rolle ich angesprochen werde und in welchen Situationen und Rollen ich sprechen und gehört werden möchte; es geht um die Möglichkeiten, sich zu artikulieren und sich zu repräsentieren – und nicht permanent und immer auf die gleiche Weise von anderen ein- und ausgegrenzt zu werden und nur dann gehört zu werden, wenn ich dem Klischee entspreche – oder aber es heftig mit Füßen trete. Die Botschaft des „Vergiss-dass-ich-schwarz-bin, vergiss-nie-dass-ich-schwarz-bin“ kann also in den Kita-Alltag übersetzt werden in eine persönliche und professionelle Haltung, die Raum gibt, sich einzubringen, ohne von vornherein auf die eine wesentliche Differenz reduziert und festgelegt zu werden und gleichzeitig zu reflektieren, dass bestimmte Erfahrungen mit genau jener Differenzierung zusammen hängen und – zumindest unterschwellig – immer von Bedeutung sein können.
Das ist gleichzeitig einfach und schwierig. Einfach, weil es doch immer darum gehen sollte, gerade in der Kita Kinder als eigenständige Persönlichkeiten zu sehen und zu fördern, und schwierig, weil die eigene Wahrnehmung und jene der Kinder durch gesellschaftliche Diskurse geprägt sind. Schon die Aufforderung, für ein interkulturelles Frühstück etwas mitzubringen oder die türkischen Eltern als solche besonders herzlich einzuladen, kann als Signal jene abschrecken, die sich selbst, nicht hier und nicht jetzt in dieser Weise artikulieren möchten und dagegen jene ansprechen, die genau dies tun wollen. Wenn dann nur diejenigen der Aufforderung nachkommen, die dem Klischee entsprechen oder es nutzen, um ihre Interessen einzubringen, bestätigt das die eigene Wahrnehmung und damit auch die gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Folgen von Konstruktionen sind real und haben Auswirkungen auf die Kulturen.
Kultur in diesem Verständnis ist das Medium, in dem Erfahrungen verarbeitet und die vorgefundenen Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft und erweitert werden, und zwar nicht in einem ethnisierenden Sinne, sondern indem Kultur verstanden wird als Bindeglied zwischen Strukturen, Institutionen, Rahmenbedingungen auf der einen Seite und Subjekten auf der anderen. Kultur ist soziale Praxis, sie ist vielschichtig, widersprüchlich und ständig in Bewegung. In ihrer kulturellen Praxis verarbeiten Subjekte ihre Erfahrungen und die Anforderungen, die an sie gestellt werden, drücken ihre Interessen aus, erweitern ihre Handlungsspielräume, kämpfen gegen Beschränkungen usw. Sie verarbeiten die vorgefundenen Bedingungen und sind an ihrer Reproduktion oder Transformation beteiligt. Auch Kinder sind in diesem Sinne kulturell aktiv. Sie setzen sich in ihren Spielen und mit ihren Fragen mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und suchen ihren Platz darin: sie spielen mit Puppen oder reißen ihnen die Köpfe ab, sie handeln aus, wer mitspielen darf und in welcher Position, sie rufen den „Lockenkopf“ und beschimpfen sich mit „Du bist behindert“.
Aber auch auf einer allgemeineren Ebene gibt es nicht wenige, auch kleinere Kinder, die es sehr spannend finden, Geschichten „von früher“ zu hören, zu erfahren, wie es zu arm und reich kommt und warum die Freundin keine Großeltern in der Nähe hat. Es ist möglich, all diese Fragen ohne Bezüge zur Einwanderungsgesellschaft zu beantworten – oder eben mit. Auch wie diese Bezüge hergestellt werden, kann ebenfalls sehr verschieden sein. Ich möchte nun aber nicht den Eindruck erwecken, als sei der politisch-gesellschaftliche Bezug der einzig richtige Weg, denn – wie bereits erwähnt – gibt es sehr wohl Kinder und Eltern, die gerne „exotisch“ kochen und tanzen. Vielmehr geht es darum, diese Dinge weder in den Mittelpunkt zu stellen, noch Subjekte darauf festzulegen. Und es geht darum, sich bewusst zu sein, dass mit der Hervorhebung derartiger Differenzierungen die dichotome Aufspaltung in „wir“ und „die Anderen“ festgeschrieben wird. Derartige interkulturelle Angebote laufen Gefahr, diese Dichotomisierung zu fördern.
Bereits die Begriffe „interkultureller Dialog“, „interkulturelle Pädagogik“, „interkulturelle Öffnung“ usw. suggerieren, dass zwei (oder mehrere) unterschiedliche Gruppen einander gegenüberstehen und mit ihnen etwas geschehen soll: Die „Fremden“ sollen integriert, die unterschiedlichen „Kulturen“ kennen gelernt werden. Regelmäßig erscheinen die derart präsentierten Gruppen klischiert und geben lediglich hegemoniale Bilder von „uns“ und „den Anderen“ wieder. Atheistische Migrant(inn)en mit türkischem oder arabischem Hintergrund beispielsweise interessieren nicht (außer als Islamkritiker(innen), und damit wieder im Kontext des „Anderen“) denn sie können nicht dazu beitragen, „das Fremde“ zu verstehen. Einbürgerungstests erwecken den Eindruck, als seien „Muslime“ qua „Kultur“ sexistisch und homophob und als wären Sexismus und Homophobie in Deutschland überwunden. Derart werden jeweils eindeutig voneinander unterschiedene nationale, ethnische „Kulturen“ als in sich geschlossene und homogene konstruiert. Unterschiede innerhalb und zwischen den derart konstruierten „Kulturen“ werden als Ausnahmen oder Integrationserfolge bzw. Verwestlichung heraus definiert. Damit werden nicht nur Minderheiten stigmatisiert, sondern notwendige Diskussionen und Bemühungen im eigenen Kontext verhindert. Mit Sexismus, Heteronormativität und Antisemitismus muss man sich nun nicht mehr als eigene Verstrickungen und gesellschaftliche Widersprüche auseinandersetzen, sondern kann sie als Probleme der Anderen von sich selbst fernhalten.
Gleichzeitig wird im „Othering“ (so wird die binäre Spaltung in „wir“ und „die Anderen“ genannt) das Machtverhältnis zwischen den als wesentlich voneinander unterschiedenen „Kulturen“ zementiert. Im Begriff der Toleranz wird die herablassende Haltung des gnädigen Herrn gegenüber den Unterlegenen sehr treffend ausgedrückt: Tolerieren heißt erdulden, erleiden. Es werden jedoch auch all die anderen Machtverhältnisse und binären Spaltungen durch die Kulturalisierung von Eingewanderten zementiert: Anstatt die strukturelle Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Klasse zu thematisieren, werden all jene Widersprüche, die gegenwärtig in dieser Gesellschaft Handlungsbedarf anzeigen, auf „die Kultur“ „der Anderen“ projiziert.
In Untersuchungen zum Bildungsstand beispielsweise und auch in Berichten von Lehrer(inne)n wird immer wieder hervorgehoben, dass insbesondere türkische und arabische Kinder und Jugendliche so schlecht abschnitten. Ihre „Kultur“, die durch den Islam geprägt sei, zeichne für die schlechten PISA-Ergebnisse verantwortlich. Ich möchte hier erstmal außer Acht lassen, dass Schule sich auf ihre Schülerschaft einzustellen hat und nicht umgekehrt, und der Argumentation folgen. Es gibt also Kinder und Jugendliche, die in diesem Schulsystem weniger erfolgreich sind. Wer sind diese Kinder und Jugendlichen und welche „Bildungskultur“ haben sie von ihren Eltern vermittelt bekommen? Wenn Kultur hier nicht als Herkunftskultur essenzialisiert und entpolitisiert wird, dann zeigt sich, dass es sich hierbei um Kinder von Arbeitsmigrant(inn)en und Flüchtlingen handelt. Kinder, die ihr Leben lang erfahren haben, dass ihre Eltern hart gearbeitet haben und dennoch über wenig Geld und Zukunftsperspektiven verfügen, dafür aber krank geworden und immer noch als „Ausländer“ unerwünscht sind.
Andere Kinder wissen, dass die Schul- und Berufsabschlüsse ihrer Eltern nicht anerkannt werden oder sie über Jahre auf Grund ihres Aufenthaltsstatus nicht arbeiten dürfen und danach nur jene Arbeiten bekommen, für die kein „Deutscher“ oder „EU-Ausländer“ zu finden ist, dass auch sie selbst – obwohl hier aufgewachsen – nur geduldet sind, ihre Zukunft unsicher und deswegen berufliche Ambitionen unangebracht sind. Woher soll die Motivation, in die Schule zu gehen und eine Ausbildung abzuschließen, kommen? Eigentlich verwundert es eher, wie hartnäckig dennoch einige an Schulerfolg und Bildungsziel festhalten und dafür kämpfen, ohne – objektiv gesehen – realistische Chancen zu haben. Auch hier könnten nun kulturelle Bezüge hergestellt werden, wie beispielsweise die Aufstiegsorientierung von Migrant(inn)en, sonst wären sie ja nicht migriert, oder das Gebot der intellektuellen Anstrengung und Bildung als gottgefällige Pflicht, wie von Muslimen zitiert wird. Aber auch in dieser positiven Variante sind dies Verkürzungen, die die Unterstützung einer engagierten Erzieherin oder Lehrerin ebenso de-thematisieren wie andere Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen können (z. B. soziales Umfeld oder Herkunft, familienbiographische Konstellationen usw.).
Nun möchte ich aber doch die vorhin ausgesparte Kritik am Schulsystem nachholen. Denn die angeblich kulturell bedingte Bildungsferne von Eingewanderten (und unteren Schichten, die in diesem Zusammenhang auch genannt wird), verweist auf die Orientierung von Schule an mittelständischer Erwerbsarbeit. Sie setzt andere als die dort geforderten Qualifikationen herab (bsp. soziale oder handwerkliche Kompetenzen) und lässt die ökonomischen Möglichkeiten ihrer Schüler- bzw. Elternschaft außer Acht, die häufig erst zum Schulerfolg führen (Nachhilfeunterricht, private Schulen, Auslandsaufenthalte in sprachlich relevanten Ländern). Kitas werden derzeit gedrängt, diese schulische Logik zu übernehmen und jene sozialen und kreativen Kompetenzen, die sie viel eher als Schule zu fördern in der Lage war, als nachrangig zu entwerten. Die Vertiefung dieses Aspekts würde hier zu weit führen und doch genau jene Aspekte berühren, die für Pädagogik nicht nur in der Einwanderungsgesellschaft zentral wichtig sind. Unter diesem Aspekt und Partizipation fokussierend könnte, um mit einem Beispiel zu enden, die Einbeziehung sozialer, handwerklicher, sportlicher und kreativer Kompetenzen der Elternschaft auch für Eingewanderte und Flüchtlinge eine Möglichkeit sein, ihre Fähigkeiten einzubringen, insbesondere dann, wenn diese ansonsten nicht abgefragt werden. Sie würden dann nicht als türkisch oder polnisch angesprochen werden, sondern als Eltern, deren Fähigkeiten und Interessen gefragt sind und zwar nicht nur und nicht hauptsächlich im Zusammenhang mit ihrer (vermeintlichen oder tatsächlichen) kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit.
Gleichzeitig hätten Eltern, die von gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind, hier Möglichkeiten, sich einzubringen – und damit auch ihren Kindern in Bezug auf Bildung und Verantwortung ein Vorbild zu sein. Das darf selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie von gesellschaftlicher Teilhabe in weiten Bereichen ihres Lebens auch weiterhin ausgeschlossen sind. Partizipation in der Kita ersetzt nicht fehlende Einwanderungspolitik; trotz der Möglichkeiten, die Kita hat, ist Euphorie hier unangebracht, es wird sicherlich viele Eltern geben, die entsprechende Angebote nicht annehmen, weil sie zu sehr in ihrer eigenen Situation gefangen sind oder zwar Angebote der Kita aufgreifen und sie dennoch nicht als Lösung ihrer prekären Situation interpretieren. Ihnen kann daraus kein Vorwurf gemacht werden. Denn pädagogisches Handeln kann bekanntlich Politik nicht ersetzen – auch wenn es stets politisch, gesellschaftlich und historisch kontextualisiert ist. In diesem Spannungsfeld von Kultur als soziale Praxis und Kulturalisierung als Entpolitisierung liegen die Handlungsmöglichkeiten und Fallstricke für pädagogische Praxis in der Kita.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Iman Attia ist Hochschullehrerin für Diversity Studies/Interkulturelle Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin.
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