24 Jun fK 2/10 Wilms
Inklusion als Normalität
Das Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus in Freiburg
Von Stefanie Wilms
Wie das Wort eigenartig es fast als fremdartig hinstellt, eine eigene Art zu haben. (Erich Fried)
Das Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus in Freiburg ist eine Einrichtung der Jugend- und Eingliederungshilfe unter der Trägerschaft des Sozialdienstes katholischer Frauen. 27 Kinder (behinderte und nicht behinderte) leben in vier familienähnlichen Gruppen. Die Aufnahmegründe sind so unterschiedlich wie in allen Kinderheimen: die Situation der Familie lässt es vorübergehend oder langfristig nicht zu, dass das Kind in ihr lebt.
Während in den 1980er Jahren die Gruppen noch streng aufgeteilt wurden nach Jugendhilfe und Eingliederungshilfe, fand nach und nach eine Vermischung statt. Der Blick wanderte vom Kostenträger zum Kind: „Welches Kind passt in welche Gruppe? Welche Kinder passen zusammen?“ Die Grenzen sind oft verwaschen zwischen geistiger Behinderung, seelischer Behinderung, von geistiger Behinderung bedroht, entwicklungsverzögert, verhaltensauffällig usw.
Schon immer wurde die moderne Pädagogik mit Schlagworten konfrontiert, welche sie sich auf die Fahnen zu schreiben hatte. War es früher das Prinzip der Normalisierung, dem die speziell ausgebildeten „Behindertenpädagogen“ nacheiferten, wurde es vorübergehend ersetzt durch das Wort „Integration“, kurz gestreift von der „ganzheitlichen Pädagogik“. Gute Ziele und gute Gedanken, die sich dort in der pädagogischen Theorie etablierten. Warum, so fragt man sich doch, ist es so schwer, diese Theorie ins Leben zu setzen?
Warum ist 20 Jahre nach der UN-Kinderrechtskonvention nun ein neues Wort notwendig, um endlich eine Selbstverständlichkeit, nämlich dass alle Menschen ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf Bildung und Förderung haben, in die Tat umzusetzen? Die „Inklusion“ ist es jetzt, welche den theoretischen Überbau für unser Handeln an der Basis bestimmt. Wiederum gute Gedanken: es soll nicht etwas, was außen vorstand, neu eingebracht, integriert werden, sondern allen Menschen soll von Anfang an alles ermöglicht werden.
Ein Umdenken ist erforderlich, die Unterschiedlichkeit der Menschen, die Besonderheiten vieler sollen als Normalität und Ausdruck der menschlichen Vielfalt gesehen und verstanden werden. Wir sind nicht alle gleich, aber gleichwertig.
Vielleicht ist die Umsetzung so schwierig, weil wir immer auf eine vorausgehende Veränderung von außen warten: „Zuerst soll sich die Gesetzgebung ändern, Jugendhilfe und Eingliederungshilfe sollen verschmelzen zu einem Kostenträger!“ (die Kosten für eine Heimunterbringung für Kinder der Eingliederungshilfe, also noch so genannte behinderte Kinder, betragen ca. ein Drittel von dem, was für die Kinder der Jugendhilfe, also so genannte nicht behinderte Kinder, gezahlt wird). „Zuerst sollen sich per Gesetzgebung die Spezialisierungen der Schulen auflösen!“ „Zuerst sollen alle öffentlichen Gebäude, alle öffentlichen Verkehrsmittel für alle Menschen zugänglich sein!“ Zuerst…? Zuerst müssen wir uns ändern, da wo es möglich ist. Ein Kinderheim wie das Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus zeigt, wie es geht.
Das Kriterium der „Behinderung“ im Sinne von zur Eingliederungshilfe gehörend, wird ganz einfach außer acht gelassen. Um in die Jungengruppe zu kommen, muss man ein Junge sein und ein bestimmtes Alter haben. Man lebt dann in einer Gruppe mit anderen Jungen zusammen, von denen jeder eine Besonderheit hat. Da gibt es, neben dem Jungen mit Down-Syndrom, den Enuretiker, den Enkopretiker, es gibt den mit der Zahnspange und den, der immer Heimweh hat, es gibt den, der besonders gut Fußball spielen kann und den, der eine Lese- Rechtschreibschwäche hat.
Das einzige Einzelzimmer bekommt der Junge, der am ältesten ist und der am längsten da ist, zufällig ist das der Junge mit Down-Syndrom. Die Tatsache, dass dieser Junge ein Down-Syndrom hat, wird nicht einfach ignoriert im Sinne von „Jetzt tun wir mal so, als ob wir alle gleich sind!“ Es wird nur dort ignoriert, wo es nicht wichtig ist.
Jeder Junge dieser Gruppe hat die gleichen Rechte, aber nicht die gleichen Bedürfnisse. Eine individuelle Pädagogik ist gefragt. Aber ist das pädagogische Ziel, jedes Kind dort abzuholen, wo es steht, nicht schon sehr viel älter als Inklusion, Integration und Normalisierung zusammen?
Es gibt Kinder im Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus, die bewältigen ihren Schulweg alleine und es gibt solche, mit denen übt man den Schulweg so lange, bis sie ihn alleine gehen können. Und dann gibt es Kinder, die sind noch gar nicht dort angekommen, dass die selbständige Bewältigung eines Weges für sie von Relevanz ist. Sie lernen vielleicht vorerst, sich alleine anzuziehen oder mit einem Löffel zu essen. Aber wer sagt, dass eine Gruppe nur dann funktioniert, wenn alle das gleiche können?
Der Satz von Konfuzius „Der Weg ist das Ziel!“ bekommt hier eine ganz praktische Bedeutung. So wie die Pädagog(inn)en im Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus sich ganz einfach auf den Weg gemacht haben, „Inklusion“ zu leben, so ist zu hoffen, dass diese neue Bewegung, diese neue alte Diskussion nun endlich die längst überfällige Veränderung in unseren Köpfen auch in Gang setzt. Wenn sich jede und jeder einzelne auf den Weg begibt, wird das Ziel von ganz alleine näher rücken.
Stefanie Wilms ist Diplom-Heilpädagogin (FH) und Mitarbeiterin im Kinder- und Familienzentrum St. Augustinus in Freiburg.
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