24 Jun fK 2/10 Wacker
Inklusion: Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen für alle, (noch) Neuland der Kinder- und Jugendhilfe
Von Elisabeth Wacker
Unter Leitmotiven wie Engagement für ein „Kindergerechtes Deutschland“ oder „Vielfalt leben“ entfalten sich in Deutschland Aktivitäten, damit Kinder und Jugendliche gut heranwachsen können. Rund 1 Prozent von ihnen tun dies mit Handicap: Sie wurden mit Einschränkungen geboren, haben Beeinträchtigungen erworben, leben mit Behinderung oder sind von ihr bedroht. Sie alle sollen gleiche Chancen beim Aufwachsen haben, so sichern es beispielsweise die allgemeinen Kinderrechte zu. Dazu zählt auch ein Recht auf Verschiedenheit und die jeweils passende Unterstützungsform (individueller Leistungsanspruch), wenn sie auf Hilfe angewiesen sind. Ziel dieser Unterstützung ist ein möglichst qualitätsvolles Leben, insbesondere durch Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Inklusion).
Das Gebiet der Inklusion ist allerdings in Deutschland weitgehend noch nicht kartographiert oder beschrieben. Diese „terra incognita“ zu erforschen, ist dringend erforderlich. Dazu muss belastbares und handlungsleitendes Wissen erworben und zur Umsetzung müssen Diskurse geführt werden. Aber ebenso wichtig ist es, Aufklärung über „Drachen und andere Fabelwesen“ zu betreiben, die derzeit als Vorurteile und Bestandswahrungen das gemeinsame Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung bedrohen.
Das Konzept der Inklusion: Teilhabe als Ziel
Das Konzept der Inklusion (Partizipation bzw. Teilhabe) gewinnt an Popularität. Seine Bedeutung im Handeln für und mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ist aber noch konkret herauszuarbeiten. Im Gegensatz zur Exklusion, dem Ausschluss, der Ausgrenzung, geht es darum sicherzustellen, dass Menschen teilhaben können an Aktivitäten, Zutritt haben zu Institutionen, Einfluss nehmen dürfen auf Entscheidungen, zusammen sein können mit anderen Personen – soweit sie dies wünschen. Dieses Konzept setzt neue Akzente verglichen mit dem jahrelangen Bemühen um die Integration von Menschen mit Behinderung (oder anderer besonderer und benachteiligter Bevölkerungsgruppen) oder auch mit dem Konzept der „Normalisierung“, die Exklusion beenden soll.
Denn Integration erfordert oft einen langwierigen Prozess der Anpassung. Diese leistet dabei insbesondere die Gruppe mit der geringeren gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit, während eine andere Leitgruppe machtvoll handeln kann und deswegen vorgibt, was als Anpassungsziel „normal“ ist. Wenn man jedoch Menschen in ihrer Verschiedenheit respektiert, wie dies das Inklusions-Konzept vorsieht, darf von ihnen nicht wie selbstverständlich erwartet werden, dass sie sich an diese definierte „normale Welt“ anpassen, und sie dürfen nicht in die besonderen Unterstützungssysteme exkludiert werden, die für sie geschaffen wurden.
Ein wichtiges Beispiel bezogen auf Kinder und Jugendliche sind die Sonder- oder Förderschulen, zu denen oft lange Wege mit Sondertransporten in Kauf zu nehmen sind. Die Förderschülerinnen und -schüler zahlen so u. a. den Preis, von nicht behinderten Klassenkameraden separiert zu sein, die ihnen in der Regelschule begegnen würden, und zugleich geringere Zeitressourcen für Freundschaften in ihrer Nachbarschaft zur Verfügung zu haben. Soziale Inklusion bedeutet Zugehörigkeit trotz Verschiedenheit und gleiche Chancen beim Aufwachsen. Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung nach diesem Konzept zielt auf ein Ende der Chancenungleichheit durch „Extra-Ausgleiche“. So soll z. B. ein Besuch der Regelschulen möglich werden und dafür die jeweils notwendige Assistenz bereitstehen. Denn Inklusion will das selbstverständliche Miteinander von Kindern und Jugendlichen mit (und ohne) Behinderung.
So hat dies – nach reiflicher Überlegung und Beratung – auch die Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichts formuliert und der Bundesregierung vorgeschlagen. Der Bericht liegt seit 2009 unter dem Titel „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen – Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“ vor. Die Kommission hat darin erstmals konsequent die Methode des „Disability Mainstreaming“ umgesetzt: Das heißt sie hat die Chance des inklusiven Aufwachsens bei jeder ihrer Überlegungen und Resultate berücksichtigt. Dazu war es nötig, (1) die aktuelle Lage der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in Deutschland zu erkunden: ihre Unterstützung und die Aufgaben, die sie zu meistern haben, und (2) die Schnittstellen zwischen den Systemen der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitswesens und der Behindertenhilfe als Ansatzpunkt für Veränderungen in den Blickpunkt zu rücken.
Schatzsuche statt Fehlerfahndung: Konzepte und Basis für gedeihliches Aufwachsen
Damit der inhaltliche Austausch wächst und sich gemeinsame Angebote für Kinder und Jugendliche mit (und ohne) Behinderung entwickeln, soll nach gemeinsamen bzw. anschlussfähigen Konzepten in den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe gesucht werden. Geeignet sind vor allem Zugänge, die die Ressourcen der Heranwachsenden stärken, den Blick auf ihre Lebenswelt richten und die Chance eigener Lebensprojekte im Fokus haben. Dies sind Konzepte (1) der Salutogenese (Wie gelingt es Menschen, gesund zu leben?) und (2) des Capability-Approach bzw. Empowerment und der Kompetenzorientierung (Wie können Menschen ihre Fähigkeiten so entwickeln und nutzen, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich wird?). Diese harmonieren mit dem Ziel der Gesundheitsförderung, die alltägliche Anforderungen und Belastungen einbezieht, bei denen Heranwachsende ihre Bewältigungskompetenzen erproben und entwickeln können.
Das Konzept, „Schatzsuche statt Fehlerfahndung“ als Gesundheitsförderung zu betreiben, fußt auf einer langjährigen Fachdebatte, die fragt, was Kinder und Jugendliche stark macht und was sie befähigt zu gutem Heranwachsen. Bereits 1986 wurde mit der Ottawa-Charta der WHO gefordert, man müsse Heranwachsende auf den Weg geleiten, selbst Entscheidungen zu treffen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände erlangen zu können: Denn so entsteht Lebensqualität (Gesundheit in einem ganzheitlichen Sinn), Inklusion und Beteiligung (Selbstbestimmung und Selbstständigkeit). Diese sind Herausforderung, Verpflichtung und Aufgabe jeder sozialen Gemeinschaft gegenüber allen Menschen, in allen Lebensphasen und unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Fähigkeiten.
Ausgangspunkt ist das einzelne Subjekt, in der „Einzigartigkeit des jeweiligen Betroffenseins“ (Heterogenität, Verschiedenheit) und mit den im Lebensverlauf erworbenen und verfügbaren eigenen Kräften (Ressourcen). Deswegen ist jede einzelne Person mit (und ohne) Behinderung ernst zu nehmen, so wie sie ist. Und es genügt nicht, nur Organisationen und Institutionen im Auge zu haben, die für Personen mit Behinderung und von interessengeleiteten Gruppen geschaffen sind. Vor allem aber ist es wichtig, aufmerksam zu sein für Fähigkeiten und Fertigkeiten, und nicht nur auf Abweichungen und Unfähigkeiten (dis-abilities) zu achten.
Der Fokus auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmung hat zugleich die Kehrseite, dass sich auch gesellschaftliche Erwartungen an alle Heranwachsenden richten: nämlich mit allen jeweils verfügbaren materiellen und sozialen Kräften zur eigenen Lebensqualität beizutragen. Damit dies gelingen kann, sind jedoch Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit beim Aufwachsen eine wesentliche Voraussetzung: Kinder und Jugendliche mit (und ohne) Behinderung benötigen somit faire Startbedingungen ins Leben und die Förderung, die ihre Möglichkeiten erkennt und ins Spiel bringt.
Wo solche Möglichkeiten (Potenziale) zu suchen sind, zeigt die ICF, die International Classification of Functioning, Disability, and Health. Auf ihre Systematik hat man sich 2001 bei der WHO verständigt, um Behinderung zu beschreiben. Sie prüft Potenziale bezogen auf körperliche, seelische, aber auch soziale Aspekte eines Menschen, und sie bezieht zugleich seine Umwelt und deren Gestaltung ein. Ziel ist es herauszufinden, wie ein „gutes Leben“ – das nämlich meint Gesundheit – aussehen kann, ein Leben mit Selbstwirksamkeit, Anerkennung und Teilhabe/Partizipation.
Weil Behinderung noch immer die Verschiedenheit ist, die benachteiligt wird, ist in erster Linie beim Ausgleich ungleicher Chancen anzusetzen, wenn man mehr Inklusion erreichen will, und zwar bei jedem einzelnen Kind und Jugendlichen. Denn Kräfte für ein gutes Heranwachsen können dann zum Tragen kommen, wenn sie gewollt, erkannt und gefördert werden. Die dazu erforderlichen Voraussetzungen schafft das 2001 in Kraft getretene Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX), das „Teilhabe und Rehabilitation“ überschrieben ist. Es dient dazu, „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (§ 1 SGB IX). In dieselbe Richtung soll das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (2004) (sog. Barrierefreiheitsgesetz) wirken, in dem es Handlungsautonomie sicherstellt und stärkt, durch den Abbau von Hindernissen. Mögliche Hindernisse werden gesehen in baulichen und sonstigen Anlagen, technischen Gebrauchsgegenständen, Systemen der Informationsverarbeitung, Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen etc. (BGG § 4).
Zur Lage behinderter Kinder und Jugendlicher in Deutschland
Die Sorge für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Heranwachsenden liegt nicht alleine oder auch nur vorrangig in der Zuständigkeit des Gesundheitssystems, das in erster Linie an der Verhütung oder Behandlung von Krankheiten ausgerichtet ist. Vielmehr entsteht Gesundheit im Zusammenspiel verschiedener förderlicher Faktoren, die im sozialen Nahraum (vor allem auch der Familie), in unterstützenden Lebenskontexten und in der jeweiligen Person angelegt sind. Die oben genannten konzeptionellen Überlegungen machen darauf aufmerksam, wie wichtig Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit für das gesunde Aufwachsen aller Kinder und Jugendlicher sind, damit sie ihre Potenziale entfalten und vorhandene Ressourcen nutzen können.
Welche Faktoren über soziale Systeme (Gesundheitssystem, Bildungssystem, Behindertenhilfe, aber insbesondere auch die Kinder- und Jugendhilfe) bislang beim gesunden Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen mit (und ohne) Behinderung wirken, lässt sich durch einen Blick auf deren Lage in Deutschland erschließen. Im 13. Kinder- und Jugendbericht wurde dies in einer Lebenslaufperspektive, nicht in Form eines „Gesundheitsreports“ versucht: Maßgeblich waren charakteristische Lebensabschnitte und damit verbundene Entwicklungsaufgaben. Leider gibt es zur Lage von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Deutschland noch immer zu wenig belastbare Erkenntnisse. Deswegen formulierte die Expertenkommission aus ihrer Expertise heraus Erwartungen an ein gesundes Aufwachsen und befragte zusätzlich weitere Experten in Form einer Delphi-Studie, welche Faktoren beim gesunden Aufwachsen mit Behinderung förderlich sein könnten. Dem gewählten Konzept folgend ging es dabei vorrangig nicht darum, Einschränkungen, Krankheiten oder die schlichte Nutzung der Hilfesysteme zu erfragen, wie dies Behindertenstatistiken in der Regel tun, sondern darum, sich auf die „Fährte der Chancengleichheit und Lebensqualität“ zu setzen.
In Deutschland leben ca. 23,1 Millionen Menschen unter 27 Jahren. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt etwa 28 Prozent (Angaben Statistisches Bundesamt 2008; Bevölkerungsfortschreibung: Anzahl und Anteil (Prozent) der Heranwachsenden an der Gesamtbevölkerung Deutschlands; Stand 31.12.2006). Weil es keine Meldepflicht für Behinderungen gibt, lässt sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung nur schätzen. Die amtliche Statistik erfasst ausschließlich Kinder und Jugendliche mit einem Ausweis nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG); als schwerbehindert gilt, wer einen amtlich anerkannten Grad der Behinderung (GdB) über 50 Prozent hat.
Bezogen auf die allgemeine Bevölkerungsstatistik sind zwischen 0,5 Prozent und 1,6 Prozent der altersgleichen Kinder und Jugendlichen in Deutschland als schwerbehindert anerkannt (Statisches Bundesamt 2007; Stand 31.12.2005; die prozentualen Anteile wurden im Rahmen des 13. Kinder- und Jugendberichts errechnet). Die reale Zahl der mit Behinderung Heranwachsenden ist mit großer Sicherheit viel höher. Denn es ist insgesamt schwierig, die für das Identifizieren von Behinderung hilfreichen Variablen wie Informations- und Beratungsbedarf von Familien, Antragstellungen, Bewusstsein und Selbstdefinition, Schwellenängste, Unschärfen zwischen chronischer Erkrankung und Behinderung, Versorgungsbedarf und Wahrnehmung von Lebensqualitätseinschränkungen zu beziffern. Als Muster lässt sich zumindest eine Zunahme amtlich anerkannter Heranwachsender mit schwerer Behinderung an den jeweiligen Systemübergängen feststellen: Schwellen zum Kindergartenalter, Schuleintritt, berufliche Qualifikation, Erwachsenenalter wirken als Indikatoren.
Vergleicht man die Zahlen der über Schwerbehindertenausweis klassifizierten Heranwachsenden (273.277 bis 25 Jahre) mit den vorliegenden Schulstatistiken (Schüler/innen zwischen sechs und 15 Jahren in Integrations- bzw. Förderschulen im Schuljahr 2006/2007, ohne Schüler/innen in Klassen für Kranke; StBA 2008), werden Diskrepanzen deutlich zu Dimensionen der tatsächlichen Förderbeschulung (470.886 Schüler/innen von sechs bis 15 Jahren). Es zeigt sich, dass mindestens die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Förderschulen wohl keinen amtlich anerkannten Grad der Behinderung von 50 Prozent oder mehr haben.
Insbesondere fällt auf, dass knapp die Hälfte (47,6 Prozent) des Förderbedarfs für den Bereich Förderschule Lernen festgestellt wurde. Dort sind aber vor allem Heranwachsende beschult, die in der „allgemeinen Behindertenstatistik“ nicht in Erscheinung treten, also vor allem über ihre Beschulung „aktenkundig“ werden. Deutlich überrepräsentiert sind dies Jungen, sowie Kinder mit sozialer Benachteiligung und Migrationshintergrund, also gefährdete Gruppen, bezogen auf Chancengleichheit beim Heranwachsen. Ähnlich selektiert, tendenziell etikettiert und vermutlich stigmatisiert werden die etwa 10 Prozent der Förderbeschulten im Bereich emotionale und soziale Entwicklung. Vor dem Hintergrund des Auftrags der Förderschulen, Inklusion voranzubringen, erscheint dies als paradoxe Situation.
Förderung des gesunden Aufwachsens bei Behinderung
Derzeit finden Kinder und Jugendliche mit Behinderung verglichen mit den Gleichaltrigen in ihren Lebenskontexten sehr ungleiche Voraussetzungen und Chancen für ein gesundes Aufwachsen vor. Das Bewusstsein für diese Ungleichheit ist in Deutschland u. a. deswegen blass, weil große wohlfahrtsstaatliche Anstrengungen unternommen werden, hoch professionelle, exklusive, aber auch exkludierende Hilfen zu bieten. Dass hier Veränderungsbedarf besteht, signalisiert auch eine eigene Studie, die nach dem Delphi-Verfahren über Expertenwissen Auskunft zur aktuellen Lage von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung einholte: 40 Fachleute aus Verbänden und Vereinen der Behindertenhilfe, aus der Wissenschaft, Expertinnen und Experten in eigener Sache (Eltern und/oder Menschen mit Behinderung), Leistungsanbieter und Leistungsträger wurden 2008 in einem zweistufigen Verfahren befragt. Und sie empfehlen eine Reihe von Veränderungen, um das gesunde Aufwachsen bei Behinderung zu fördern, insbesondere (1) mehr aufsuchende Hilfen, (2) vernetzte Leistungen und Disziplinen, (3) transdisziplinäre Dialogen sowie (4) Beratung und Qualifizierung.
Sie raten dringend, (1) Unterstützung auf Individuen zentriert zu planen, (2) Community Care (Hilfe im Sozialraum) zu entwickeln, (3) mehr Geld- statt Sachleistungen einzusetzen (über ein Persönliches Budget) sowie (4) Familienzentren und inklusive Tageseinrichtungen zu gründen.
Damit dies gelingen kann, empfehlen sie, (1) tragfähige Netzwerke zu bauen, (2) ein Navigationssystem für Heranwachsende zu entwickeln (mit Case- und Gatemanagern bzw. System- und Kooperationsmanagern) für Empowerment (wachsende Selbstbefähigung), (3) professionelle Grenzgänger zwischen den sozialen Systemen zu schulen, (4) die Gleichrangigkeit der Unterstützungssysteme (Gesundheitssystem, Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendhilfe) anzustreben und vor allem (5) Autonomie und Inklusion zu fördern (beim Wohnen, der Bildung, der Mobilität, der Kommunikation, den sozialen Kontakten etc.). Dann erst wäre Deutschland international anschlussfähig in seinen Leistungsformen und -standards, und auf dem Weg, bestehende Inklusionsversprechen und -verpflichtungen zu erfüllen.
Neuland beschreiten – Inklusion als Auftrag und Herausforderung
Ob Columbus zum Ende des 15. Jahrhunderts Nordamerika wieder- oder neu entdeckte, ist umstritten. Man weiß aber, dass er damit der europäischen Besiedlung den Weg bereitete und dass ihm vor Betreten des Neulands die Angst vor Untiefen und anderen Gefahren den Schlaf raubte.
Neuland zu betreten und dort heimisch zu werden, ist eine große Herausforderung. Vor einer solch wichtigen Aufgabe steht derzeit die Kinder- und Jugendhilfe, wenn sie ihren Beitrag leisten will, um die Teilhabe beim Aufwachsen für alle voranzubringen. Anstrengungen sind zu unternehmen im Zusammenspiel mit anderen Sozialsystemen, insbesondere dem Gesundheitssystem und der Behindertenhilfe. Aber auch im Diskurs mit der Politik und bei der konkreten Entwicklung von Wohnquartieren und Gemeinden müssen wegweisende Impulse gegeben werden. Sie können erfolgen bei der Beratung und Unterstützung von Familien, in vorschulischen Einrichtungen und Schulen, über Angebote von Vereinen, aber auch durch die enge Zusammenarbeit der relevanten Hilfesysteme. Die Richtung ist vorgegeben mit dem Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe, alle Heranwachsenden in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen und dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu erhalten bzw. zu schaffen (nach § 1 SGB VIII). Dass dies explizit auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung mit einbezieht, hat der 13. Kinder- und Jugendbericht hervorgehoben.
Damit wäre Deutschland auf dem Weg, das 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen entwickelte „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ (die sog. UN-Konvention), nun innerstaatlich ins Leben zu bringen. Die dort weltweit geforderte konsequente inklusive Perspektive aller Handlungsfelder, damit Heranwachsende mit drohenden oder bereits manifesten Behinderungen ihr gleiches Recht haben und die gleichen Bedürfnis leben können, wie Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen, würde so konkretisiert. Nicht nur die Europäische Gemeinschaft bekannte sich 2007 zu dieser Konvention, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte sie 2008 als eine der Vorreiterstaaten. Deutschland hat sich also verpflichtet auf den „Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung“ und darauf, für ihr soziales, psychisches und physisches Wohlbefinden bestmögliche Bedingungen zu schaffen. Es muss die entsprechenden Vorschriften der Konvention ab 2009 in nationales Recht umwandeln. Dazu ist es wichtig, Maßnahmen nicht wie bislang vorrangig institutionszentriert, sondern am Individuum orientiert zu gestalten.
Markierungspunkte auf dem Weg sind beispielsweise die Art. 7 und 24 der UN-Konvention. Dort heißt es bezogen auf Kinder mit Behinderung und ihre Teilhabe am Bildungssystem:
Art. 7 (Kinder mit Behinderung): (1) Die Vertragsstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können. (2) Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderung betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
Art. 24 (Bildung): Es ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.
Befähigungsgerechtigkeit fördert Inklusion. Sie kann aber nicht entstehen, ohne dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesichert ist. Also ist das Bekenntnis zu mehr Chancen für gesundes Aufwachsen untrennbar verbunden mit dem Willen zur Inklusion und der Ablehnung von gesellschaftlichem Ausschluss. Das heißt Inklusion wird Herausforderung, Verpflichtung und Aufgabe einer sozialen Gemeinschaft, die alle Menschen in vergleichbarer Weise von Geburt an bis ins Alter am Leben in allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv beteiligen will und sie nicht in gesellschaftlichen Sonderbezirken oder Schonbereichen für bestimmte Gruppen (z. B. Menschen mit Behinderung, aus anderen Ländern Zugewanderte, sozial Benachteiligte etc.) ausschließt. Soll mit einer inklusiven Perspektive tatsächlich ernst gemacht werden, ist ein Leistungsangebot für behinderte Kinder und Jugendliche zu formen, das sich primär an der Lebenslage „Kindheit und Jugend“ orientiert und erst sekundär nach der Behinderung oder anderen Benachteiligungen und Belastungen in dieser Lebenslage differenziert.
Dies ist auch nach Auffassung der Bundesregierung der Maßstab, an dem die Leistungen für junge Menschen mit Behinderung zu messen sind. Die Umsetzung solcher Leitlinien muss – gegebenenfalls auch durch Änderungen der Leistungszugänge – so realisiert werden, dass man von einem Nebeneinander der Systeme zum Miteinander gelangt. Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien sind dabei in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen (disability mainstreaming). Die Kinder- und Jugendhilfe aber muss den Pioniergeist aufbringen, in ihren Handlungsfeldern auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung als Akteure des eigenen Lebens zu sehen, ihre Chancen auf Eigenständigkeit zu fördern und sie nicht nur als neue Konsumenten pädagogischer Angebote zu betrachten. Aktionsräume und Trigger für Inklusion und mehr Chancen für gesundes Aufwachsen sind (1) der selbst gewählte Kontakt mit Gleichaltrigen in einer Gemeinde bzw. einem Quartier (Community Care), (2) die Teilhabe an Bildung und Beruf über Unterstützung nach Maß (Supported Living), (3) die Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen (Bewusstsein für Heterogenität, Managing Diversity), (4) der Respekt vor ihren Fähigkeiten (Kompetenzorientierung, Capability Building/Empowerment).
Prof. Dr. Elisabeth Wacker ist Hochschullehrerin für Rehabilitationssoziologie an der Universität Dortmund und war Mitglied der Sachverständigenkommission für den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung.
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