19 Jun fK 4/10 Elsäßer
Die Position des Kindes stärken
Benachteiligungen von Pflegekindern müssen abgebaut werden
Von Inge Elsäßer und Gesine Wischerhoff
Der Evangelische Verein für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland e.V. vermittelt Kinder aus dem In- und Ausland, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihren biologischen Familien aufwachsen können, in Adoptiv- oder Pflegefamilien. Die Eltern sollen die soziale Elternschaft für ihr Adoptiv- oder Pflegekind übernehmen, da die leiblichen Eltern diese Rolle nicht ausfüllen können.
Der Auffassung, dass Adoptiv- oder Pflegeeltern die Rolle sozialer Eltern übernehmen können, liegt die durch die Bindungsforschung bestätigte Theorie zugrunde, dass soziale Elternschaft nicht auf biologischer Verwandtschaft, sondern auf wechselseitiger Bindung beruht. Eltern eines Kindes werden diejenigen Personen, die ihm Sicherheit und Schutz bieten, die sich feinfühlig auf das Kind und seine Bindungssignale einlassen sowie seine Bedürfnisse erkennen und adäquat beantworten. Umgekehrt wird sich das Kind mit seinem angeborenen Bindungsbedürfnis an diejenigen wenden, die dieses Bindungsangebot machen und ihm Schutz und Sicherheit bieten.
Damit wechselseitige, positive Bindung in einer Adoptiv- oder Pflegefamilie wachsen kann, müssen – neben den guten elterlichen Fähigkeiten der Erwachsenen und der Möglichkeit des Kindes, sich nach zum Teil traumatischen Erfahrungen nochmals auf Bindung einzulassen – auch die äußeren Rahmenbedingungen stimmen. Die wichtigste Voraussetzung, damit Bindung gelingen kann, ist die Sicherheit, dass das Adoptiv- oder Pflegeverhältnis von Dauer sein wird. Im Falle der Adoptionsvermittlung ist diese Sicherheit für das Kind und die Adoptiveltern in einem überschaubaren Zeitraum gegeben.
Theoretisch gibt es auch für Pflegekinder und ihre Pflegeeltern die Möglichkeit, in überschaubarer Zeit eine langfristige Perspektive zu entwickeln. Denn das Gesetz sieht für Pflegeverhältnisse ausdrücklich zwei Möglichkeiten vor: die zeitliche befristete Erziehungshilfe und die auf Dauer angelegte Lebensform (§ 33 SGB VIII). Bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie soll in einem für das Kind vertretbaren Zeitraum geklärt werden, ob das Kind zu den Eltern zurückgeführt werden kann. Ist dies nicht möglich, soll eine auf Dauer angelegte Lebensperspektive für das Kind erarbeitet werden (§ 37 SGB VIII).
Leider sieht die Praxis häufig anders aus. Viele Pflegekinder verbleiben zu lange im Stadium der „Vorläufigkeit“, weil leibliche Eltern die Voraussetzungen, die nötig sind, um ihr Kind selbst zu erziehen, nicht herstellen können, sich aber trotzdem mit einer dauerhaften Unterbringung ihres Kindes in einer anderen Familie nicht einverstanden erklären können. Dies blockiert die Kinder in ihren Entwicklungsmöglichkeiten.
Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder (zeitweise) überfordert sind, müssen möglichst früh intensive und adäquate Unterstützung erhalten, die ihnen eine realistische Chance bietet, ihre familiäre Situation zu stabilisieren. Diese Hilfen haben selbstverständlich Vorrang. Gelingt es den Eltern aber trotz der Unterstützung nicht, ihre Erziehungsfähigkeit (wieder) herzustellen, müssen die Bedürfnisse des betroffenen Kindes in den Mittelpunkt gerückt werden und die Interessen der Erwachsenen müssen dahinter zurücktreten.
In Gesprächen mit den Kolleg(inn)en der Jugendämter wird häufig deutlich, dass aufgrund ihrer Erfahrungen mit den zuständigen Gerichten die Einschätzung vorherrscht, dass Richter das Recht der leiblichen Eltern sehr hoch bewerten. Sie zögern deshalb, gegen uneinsichtige Eltern gerichtlich vorzugehen. Denn es hat sich gezeigt, dass auch in Fällen, in denen mit Hilfe von Diagnoseeinrichtungen eindeutig erhebliche Mängel in der Erziehungsfähigkeit der Eltern nachgewiesen wurden, die auch mit Hilfestellung nicht behoben werden konnten, gerichtliche Verfahren häufig zugunsten der leiblichen Eltern ausgehen.
Dies führt in manchen Fällen dazu, dass über einen langen Zeitraum, der aus Kindesperspektive nicht mehr vertretbar ist, versucht wird, die leiblichen Eltern zu einer Zustimmung zu bewegen, bzw. dazu, dass Eltern mit der Realität gar nicht mehr offen konfrontiert werden, um den Konflikt zu vermeiden. Das Problem wird „ausgesessen“. Die Perspektive des Kindes und der Pflegeeltern bleibt unklar.
Das Kind jedoch, das trotz ungeklärter Perspektive über längere Zeit bei seinen Pflegeeltern lebt, hat keine andere Chance, als sich an seine sozialen Eltern zu binden. Die lange Unsicherheit über den Verbleib wird sich aber negativ auf die Entwicklung des Kindes und die Bindungsqualität auswirken.
Auch die Erwachsenen, die ein Kind mit der Bereitschaft aufnehmen, seine sozialen Eltern zu werden, brauchen in einem absehbaren Zeitraum Sicherheit. Der Evangelische Verein stellt immer wieder fest, dass es eher möglich ist, Adoptiveltern auch für ältere Kinder aus dem Ausland zu finden, als Pflegeeltern für zum Teil noch sehr kleine Kinder aus Deutschland, weil die Paare sich nicht auf die lange Unsicherheit eines Pflegeverhältnisses einlassen können. In den Gesprächen mit den Adoptions- und Pflegeelternbewerbern wird deutlich, dass viele Eltern eine sehr große Annahmenbereitschaft im Hinblick auf das Kind und seine Bedürfnisse mitbringen und dass sie bereit sind, im Prozess des Bindungsaufbaus auch schwierige und lange Wege mit ihrem in der Regel traumatisierten Kind zu gehen. Die meisten Eltern brauchen dazu aber selbst die Sicherheit, dass das Kind bei ihnen bleiben kann.
Die Unsicherheit, die Pflegekinder und ihre Pflegeeltern erleben, setzt sich nach unserer Beobachtung im System, das für die Beratung und Betreuung der Pflegefamilie zuständig ist, fort. Eine kontinuierliche Beratung und Begleitung der Pflegefamilie durch den Pflegekinderdienst wird häufig durch § 86, Abs. 1-5 SGB VIII ausgehebelt, der vorsieht, dass beim Umzug leiblicher Eltern in den ersten zwei Jahren nach der Unterbringung des Kindes die Zuständigkeit zum Jugendamt am neuen Wohnort der Eltern wechselt. Erst nach zweijähriger Unterbringung eines Kindes in der Pflegefamilie wird das Jugendamt am Wohnort der Pflegefamilie zuständig (§ 86 Abs. 6 SGB VIII).
In der Praxis erleben wir die durch Umzug der leiblichen Eltern bedingten Zuständigkeitswechsel häufig. Für Pflegefamilien, die ausschließlich durch das Jugendamt betreut werden, ist diese Regelung sehr schwierig, denn diese Familien müssen sich immer wieder auf neue Ansprechpartner einstellen. Das neu zuständige Jugendamt muss zunächst wieder Beziehungen zu allen Beteiligten aufbauen und sich mit dem „Fall“ vertraut machen. Manchmal kommen durch einen Wechsel bereits erarbeitete Planungen ins Wanken, manchmal gehen sogar wichtige lebensgeschichtliche Daten des Kindes und seiner leiblichen Familie verloren.
Der Evangelische Verein als freier Träger versucht, die Kontinuität in der Beratung und Begleitung der Pflegefamilie sicherzustellen, indem er fester Ansprechpartner für die Pflegefamilien bleibt, auch dann, wenn die Zuständigkeit der Jugendämter wechselt. Allerdings haben wir die Erfahrung gemacht, dass es vorkommen kann, dass ein neu zuständiges Jugendamt mit der Begleitung durch einen freien Träger nicht einverstanden ist, und die Betreuung der Pflegefamilie selbst übernehmen will, zum Beispiel um Kosten zu sparen. In diesen Fällen haben weder der freie Träger noch die Pflegefamilien eine Möglichkeit, sich zu wehren, wenn fachliche Argumente kein Gehör finden.
Das Gesetz sieht auch noch eine weitere Möglichkeit vor, eine dauerhafte Perspektive für Pflegekinder zu schaffen: die regelmäßige Überprüfung der Adoptionsmöglichkeit in der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII), wenn ein Kind langfristig außerhalb der Familie untergebracht ist. Diese Vorgabe wird nach unserer Einschätzung in der Praxis leider nicht konsequent umgesetzt.
Ob ein Kind in eine Pflegefamilie oder eine Adoptivfamilie vermittelt wird, hängt von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab, die häufig nicht mit den Bedürfnissen des betroffenen Kindes kongruent sind. Oft stehen die Rechte der leiblichen Eltern im Vordergrund und nicht das Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit und geklärter, langfristiger Perspektive. Wir erleben deshalb Pflegekinder im Vergleich zu Adoptivkindern als benachteiligt.
Um dieser Benachteiligung der Pflegekinder entgegenzuwirken, müssen endlich die Bedürfnisse der Kinder ins Zentrum der Kinder- und Jugendhilfe gerückt werden. Bei allem Verständnis für die Situation leiblicher Eltern, die häufig selbst Opfer unglücklicher Umstände sind, müssen doch die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten, Sicherheit für das Kind zu schaffen, konsequenter umgesetzt werden.
Evangelischer Verein für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland e.V.
Der Evangelische Verein für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland e. V. in Düsseldorf blickt auf eine über 130-jährige Geschichte zurück und ist damit einer der ältesten Fachverbände der rheinischen Diakonie. Heute nimmt der Evangelische Verein die folgenden Aufgaben wahr:
(1) Evangelische Zentralstelle für Adoption des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V.
Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. hat im Jahr 2010 die Koordination und verbandspolitische Vertretung des Arbeitsbereiches der Adoptionsvermittlung auf Bundesebene an den Evangelischen Verein delegiert. Diese Delegation knüpft an die Geschichte des Evangelischen Vereins an, der kurz nach dem zweiten Weltkrieg fast 30 Jahre lang die Funktion einer „Adoptionszentrale des Zentralausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche“ wahrgenommen hat. Die Geschäftsführerin des Evangelischen Vereins übernimmt im Auftrag des Diakonischen Werkes der EKD mit dessen Unterstützung und in enger Rückbindung an das Zentrum Familie, Integration, Bildung und Armut die inhaltliche und organisatorische Verantwortung für den fachpolitischen Informationsaustausch unter den evangelischen Fachdiensten sowie die verbandspolitische Begleitung des Arbeitsfeldes und vertritt das Arbeitsfeld Adoption in evangelischer Trägerschaft auf bundespolitischer Ebene.
(2) Aufgaben im Auftrag der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.
Der Evangelische Verein übernimmt außerdem Aufgaben im Auftrag der Diakonie Rheinland Westfalen-Lippe e.V.: die Förderung des fachlichen Austausches im Bereich der evangelischen Adoptions- und Pflegekindervermittlung, die Durchführung von Fachtagungen und Fortbildungen zur fachlichen Weiterentwicklung und Qualitätsentwicklung der evangelischen Adoptions- und Pflegekindervermittlung, die Erarbeitung von Positionen und Stellungnahmen für die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und die Vertretung (innerhalb und außerhalb der Diakonie).
(3) Zentraler Evangelischer Fachdienst für interstaatliche Adoptionsvermittlung
Der Zentrale Evangelische Fachdienst für interstaatliche Adoptionsvermittlung wurde 1991 im Auftrag des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. eingerichtet. Der Evangelische Verein sucht für verlassene Kinder aus so genannten Entwicklungsländern, die in ihrem Herkunftsland derzeit keine Chance auf eine gedeihliche Zukunft haben, geeignete Eltern in Deutschland und bereitet diese auf die besondere Aufgabe vor. Derzeit kooperiert der Evangelische Verein mit Äthiopien, Südafrika und Kenia. Gemeinsam mit den ausländischen Behörden führt der Evangelische Verein das internationale Adoptionsverfahren durch. Darüber hinaus leistet er die nachgehende Begleitung und Beratung der Adoptivfamilien und unterstützt die Adoptiveltern im Verfahren zur Feststellung der Anerkennung und Wirkung nach dem Adoptionswirkungsgesetz.
(4) Überregionaler Adoptions- und Pflegekinderdienst
Der Adoptions- und Pflegekinderdienst sucht vor allem für ältere Kinder oder Kinder mit besonderen Belastungen überregional nach geeigneten Eltern (Adoptiveltern, Pflegeeltern gemäß § 33 SGB VIII oder Erziehungsstellen gemäß § 34 SGB VIII). Diese Kinder werden dem Evangelischen Verein häufig von den örtlichen Jugendämtern, Diakonischen Werken oder katholischen Sozialdiensten gemeldet, die in ihrem begrenzten Einzugsbereich nicht die passenden Eltern für diese Kinder finden. Die Fachkräfte des Adoptions- und Pflegekinderdienstes beraten die leiblichen Eltern der Kinder vor und nach der Vermittlung. Sie bereiten Paare auf Adoptiv- oder Pflegekinder vor, führen die Vermittlung durch und beraten und begleiten Adoptiv- und Pflegefamilien nach der Vermittlung. Als sehr alter Adoptionsdienst berät der Evangelische Verein auch regelmäßig eine große Zahl erwachsener Adoptierter, die nach ihrer Herkunft suchen, und begleitet Wiederbegegnungen zwischen erwachsenen Adoptierten und ihren Herkunftsfamilien.
Inge Elsäßer ist Diplom-Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin des Evangelischen Vereins für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland e.V. in Düsseldorf.
Gesine Wischerhoff ist Diplom-Sozialarbeiterin und stellvertretende Geschäftsführerin des Evangelischen Vereins für Adoptions- und Pflegekindervermittlung Rheinland e.V. in Düsseldorf.
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