19 Jun fK 6/10 Thomä
Der Streit um die Väter in Deutschland nach 1945
Von Dieter Thomä
Bevor ich den Blick auf die Diskussion um das Vaterbild in der jüngeren Vergangenheit richte, möchte ich kurz zurückblicken auf den Vatersturz, mit dem die Moderne einsetzt. Michael Walzer hat darauf hingewiesen, dass sich dieser Vatersturz, die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahre 1793, nicht nur auf den Körper des Königs bezog – oder, wie man besser sagen sollte: auf den einen Körper des Königs –, sondern auf die zwei Körper des Königs. Er berief sich hier auf eine Unterscheidung von Ernst Kantorowicz; gemeint war bei ihm die Doppelgestalt des Königs, die sich aus dessen physischer Existenz und dessen Verkörperung einer symbolischen Funktion zusammensetzte. Anders als frühere Königsmorde, die nur die Ersetzung eines Souveräns durch einen anderen zum Ziel hatten, richtete sich die Hinrichtung des Königs in der Französischen Revolution gegen den physischen Körper und gegen die symbolische Verkörperung zugleich.
Überträgt man nun diese Deutung auf die Figur des Vaters, so kann man gleichermaßen sagen, dass bei ihm eine Doppelung von biologischer Funktion und symbolischer Rolle auftritt. Es lag in der Logik der Französischen Revolution, dass man gewissermaßen in einem Aufwasch mit der symbolischen Rolle des Königs auch die des Vaters abschaffen wollte: So kam das Gedankenspiel auf, dass man die Erziehung der „Republik“ übertragen solle. Freilich blieb es, was die Abschaffung des symbolischen Vaters in der Französischen Revolution betrifft, bei rhetorischen Ankündigungen. Deshalb konnte sogar noch im 20. Jahrhundert die Psychoanalyse Lacans mit der Prämisse antreten, dass die symbolische Funktion des Vaters übermächtig sei.
Die bewegte Geschichte der zwei Körper des Vaters weist allerdings Besonderheiten auf, die in dieser Form beim König nicht auftreten. Anders als ein König steht der Vater direkt für eine bestimmte biologische Funktion, die in der Regel auch gewisse Pflichten und Rechte mit sich bringt. Entsprechend treten soziale Konflikte auf, wenn die Väter ihre symbolische Rolle ignorieren, also den Akt der Zeugung zur Beiläufigkeit erklären und Gleichgültigkeit zelebrieren; solche Kontroversen kennt man aus den ersten Jahren der jungen Sowjetunion sowie auch aus jüngster Zeit, wenn Männer sich – wie es so treffend heißt – in großer Zahl aus ihrer Verantwortung stehlen. Dabei ist die symbolische Einordnung und Auslegung der Vater-Rolle nicht – wie die des Monarchen – festgeschrieben im Rahmen einer institutionellen Ordnung, in der dieser als Verkörperung der Macht operiert. Vielmehr ist die symbolische Rolle des Vaters auslegungsfähig und -bedürftig. Entsprechend zeugt die Geschichte der letzten Jahrhunderte nicht einfach von der Aufrechterhaltung der symbolischen Macht des Vaters, sondern von dessen Verwandlung. Die Aussicht auf diese Verwandlung war übrigens schon in der Zeit der Französischen Revolution mindestens ebenso präsent wie die Absicht der Vaterabschaffung.
Gleichwohl ist die deutsche Geschichte nach 1945 zunächst weniger eine Epoche kräftiger Vaterverwandlung als vielmehr Schauplatz einer Krise des Vaterbildes. Sie steht für verschiedene Formen des Vaterverlusts und der Vaterlosigkeit. Fünf solche Formen lassen sich unterscheiden; sie möchte ich im Folgenden kurz skizzieren.
Der Tod der Väter
Das neue Spiel, das neue Glück, das 1945 beginnt, hat zunächst wenig Spielerisches, sondern ist von bitterem Ernst durchtränkt. Man ist umringt, eingekreist von denen, die fehlen, von Gefallenen oder Vermissten. Die militärischen Männermaschinen haben sich als Männervernichtungsmaschinen erwiesen. Die Alterspyramide in Deutschland wie auch in anderen Ländern zeigt nach dem Krieg bei manchen Jahrgängen der männlichen Bevölkerung tiefe Kerben. Hinter den dürren Zahlen steht im Alltag die millionenfache Trauer der Hinterbliebenen. Es sind dies in großer Zahl Kinder, die ihre Väter verloren haben. Besonders auffällig ist, wie mühsam und langsam man sich nach 1945 – oder eben erst viel später – dazu durchringen konnte, die Folgen dieser demographischen und lebensgeschichtlichen Sondersituation verstehen zu lernen. Anders als die Stunde Null, die die Revolutionäre in Frankreich offensiv inszenierten, indem sie einen neuen Kalender einführten, der die Ignoranz der Vorzeit gewissermaßen aktenkundig werden ließ, handelte es sich bei der Stunde Null 1945 um einen Neuanfang, der aus dem Leiden kam.
Bei Hegel findet sich die ebenso kluge wie nüchterne Beobachtung, „dass im ganzen die Kinder die Eltern weniger lieben als die Eltern die Kinder, denn sie gehen der Selbständigkeit entgegen und erstarken, haben also die Eltern hinter sich“. Diese Perspektive lässt dem ersten Anschein nach die Möglichkeit zu, dass die junge Generation nach 1945 beim Blick nach vorn unbekümmert „erstarken“ könnte. Doch tatsächlich erteilt Hegel keineswegs die Auskunft, dass den Kindern die Eltern gleichgültig wären; vielmehr sollen sie deren Liebe im Rücken spüren.
Neben diesem emotionalen Rückhalt, der aus der Vergangenheit kommt, tritt die epistemische Verständigung über die Vergangenheit. Kierkegaards berühmter Ausspruch, dass man das Leben „vorwärts lebt“ und „rückwärts versteht“, wird zwar der Tatsache nicht gerecht, dass auch beim Handeln selbst Verstehensprozesse im Spiel sind. Gleichwohl macht er deutlich, dass wir die Vergangenheit als Rückraum des eigenen Lebens brauchen: „Was ich bin, bin ich geworden“, heißt es bei Herder. Wer das Gewordensein flüchten muss, weil er die in ihm lauernden Schmerzen nicht ertragen kann, behält eine defekte Identität zurück. Auch in normativer Hinsicht bringt das Fehlen der Väter Belastungen mit sich. Der reality check, mit dem frei flottierende Vorstellungen über Männlichkeit oder über die von Vätern verkörperten Ideale kontrollierbar bleiben, geht – zynisch ausgedrückt: mangels Masse – ins Leere. So hat das physische Verschwinden der Väter Folgen, die weit in die symbolische Selbstverständigung der Nachkriegsgeneration hineinreichen.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf etwas Bemerkenswertes oder Merkwürdiges hinweisen, das bislang, soweit ich sehe, kaum Beachtung gefunden hat. Zu denen, die von den Überlebenden gerade auch in Deutschland schon früh zu Leitfiguren gekürt wurden, gehörten zwei französische Schriftsteller, die offenbar in besonderer Weise den Nerv der Zeit trafen: die feindlichen Brüder Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Nun sind gerade diese beiden selbst Vaterlose eigener Art: Jean-Baptiste Sartre starb im September 1906, als Jean-Paul 15 Monate alt war, an einer Tropenkrankenheit, die er sich als Marineoffizier in Asien zugezogen hatte; Lucien Camus starb im November 1914, als Albert 11 Monate alt war, an Verletzungen, die er sich als Soldat in der Marne-Schlacht zugezogen hatte.
Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Attraktion, die Sartre und Camus nach 1945 ausgeübt haben, daran zu messen, wie sie in ihren Werken – direkt oder indirekt – die Generationenfrage aufgegriffen haben. Bekanntlich steht diese Frage in Sartres und Camus’ späteren Büchern – „Die Wörter“ und „Der erste Mensch“ – im Mittelpunkt. Doch schon ihren früheren Werken ist zu entnehmen, dass Sartre auf die heroische Selbstbestimmung des Einzelnen setzte, während Camus einen eher elegischen Tonfall anschlug und die prekäre Ordnung des gemeinschaftlichen Lebens erkundete. Es ist plausibel, dass die Deutschen die Sartre- und Camus-Lektüre als Gelegenheit genutzt haben, der Vaterlosigkeit in einem sicheren Abstand, auf einem fremden Terrain zu begegnen. Wenn man die folgende Passage aus „Die Wörter“ mit den Augen eines Nachkriegsdeutschen liest, dem die Stimmungen der Trauer, aber auch der Wut nahe liegen mögen, bekommt sie eine fast atemberaubende Doppeldeutigkeit: „Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel; die Schuld daran sollte man nicht den Menschen geben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen, ausgezeichnet; Kinder haben, welche Unbill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb er sehr früh; (…) ich stimme gern der Deutung eines bedeutenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein Über-Ich.“
Die Gebrochenheit oder Verhärtung der Väter
Ob man sich nun an die im 18. Jahrhundert entwickelten Theorien der „Perfektibilität“ und der „Bildung“ hält, an Nietzsches Konzeption der „Selbstüberwindung“ oder auch an lebensphilosophische sowie pragmatistische Modelle eines sich beständig erneuernden und verwandelnden Lebens: So oder so tragen die Konzeptionen der Individualität in der Moderne der Bewegtheit oder Wandelbarkeit des Lebens Rechnung. Viele der Väter, die überlebt hatten, konnten dieser Anforderung nach 1945 gar nicht oder nur in engen Grenzen entsprechen. In ihrer Erstarrung blieb ihnen nur, verhärtet zu sein – oder aber gebrochen. Neben die physische Abwesenheit trat also – mindestens ebenso prominent – eine symbolische Abwesenheit, ein Ausfall der Väter als Vorbilder.
Die pfiffigste Charakterisierung eines Vaters, der auf symbolischer Ebene versagt, entstammt, soweit ich sehe, dem Film „Wir Kellerkinder“ aus dem Jahre 1960. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der seinen Vater nach dem Krieg in einem Kellerloch versteckt, um ihn vor der von den Alliierten verhängten Gefängnisstrafe zu bewahren. Ich zitiere aus dem Drehbuch des Satirikers Wolfgang Neuss: „Der Alte lag aber nicht nur im Loch. Er war auch innerlich völlig verschlossen. […] Jazz mochte er natürlich nicht. (…) Er schimpfte auf die „Niggermusike“. „Ekelhaft artfremd!“ sagte er. Früher hatte er solche Worte gar nicht gekannt. Wenn es mir zuviel wurde, trommelte ich ihn voll Wut wieder rin ins Loch. Was der mir alles in den vier Jahren seiner Kellerversteckzeit erzählte… Unbeschreiblich! Nazi war er nicht mehr. Er war eine neue Mischung. Er redete katholischer als der Papst. Obwohl wir evangelisch waren. Demokratischer als George Washington. Alles, was er sagte und dachte, ließ sich nur falsch verstehn. Er hatte sich selber entnazifiziert. Heillos war’s. Treudeutsch. Und doch irgendwie neu. Und alles „integer“. Das war sein liebstes Wort.“
Es ist ein ziemlich verbreitetes Phänomen, dass Menschen gerne Wörter in den Mund nehmen, für deren Sache sie nicht stehen. Dies gilt insbesondere für Anleihen aus dem Wörterbuch der Moral – so auch in diesem Fall für die „Integrität“. Trotzig wird hier eine Ganzheit reklamiert, die aus Scherben, aus dem moralischen Kollaps der NS-Zeit erstehen soll wie Phönix aus der Asche. Helmut Schelskys „Die skeptische Generation“ offeriert einen eigentümlichen Vorschlag zur Fortsetzung des Generationenspiels in Deutschland nach 1945. Ohne die Untaten der Väter in der NS-Zeit und deren Folgen für die „Generationenspannung“ eigens abzuhandeln, sieht er in der entstandenen Distanz zwischen Vätern und Kindern eine Chance zur Entspannung, zur nüchternen oder – wie er gerne sagt – „realistischen“ oder „praktischen“ Konzentration auf Sachprobleme. Was emotionale Erstarrung ist, liest er als pragmatischen Fortschritt; wiederum wird mit dem Reden über die „Ernüchterung“ und dem Schweigen über deren Gründe eine eigentümliche Verschiebung der Thematik betrieben. Schelsky beschreibt die von ihm empirisch untersuchte Generation der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1940 (zu der eine große Zahl späterer Achtundsechziger gehört) „in allem, was man so gern weltgeschichtliches Geschehen nennt,“ als „eine stille Generation“, die weitgehend unpolitisch agiert. Dass in diesem Entpolitisierungsszenario auch das Wunschdenken eines Autors zum Ausdruck kommt, der in seinen späten Jahren noch von seiner – freilich eher bescheidenen – Verwicklung in das NS-Regime eingeholt werden wird, sei nur nebenbei erwähnt. Entscheidend ist, dass Schelsky nun das Bild einer Generation zu fixieren und zu stabilisieren sucht, die Väter eigentlich gar nicht mehr nötig hat. Gefragt sind sie nur insofern, als sie einen Beitrag für die „Sachleistung“, die „Lebenstüchtigkeit“ beim „Überleben“, auf die es allein ankommt, leisten können; die Väter sollen hier nur Lieferanten unter vielen – oder ‚unter ferner liefen‘ – sein.
Wie schon beim Umgang mit den toten Vätern, für den in der Nachkriegszeit lange die Sprache fehlt, so ist es offenbar auch mühselig, für den Umgang mit den gebrochenen oder verhärteten Vätern eine Sprache zu finden. Auf die Möglichkeit, heikle Themen mittels einer Distanzierung oder einer Verschiebung in ein scheinbar fremdes Terrain zu behandeln, bin ich schon am Beispiel von Autoren wie Sartre und Camus, in anderer Weise auch gerade am Beispiel Schelskys gestoßen. Nun erfolgt eine fast noch unheimlichere Verschiebung, indem nämlich Peter Weiss’ „Abschied von den Eltern“ 1961 zum Vorbild der Vaterkritik avanciert. Dabei handelt dieses Buch von einem Riss, der sich durch eine jüdische Familie zieht, die sich vor den Nazis in die Schweiz und schließlich nach Schweden rettet. Die Daheimgebliebenen, die mit sich selbst oder ihren Vätern haderten, konnten sich gleichwohl in Sätzen wiederfinden wie dem folgenden: „Was war dies für eine Krankheit, die uns so trübte, die uns mit solchem Misstrauen, solcher Scheu angefüllt hatte, dass wir einander nicht mehr in die Augen blicken konnten.“
Erst mit Bernward Vespers „Die Reise“ kommt der Umgang mit den Nazi-Vätern ungeschützt, unverhohlen in der Literatur zur Sprache. Der Ton, der in diesem 1977, sechs Jahre nach Vespers Selbstmord erschienenen Buch angeschlagen wird, könnte schriller kaum sein. Vesper beschreibt eine Kindheit, die ganz unter dem Gesetz des Vaters, des Nazi-Dichters Will Vesper stand; er erschien dem Sohn im „kinderbett nicht nur als der mann überhaupt (…), sondern als der magier, der gott, der mit unsichtbaren kräften kommunizierte“. Doch die Bewunderung verkriecht sich, als der Vater Schläge, Schweigen und Hohn über den Sohn ausschüttet. Im Rückblick erhebt dieser Sohn den Vorwurf gegen den Vater, dass er „unsere kindheit zerstört, unser gehirn verwüstet, unseren charakter geschwächt, unsere vernunft und kritik erstickt, und zu diesem zweck die heiligen gefühle, die kinder von geburt an an die eltern binden, missbraucht hat“. Hier wiederholt sich, was Franz Kafka im „Brief an den Vater“ als Fremdheit zwischen „Deiner Hand“ und „mein(em) Material“ bezeichnet hat. Die Reaktion auf diese Fremdheit setzt bei Vesper und vielen anderen zwei Diskurse frei, deren gemeinsamer Grundzug ist, das Generationenspiel, das zum Erliegen gekommen ist, gedanklich auszubooten oder auszuschließen: die Diskurse der Äußerlichkeit und der Innerlichkeit.
Im Diskurs der Äußerlichkeit wird das private Leben zur Marginalie in einer ideologischen Auseinandersetzung, in der Vater und Sohn jeweils aufhören, Vater und Sohn zu sein. Die „geschichte“ des Vaters „verliert sich in der geschichte seiner epoche“, der Vater wird „lakai“ und „agent“ eines Systems, das es zu bekämpfen gilt; in Vespers Fall sind dies der Imperialismus der USA und insgesamt der Irrweg „der Welt“ schlechthin, der es „die ganze Geschichte in die Fresse zu schleudern“ gilt. Entsprechend tun viele Achtundsechziger so, als hätte ihr ganzer Auftritt nichts mit einer Auseinandersetzung mit den Vätern zu tun, sondern mit politischer Programmatik. Daneben tritt der Diskurs der Innerlichkeit, in dem die sich selbst überlassene, verlassene Subjektivität ihre Wunden leckt: „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“, so lautet die Zeile von Novalis, die Vesper begierig aufgreift und auf die er sich seinen eigenen Reim macht: „Ich interessiere mich ausschließlich für mich“, notiert er. Stärker noch als die Wut ist das Gefühl der eigenen Versehrtheit. Der Blick in den Spiegel fällt auf jemanden, der ihm zuwider ist, den die Welt schon „zur Sau gemacht“ hat. Die nach 1968 aufgekommenen politischen Sekten verwandeln sich in den 1970er Jahren seltsam nahtlos in quasi-religiöse Sekten und Selbsterfahrungsgruppen. Nur mit seinem Selbst Erfahrungen zu machen, ist freilich ein seltsam trostloses Unternehmen. In den Diskursen der Äußerlichkeit (Helmut Lethen würde sagen: der Sachlichkeit) und der Innerlichkeit steht eine offensiv betriebene, affirmativ gefasste Versachlichung der Seelen neben – wenn man so sagen darf – einer ‚Verseelung des Sachlichen‘.
Vespers verzweifelter Versuch, für sich den Vater abzuschaffen, lässt die Beziehung zu seinem Sohn, der den kontrafaktischen Namen „Felix“ trägt, nicht unbeeinträchtigt; wie ihm die Rückschau auf die „Vorfahren“ zuwider ist, so fällt es ihm nach dem von Burke erkannten Zusammenhang schwer, „auf die Nachkommen zu blicken“: „ich kann ihm nichts ‚familienartiges’ geben, keine Wärme, die er doch so braucht“. Das schlechte Gewissen bekämpft Vesper mit einer rhetorischen Frage, die er aus dem Abfall politischer Parolen zusammenbastelt: „Ist es nicht meine Pflicht, die ‚subjektiven Bindungen’ an ein Kind abzulegen, um uns der Veränderung eines Systems zuzuwenden, das uns zu solchen Wandlungen zwingt?“
Das Verschwinden der Väter im Beruf
In dem Buch „Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft“, das Alexander Mitscherlich 1963 veröffentlicht, finden die Vaterlosigkeiten, die bislang verhandelt worden sind, fast keine Erwähnung. Wie ein roter Faden zieht sich durch die bislang versammelten Befunde die Einsicht, dass in der Nachkriegszeit jeweils jene Texte besondere Anziehungskraft entfalteten, die es erlaubten, die besonderen Umstände der realen und symbolischen Vaterlosigkeit in verschobener Weise zu thematisieren. Dies gilt in besonderer Weise für Mitscherlichs Buch, in dem der Befund der Vaterlosigkeit von den realen Umständen der Nachkriegszeit abgerückt und zu einem übergreifenden Verhängnis erklärt oder verklärt wird. „Es ist“, so schreibt Mitscherlich, „an ein Erlöschen des Vaterbildes zu denken, das im Wesen unserer Zivilisation selbst begründet ist, und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt.“ Bei Mitscherlich erscheint die Situation in Deutschland nach 1945 als Episode einer Entwicklung von welthistorischem Ausmaß.
Sein Ausgangspunkt ist die Zerstörung patriarchalischer „Großstrukturen“: die Zerstörung einer Welt, die vom Familienvater bis hinauf zum „Landesherrn“ und zum „Monarchen“ einheitlich organisiert war. Im Sturz des Patriarchats sieht Mitscherlich zuallererst den Beginn einer politischen Erfolgsgeschichte, in der es darum geht, falsche Autoritäten zu entmachten und die gesellschaftliche Ordnung neu zu gestalten. Doch das ist nach Mitscherlich nur die halbe Wahrheit, also vielleicht gar keine. Der Umsturz der patriarchalen „Großstrukturen“ hat zwar die politische Emanzipation auf den Weg gebracht, doch im Privaten wird eine Form von Vaterlosigkeit eingeführt, die nach Mitscherlich gar nicht „heilen“ kann. Den Niedergang des Vaters führt er auf die Veränderung seiner wirtschaftlichen Stellung zurück – eine Veränderung, die in „zwei Stufen“ erfolgt. Zuerst wird seine „Arbeitswelt von der Welt des familiären Lebens weggerissen“, womit er seine Rolle innerhalb der Familie einbüßt. Sodann wird diese Arbeitswelt so inhaltsleer, so abstrakt, dass davon nichts Nennenswertes, Nachahmenswertes mehr dem Kinde zu vermitteln ist. Damit ist nach Mitscherlich der klassischen Rolle, der alten Identität des Vaters der Boden entzogen, denn diese sieht er in der „Unterweisung“ in die „Bewältigungspraxis des Lebens“. Der Vater taucht „häufig nur noch als ein Schreckgespenst in der Welt des Kindes auf“ oder wird zu einer Witzfigur, die man nicht mehr ernst nimmt.
Mitscherlich reiht sich hier – ohne dies in seinem Buch freilich kenntlich zu machen – ein in eine lange Reihe von Autoren, die befinden, dass die Trennung von Arbeitswelt und Privatsphäre, Beruf und Familie zu einer Marginalisierung der Väter geführt habe. Schon im 19. Jahrhundert hört man aus konservativen ebenso wie aus progressiven Kreisen die Warnung, dass die berufliche Vereinnahmung der Väter zu einer Beschädigung des Generationenverhältnisses führen könne. Max Horkheimer bemerkt dann in einem erstmals 1949 veröffentlichten Aufsatz über „Autorität und Familie in der Gegenwart“: „Die Macht des Vaters über die verwandten und nichtverwandten Mitglieder seines Hauses, seiner Werkstatt oder seines Landes hatte stets darauf beruht, dass unmittelbare Abhängigkeit für den Lebensprozess der Gesellschaft notwendig war. Mit der Auflösung dieses wesentlichen Faktors schwand der Respekt der Familienmitglieder vor dem Oberhaupt des Hauses, ihre Anhänglichkeit an die Familie als ganze und ihre Treue zu deren Symbolen.“ Für Horkheimer ist dies gleichfalls Symptom einer Krise: „Gefühle, Einstellungen und Überzeugungen, die in der Familie wurzeln, machen den Zusammenhalt unseres kulturellen Systems aus. Sie sind ein Element des sozialen Kitts. Es erscheint unerbittlich notwendig, dass die Gesellschaft sie am Leben erhält, denn es handelt sich hier für die Zivilisation in ihrer jetzigen Form um eine Frage von Leben und Tod.“
Einige Jahre nach Horkheimer wird übrigens auch Friedrich Tenbruck, der doch aus einem ganz anderen politischen Lager kommt, die „Generationenfrage zu einer Lebensfrage der Gesellschaft“ erklären. Horkheimer zufolge ergibt sich die Krise, auf die er letztlich auch den nationalsozialistischen Exzess der Autorität zurückführt, daraus, dass es in modernen Gesellschaften eine Koexistenz von zwei inkompatiblen Lebensmodellen gegeben hat. Die Individualisierung, die die Väter wie auch die anderen Familienangehörigen durchlaufen, ist aus seiner Sicht inkompatibel mit dem Modell, das für das private Leben zuständig ist: dem Modell der bürgerlichen, weiterhin patriarchalen Familie. Sie ist, wie er sagt, ein „Widerspruch des individualistischen Prinzips“. Die vermeintliche Komplementarität zwischen dem individuellen Überlebenskampf in der kapitalistischen Welt einerseits, der hierarchisch geordneten Familie andererseits erscheint ihm als dysfunktional.
Im Anschluss an Horkheimer kann man nun Mitscherlichs Argumentation historisch einordnen und kritisch beleuchten. Es stellt sich heraus, dass Mitscherlich, indem er vor die Trennung von Beruf und Familie zurückgeht, faktisch einen vorbürgerlichen Zustand auszeichnet. Wohl hat es in vorbürgerlichen Zeiten Familien gegeben, in denen Kinder, angeleitet durch die Väter, schon früh als Arbeitskräfte in den Überlebenskampf der Familie einbezogen wurden. Doch dass in jener Zeit der Vater in liebevoller, geduldiger Unterweisung den Kindern (gar den Töchtern!) den Weg ins Leben geebnet hätte, kann man beim besten Willen nicht behaupten. Mitscherlich argumentiert hier nostalgisch. Wie es sich für einen echten Nostalgiker gehört, beruft er sich auf eine Vergangenheit, die es in dieser Form nicht gegeben hat. Seine Beschreibung der positiven Vaterrolle, die sich durch sachliche und gefühlsmäßige Intensität auszeichnet, ist nicht denkbar ohne die Bildungstheorie des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts, die doch gerade an jener Individualisierung partizipiert, die Mitscherlich für den Verfall der Vaterrolle verantwortlich macht.
Gemäß dieser Einordnung bricht Mitscherlichs geschichtsphilosophische Dynamik, wonach die Gesellschaft „auf dem Weg“ in die Vaterlosigkeit sein soll, in sich zusammen: Da es die väterliche Gesellschaft, die er skizziert, in dieser Form nie gegeben hat, kann sie auch nicht verschwinden oder verloren gehen. Dieser Schmerz ist ein Phantomschmerz. Kollabiert ist eine Vaterfigur, die – anders als Mitscherlich dies vorsah – mit Befehls- und Besitzrechten ausgestattet war. Das Vaterbild, dem er selbst anhängt, gehört nicht der Vergangenheit, sondern allenfalls der Zukunft an. Horkheimer gibt zu diesem Vaterbild übrigens einige – allerdings unzulängliche – Hinweise, wenn er etwa von den „positiven, beschützenden Funktionen der Familie“ oder der ihr innewohnenden „eigenen Form der Autorität“ spricht.
Man kann Mitscherlich immerhin zugute halten, dass hinter seiner großen Erzählung eine polemische oder didaktische Absicht stand. Vielleicht sollte sein düsteres Bild dazu dienen, die Zeitgenossen aufzurütteln. So falsch seine These über die Entwicklung des Vaterbildes war, so richtig war kurioserweise seine Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Tatsächlich hat die Arbeitsgesellschaft, in die sich Deutschland nach dem Krieg angesichts der enormen Aufgabe des Wiederaufbaus verwandelt hat, massenhaft den Exodus der Väter aus der Familie nach sich gezogen. Die in der Arbeit aufgehenden Väter entfernten sich so weit von ihren Kindern, dass diese sich oft kein Bild mehr von ihnen machen konnten. Dass das Aufgehen der Väter im Beruf ihren Status in der Familie – und damit diese selbst – einer enormen Belastungsprobe aussetzt, ist schon vor Mitscherlich konstatiert worden. Mit der Minimalisierung ihrer physischen Präsenz wird ihre symbolische Bedeutung freigesetzt und mangels Realitätsprüfung auch oft verzerrt. Wenn man mit dieser Situation umgehen will, dann ist es allerdings bedenklich, sich mit Mitscherlich in einem historischen Kontext zu verorten, der ganz schief ist.
Die Verwandlung der Väter in Jugendliche
Wenn Rio Reiser sich denn einer Sache sicher war, dann derer, dass er nicht werden wollte, was sein Vater ist. In seinem „Ton Steine Scherben“-Lied von 1971 heißt es:
„Wir sehn uns nur manchmal und dann reden wir nicht viel, doch wenn wir reden, sagt er: „Junge, aus dir wird mal nicht viel. Alles, was du anfängst, hörst du gleich wieder auf. Du kannst doch nie ‘ne Familie ernähren, und du kriegst auch keine Braut. Du musst arbeiten, du musst schuften so wie ich!“ Aber ich will nicht werden, was mein Alter ist. Nee!“
Bitterkeit spricht aus diesem Lied – zumal wenn man es von Rio Reiser gesungen, geschrien hört. Die radikalste Antwort auf die Frage, wie man wird, wenn man nicht „der Alte“ werden will, lautet dann, dass man überhaupt kein „Alter“ werden will. Im Repertoire sind die Optionen, nicht solch ein Vater zu werden – oder eben gar kein Vater. Die Studenten stürzen sich nicht nur in eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vätern. Sie beginnen vielmehr prompt 1967 eine Debatte um die Frage, wie denn die eigene – dem Anspruch nach andere und neue – Eltern- und Vaterschaft aussehen soll. Bestimmt wird diese Debatte zunächst von Müttern, die ihren revolutionären Männern nicht als Hausfrauen dienen wollen. Doch schnell kreist die Debatte um die generelle Frage, welches Selbstbild die Studenten überhaupt als Väter oder Mütter entwickeln sollen. Die Abwehrreflexe überwiegen. Zum einen heißt es, dass man sich selbst den eigenen Kindern gar nicht zumuten dürfe, weil man von den eigenen Eltern und überhaupt vom Kapitalismus zu „reprimierten, autoritätsfixierten, unfreien Typen“ erzogen worden sei. Zum anderen heißt es, dass man sich der Elternrolle gar nicht fügen könne, weil mit ihr ein durch und durch verspießertes Leben einhergehe: „Eine langweilige Person sein heißt, eine Familien-Person sein“ – „Wir brauchen keine Mütter und Väter mehr.“ – „Das Zeitalter der Verwandten ist vorbei.“ So oder so wird die Abkoppelung vom Kind, die Unterbrechung der Übermittlung als Dienst am Kind gedeutet, das man davor bewahrt, einer Autorität ausgesetzt zu sein, mit der es „zugerichtet“ oder „dressiert“ wird. Die Infragestellung der Autorität der Eltern mündet in eine Infragestellung der eigenen Person, für die man Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, aber nicht mehr Autorität reklamieren will – wobei zu fragen ist, wie eine positive Selbstbeschreibung ohne irgendeine Form von Selbst-Autorisierung, also auch von Autorität, überhaupt durchführbar sein soll.
Wenn sich die Achtundsechziger als Eltern durchstreichen, folgen sie der Sache nach der Devise der Jugendbewegung, wonach sich Väter und Mütter in „Kameraden und Freunde“ verwandeln sollten. Diese Vorstellung ist seitdem immer populärer geworden – bis hin zu der Vorstellung, man wolle der beste Freund seines Kindes sein. Auch wenn dieser Wunsch gut gemeint sein mag, so ist er doch schlecht gedacht: Faktisch wird damit die Abschaffung des Generationenspiels und deren Ersetzung durch ein Verhältnis zwischen Gleichen, also durch eine generalisierte peer group betrieben. Die Brüderschaft der Französischen Revolution kehrt in neuem Gewand zurück – in einem Gewand, das freilich den Glanz der Errungenschaften der Solidarität und der politischen Selbstbestimmung weitgehend verloren hat. Diese peer group kommt dem Wunsch entgegen, dem vermeintlich unausweichlichen Schicksal der Verspießerung durch Elternschaft zu entkommen. Man verharrt in einem Zustand, der vor dem Erwachsenwerden liegt. Man wird zu einem jener „neuen Mutanten“, die es nach Leslie A. Fiedler darauf anlegen, sich „die Freuden der Kindheit“ zu gönnen, „den letzten Sprung in der Evolution zu wagen und das Erwachsensein völlig abzustreifen“. Die Annäherung oder Anbiederung an die Jugend gipfelt dann im Ideal ewiger Jugend oder in der Rolle des Berufsjugendlichen, des „perpetual adolescent“.
Die Verwandlung der Väter in Individuen
Ich bin bereits darauf eingegangen, dass Mitscherlich eine Aushöhlung des Vaterbildes beschreibt, die wesentlich durch die Professionalisierung der Väter, durch deren Auszug in die Berufssphäre bedingt ist. Mit der Demontage des Vaterbildes durch die Berufsjugendlichen wird nun jenem – mit Freud gesprochen – eher vom Realitätsprinzip bestimmten Bild ein eher vom Lustprinzip bestimmtes Bild zur Seite gestellt. Man kann feststellen, dass die in den letzten beiden Abschnitten beschriebenen Vaterlosigkeiten auf eine weitere Form der Vaterlosigkeit verweisen, die in gewisser Weise vom Realitäts- und Lustprinzip gleichermaßen zu zehren sucht.
Der Einsatzpunkt zu dieser Lesart ist der Befund, dass der Schauplatz der Selbstfindung und Selbstbewährung in modernen Gesellschaften in der Sphäre der Wirtschaft liegt. In der letzten Konsequenz bedeutet dies nicht – wie bei Mitscherlich – die Schwächung der Väter, sondern deren vollständige Demontage oder deren Verschwinden. Dieser Befund, der sich auch auf das Deutschland nach 1945 beziehen lässt, wurde erstmals systematisch vorgetragen in den bevölkerungspolitischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts, die besonders in Deutschland und Frankreich grassierten. Besonders pointiert kommt er dann zum Ausdruck in Joseph Alois Schumpeters Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie von 1942. Diskutiert wird darin nicht nur die vom Kapitalismus betriebene „schöpferische Zerstörung“, sondern auch die nicht-schöpferische „Zersetzung“ der Familie. Schumpeter schreibt: „Die Auflösung der bürgerlichen Familie (…) kann vollständig aus der Rationalisierung des gesamten Lebens hergeleitet werden, die (…) eine der Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung ist. (…) Sobald Männer und Frauen die utilitaristische Lektion gelernt haben (…), sobald sie die Gewohnheit annehmen, die individuellen Vor- und Nachteile jeder voraussichtlichen Folge von Handlungen abzuwägen (…), sobald sie in ihrem Privatleben eine Art unausgesprochener Kostenrechnung einführen, müssen ihnen unvermeidlich die schweren persönlichen Opfer, welche Familienbindungen und namentlich Elternschaft unter modernen Bedingungen mit sich bringen, (…) bewusst werden (…). Jene Opfer bestehen nicht nur aus den Posten, die in den Messbereich des Geldes kommen, sondern bedeuten überdies einen unmessbaren Verlust an Behaglichkeit, an Sorgenfreiheit und an Möglichkeiten, andere Dinge von zunehmender Anziehungskraft und Mannigfaltigkeit zu genießen (…). Was ich sagen will, ist, denke ich, ohne weitere Darlegungen klar. Es kann in der Frage zusammengefasst werden, die so deutlich in den Köpfen mancher potentieller Eltern steht: ‚Warum sollten wir unsere Wünsche stutzen und unser Leben arm machen, um in unserem Alter beleidigt und verachtet zu werden?‘“
Schumpeter verbindet seine These zur Auflösung der Familie mit der Beobachtung, dass der Kapitalismus aus sich heraus nicht in der Lage sei, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Er meint, dass sich „die kapitalistische Ordnung (…) auf Pfeiler“ stütze, „die aus außerkapitalistischem Material bestehen“, zuvörderst eben aus dem Material von Familien. Aus diesen „Pfeilern“ bezieht der Kapitalismus nach Schumpeter einen Gutteil seiner „Energie“, die er dann allerdings dazu einsetzt, um sie zu „zerstören“. Dieser Vorgang ist ein Sägen am eigenen Ast, also, was die Familie betrifft, alles andere als eine Spielart „schöpferischer Zerstörung“. Demnach geht die Moderne in ihrer enormen Dynamik sorglos mit der sozialen Ordnung um, auf die sie angewiesen ist. Formal nimmt diese These Schumpeters – was seltsamerweise weitgehend unbemerkt geblieben ist – die These Ernst-Wolfgang Böckenfördes vorweg, wonach die Demokratie oder „der freiheitliche, säkularisierte Staat (…) von Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann“.
Diese Diskrepanz zwischen Wirtschafts- und Familienwelt erschwert, altmodisch gesprochen, die Familiengründung, denn diese geht nicht nur mit materiellen Aufwendungen einher, sondern versetzt die Menschen in eine emotionale Zwickmühle, in der sie zwischen unvereinbaren Zielen (Flexibilität versus Kontinuität etc.) hin und her schwanken. Die Szenarien, die von diesem Befund ihren Ausgang nehmen, liegen auf der Hand. Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, dass Frauen und mehr noch Männer jene Zwickmühle fürchten und sich auf ein in sich einstimmiges (oder auch eindimensionales) Leben beschränken, also kinderlos bleiben. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, jene Zwickmühle in eine kostbare Quelle der Bereicherung und Vertiefung des Lebens umzudeuten. Der Spruch, man wolle auf vielen Hochzeiten tanzen, ist in diesem Zusammenhang vielleicht unangebracht, aber jedenfalls will man, folgt man der zweiten Option, auf vielen Bühnen spielen oder in vielen verschiedenen Schubladen stecken.
Lieber mit dem Vater in der Hölle als alleine im Himmel
Ich möchte mit einer kleinen Geschichte schließen, die der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad in seinem wunderbaren Buch „Brief an einen Schatten“ erzählt. Als Héctor ein kleiner Junge war, befahl ihm eine Nonne, jeden Abend zu beten. Warnend fügte sie hinzu, wenn er dies nicht täte, würde er wie sein Vater, der nicht zur Messe gehe, dereinst in die Hölle kommen. Héctor sah sich also gezwungen, zwischen seinem Vater und dem lieben Gott zu entscheiden. Er beschloss daraufhin kurzerhand, das Beten einzustellen: „Nein, ich will nicht in den Himmel kommen. Ein Himmel ohne meinen Vater gefällt mir nicht. Ich will lieber mit ihm in die Hölle gehen.“ Nicht nur auf das Wohin kommt es also an, sondern auch auf das Mit wem. Ein Himmel, von dem man einsam herunterblickt, um einen geliebten Menschen unten schmoren zu sehen, gleicht einer Hölle. Umgekehrt reißt in der Hölle, wenn man nur in guter Gesellschaft ist, vielleicht der Himmel auf. Héctor Abad stellte sich diese gute Gesellschaft als das Zusammensein mit seinem Vater vor.
Dieses Zusammensein fand 1987 ein abruptes Ende, als Héctor Abads Vater von paramilitärischen Banden erschossen wurde. In der Tasche seines toten Vaters fand der Sohn, der kurz nach dem Mord an den Ort des Verbrechens gelangte, ein Blatt Papier, auf dem ein Sonett von Jorge Luis Borges notiert war. „Wir sind schon das Vergessen, das wir werden“ – so lautet die erste Zeile dieses Gedichtes. Borges erzählt darin vom Triumph des Todes, von der Unerbittlichkeit des Verfalls, aber auch von dem „Trost“, den er in der „Hoffnung“ auf einen Menschen findet, welcher „nicht mehr weiß, dass ich auf Erden war“. Es ist eine ungeheure Botschaft, die aus der Tasche des Toten gezogen wird: Nicht nur arrangiert sich hier jemand zähneknirschend, zähneklappernd mit dem Vergessen, sondern er findet Trost in der Vorstellung, dass ein anderer unüberschattet von schmerzlichen Erinnerungen sein Leben führen mag. Man könnte sagen, dass Abad, der Sohn, Protest gegen dieses Vergessen einlegt, das ihm der Vater mit Borges‘ Gedicht nahelegt. Zugleich könnte man sagen, dass der von Borges zum Ausdruck gebrachte Wunsch – dass jemand sein eigenes Leben unbeeinträchtigt von den Schatten der Vergangenheit führen möge – in besonderer Weise ein Wunsch ist, den Eltern für ihre Kinder haben.
Walter Benjamin hat einmal bemerkt, dass wir uns am Vergangenen, an das wir uns erinnern, wärmen können wie an einem Feuer. Ein solches Feuer entfacht Abad, er erzählt eine Geschichte vom Spiel zwischen den Generationen, das unter widrigen Bedingungen gelingt. Nebenbei fällt damit für andere Kinder, andere Väter die Botschaft ab, dass dieses Spiel unter weniger unwirtlichen Bedingungen hier und da, jetzt und gleich, auch haufenweise glücken könnte.
Prof. Dr. Dieter Thomä lehrt Philosophie an der Universität St. Gallen und ist Verfasser des Buches „Väter. Eine moderne Heldengeschichte“.
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