18 Jun fK 1/11 Schäfer
„Frühkindliche Bildungsprozesse sind offene Prozesse, die sich der Planung im landläufigen Sinn entziehen“
Prof. Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. Gerd E. Schäfer, Hochschullehrer im Bereich „Frühe Kindheit und Familie“ an der Universität zu Köln
Maywald: In Zusammenhang mit dem internationalen Wettstreit um die beste Bildung sieht sich die Frühpädagogik einem wachsenden Druck ausgesetzt, Elemente schulischen Lernens zu übernehmen. Sind solche Forderungen berechtigt?
Schäfer: Frühkindliche Bildungsprozesse erweisen sich als hoch komplex und vielfältig bedingt, wenn man mit einbezieht, was wir über die kulturelle Evolution wissen, über neurobiologische Prozesse, über die Bedeutung des sprachlichen Denkens – was mehr ist als eine Rekapitulation einzelner sprachlicher Entwicklungsschritte –, über Kommunikation in mimischen und gestischen Formen jenseits der Sprache, über die Bedeutung von sinnlicher Wahrnehmung oder von Gefühlen für den Erfahrungsprozess, und last but not least, den Einfluss, den soziale Beziehungen auf das Lernen nehmen. Diese Komplexität in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, bereitet Schwierigkeiten, insbesondere auch deshalb, weil die gängigen schulischen Lernmodelle dafür nicht hinreichen. Frühkindliche Bildungsprozesse stellen uns daher vor Fragen, die ein traditionelles schulisches Lernverständnis so nicht stellt. Die Schwierigkeiten bestehen aber auch darin, dass wir für das Verständnis frühkindlicher Lern- und Bildungsprozesse ein Stück weit unser vertraut gewordenes Erwachsenendenken aufgeben müssen, um die Qualität von Erfahrungen in uns zu rekonstruieren, die gemacht wurden, bevor wir erwachsen denken konnten. Diese Schwierigkeiten werden nicht verschwinden, auch wenn ich mich bemühe, mich möglichst alltagssprachlich auszudrücken. Es bedarf auch einer gewissen Ausführlichkeit, damit meine Begriffe und Erläuterungen nicht im Sinne traditioneller Begriffsschemata missverstanden werden.
Es verwundert nicht, dass das schulische Lernverständnis dominiert, denn es ist ja das Lernverständnis, das jeder in unserer Gesellschaft mitbekommen hat. Es sitzt gewissermaßen jedem in den Knochen. Man muss sich davon befreien, es für „natürlich“ zu halten. Es erscheint nur als natürlich, weil wir es in der Regel durch zwei Jahrzehnte Erfahrung verinnerlicht und es dadurch gewissermaßen zur zweiten Natur gemacht haben.
Der erste Schritt zu einem anderen Verständnis von Bildung in den frühen Lebensjahren besteht daher darin, dieses implizite Bildungsverständnis in Frage zu stellen. Das aber erscheint schwierig angesichts des wachsenden Drucks, der durch den internationalen Wettstreit Politik und Öffentlichkeit Angst macht, es könnten bestimmte Bildungsziele – bei einem wesentlichen Teil der Kinder wenigstens – nicht erreicht werden. Dieser Druck führt dazu, ein vermeintlich sicheres Verständnis vom Aufbau systematischer Lernprozesse, das man durch die eigene Schulerfahrung stillschweigend übernommen hat, auf den Bereich anzuwenden, um den man sich politisch, gesellschaftlich und wissenschaftlich mindestens zwei Jahrzehnte nicht gekümmert hat. Dieser Druck ist wenig geeignet, sich auf Prozesse einzulassen, die offen sind und von denen man daher anzunehmen geneigt ist – und im Zweifel auch annimmt – sie könnten den Erfolg nicht garantieren. Frühkindliche Bildungsprozesse sind aber offene Prozesse, die von vielerlei komplexen Einflussfaktoren abhängen und sich der Planung im landläufigen Sinn entziehen.
Der zweite Schritt wäre, empirischen Aussagen zu Folgen von Lern- oder Fördermaßnahmen nicht blindlings Glauben zu schenken. Es gibt auch international kein ausgearbeitetes wissenschaftliches Konzept frühkindlichen Lernens, allenfalls eine Reihe von mehr oder weniger begründeten Annahmen vor unterschiedlichen theoretischen Hintergründen. Von daher ist man sich lediglich innerhalb bestimmter wissenschaftlicher Fraktionen über Qualitätskriterien des Lernens einig. Eine übergreifende Diskussion gibt es bislang nicht. Von daher sind die Kriterien, die solchen Untersuchungen zugrunde liegen, wissenschaftlich leicht angreifbar. Natürlich ist es besser, Kriterien zu haben, anstelle gar keiner. Aber gleichzeitig müssen wir diese Kriterien eher vorläufig und prinzipiell revisionsbedürftig betrachten. Das sind keine guten Voraussetzungen für einen soliden empirischen Unterbau, auf den Öffentlichkeit und Politik sich unhinterfragt stützen könnten. So stürzen sich beide blind auf Einzelergebnisse, ohne deren Reichweite abschätzen zu können.
Der dritte Schritt wäre, an das anzuknüpfen, was Babyforscher als „intuitive Elternschaft“ bezeichnen, ein offensichtlich tief verankertes Wissen, passend auf die zwischenmenschlichen und sachlichen Anforderungen einzugehen, die die jüngsten Kinder benötigen, um ihre ersten Schritte in die Welt zu machen. Eigentlich weiß jeder, der sich intensiv mit Säuglingen und Kleinkindern beschäftigt, dass sie nicht nach unseren Vorstellungen und Plänen wachsen und gedeihen, sondern einer intensiven, von Vertrauen und Zutrauen getragenen Wechselseitigkeit bedürfen, um die Schritte zu machen, die sie machen können und wollen. Jedes Sprechen- und Laufenlernen ist ein ständiges Wechselspiel von Bemühungen des Kindes, dem Glücksgefühl der Eltern und der daraus folgenden Bereitschaft, das Kind bei diesen Schritten zu unterstützen. Wenn man das als Grundfigur pädagogischer Interaktionen in der frühen Kindheit betrachtet, dann wäre schon viel für die Weiterentwicklung einer Lernkultur für die frühe Kindheit gewonnen. Ich behaupte nicht, dass diese Aufgabe allein mit dieser „Intuition“ fachlich zu bewältigen wäre, sondern lediglich, dass sich daraus ein Ausgangsmodell entwickeln lässt, welches Lernen anders begreift als das traditionelle Schulmodell.
Der vierte Schritt wäre, zu erkennen und gelten zu lassen, dass an manchen Stellen eine solche andere Kultur des Lernens bereits verwirklicht wird. Es gibt zum Beispiel Einrichtungen, die sich an der Reggiopädagogik orientieren, oder – im Sinne der „offenen Arbeit“ oder in Anlehnung an Freinet – die Krippe und Kita als Lernwerkstätten begreifen. Ihre Ergebnisse sind vielfach dokumentiert und nachvollziehbar. Auf Ergebnisse von Vergleichsstudien, die den Kriterien dieses Lernverständnisses gerecht werden und nicht nur die Maßstäbe traditionellen Lernens auf solche Einrichtungen übertragen, wird man allerdings noch warten müssen. Als Haupteinwand wird gegen diese Praxis vorgetragen, dass sie keinen zielgenauen Lernerfolg garantieren könne. Dabei wird übersehen, dass sie – wenn sie wirklich gut arbeiten – oft einen Überschuss an Lernerfolgen erzeugen, in dem dann viele der geforderten Ziele oft einfach nebenher erreicht werden. Nach einer gerne gepflegten, jedoch wissenschaftlich nicht hinterfragten Meinung, müssen Bildungsprozesse zielgenau planbar sein. Was aber rechtfertigt die Annahme, dass die Bildungsprozesse von Kindern genauer planbar sein müssten, als das Ergebnis eines Fußballspiels?
Maywald: Die Erkenntnis, dass Bildung spätestens mit der Geburt beginnt, ist heute fast zum Allgemeingut geworden. Welches sind die besonderen Charakteristika von Bildung in den ersten Lebensjahren?
Schäfer: Aus meiner Perspektive unterscheiden sich frühkindliche Bildungsprozesse tatsächlich deutlich von traditionell-schulischen und zwar umso mehr, je jünger die Kinder sind.
Zunächst fällt auf, dass junge Kinder von einer ungeheuren Neugier auf die Welt angetrieben werden. Entlang ihren wachsenden sinnlichen und körperlichen Fähigkeiten suchen sie ständig heraus zu bekommen, was sie mit den Dingen machen können, die ihnen begegnen. Jeder, der mit jungen Kindern zu tun hat, kann das täglich nachvollziehen. Dinge haben eine Bedeutung, wenn man weiß, was man mit ihnen machen kann. Eine Bedeutung ergibt sich aus dem Handlungszusammenhang, in dem die Dinge auftreten.
Das weist auf das das zweite wesentliche Merkmal frühkindlicher Bildungsprozesse hin: die jüngsten Kinder lernen zunächst nicht durch die Übernahme des Wissens anderer, sondern in erster Linie durch die eigenen Erfahrungen, die sie normalerweise im Alltag machen, also eingebettet in Handlungszusammenhänge, deren Ergebnisse zur Grundlage eines Könnens und Wissens werden, das man wieder verwenden kann, wenn die nächste, vergleichbare Situation auftaucht. Dieses Erfahrungskönnen und -wissen ist zunächst implizit; das heißt, Kinder wissen nicht, dass sie es haben, können aber das, was sie einmal erfahren haben, sofort einsetzen, wenn sich die nächste Situation auftut, in der es verwendet werden kann.
Junge Kinder brauchen also in erster Linie Möglichkeiten, vielfältige Erfahrungen zu machen und zu sammeln. Darauf aufbauend benötigen sie Unterstützung, dass sie auch wissen, was sie erfahren haben. Ins Bewusstsein treten Erfahrungen, wenn man – in einem weiten Sinn – darüber nach-denkt. Das kann in Wörtern und Sätzen geschehen, aber auch durch Spielen und Gestalten. Im Nach-Denken treten die Ereignisse vor ein „inneres Auge“, sie werden im wahrsten Sinn des Wortes re-flektiert. Es sind die Erwachsenen, die den Kindern die Materialien, Werkzeuge und Worte zur Verfügung stellen, die sie dafür benötigen. Daraus entstehen, wie in der Reggiopädagogik gesagt wird, die hundert Sprachen der Kinder. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass Kinder sich „in ihrem Kopf“ Gedanken machen können, die ihre Erfahrungen nicht nur wiedergeben, sondern die sie auch virtuell verändern, kombinieren oder neu erfinden. Erfahrungen müssen einen Weg ins Bewusstsein finden, ins Bewusstsein treten, damit das Bewusstsein flexibel mit ihnen umgehen kann. Frühkindliche Bildung hat etwas mit dem Prozess zu tun, wie Erfahrungen ins Bewusstsein gelangen, ein Problem, das die Schulpädagogik nicht kennt.
Viertens gehen frühkindliche Bildungsprozesse von Erfahrungen aus, über die nachgedacht und die geklärt und schließlich auch im Kopf verändert werden können. Traditionelle schulische Lernprozesse verlaufen in der Regel umgekehrt. Es gibt ein bereits geklärtes Wissen, das weiter gegeben werden kann. Die Schule müsste sich demnach die Frage stellen, wie dieses neue, übernommene Wissen mit den bereits vorhandenen Erfahrungen verknüpft werden kann. In gewisser Weise scheinen die jeweiligen Lernprozesse gegensätzlich zu sein.
Doch, fünftens, sind Wissen und Erfahrung keine Alternativen, sondern Aspekte eines Geschehens, das zusammen gehört: Wissen ohne Erfahrung ist „leer“ und bleibt beliebig. Erfahrungen ohne Wissen sind stumm und können nicht auf Stimmigkeit und Brauchbarkeit überprüft werden. Außerdem können sie so nicht weiter gegeben werden. Wissen macht Erfahrung verständlich und mitteilbar, Erfahrung macht Wissen handhabbar. Es geht also um die jeweiligen Proportionen von Erfahrung und Wissen und da versteht es sich, dass – je jünger Kinder sind – der Aspekt der Erfahrung überwiegt. Je älter Kinder werden, desto mehr kann man annehmen, dass notwendige Erfahrungen, die das Verständnis erschließen, bereits vorhanden sind. Die Lernprozesse verschieben also ihre Schwerpunkte entlang einer biographischen Zeitschiene.
Maywald: Wie sollte „ganzheitliche Bildung“ gestaltet sein?
Schäfer: Wenn der Begriff ganzheitlich einen Sinn machen soll, dann muss man klären, was damit gemeint sein soll. Ich schlage ein neues Verständnis von „Ganzheitlichkeit“ vor: Im Gegensatz zu Wissen, das man beliebig aus dem Zusammenhang herausnehmen und isoliert reflektieren kann, bilden Erfahrungen einen Zusammenhang. In ihnen sind Wahrnehmungen, Handlungen, emotionale Einstellungen, soziale Beziehungen, zeitliche und örtliche Besonderheiten in einem „Bild“ oder einer „Szene“ vereint. Handlungen sind also in den Kontext einer bestimmten Situation und der individuellen Erfahrungs- und Erlebnisweisen eingebettet.
Doch bilden sie nicht nur einen Zusammenhang im Augenblick, sondern in den allermeisten Fällen auch mit vergangenen, vergleichbaren Erfahrungen. Einerseits sind Erfahrungen daher an bestimmte Situationen gebunden, andererseits variieren im wiederholten Fall die Situationen und damit auch die Erfahrungsmuster. Aus dem Gesamt der Situationen kann man daher einmal einen Kern herauslösen, der alle diese Erfahrungen verbindet. Erfahrungen bilden typische Muster. Zum anderen kann dieser Kern durch Variationen immer wieder an neue Situationen assimiliert und in Teilbereichen verändert erscheinen. Wie in der Musik, bilden Erfahrungen Muster mit Variationen.
Bildung ganzheitlich gestalten heißt dann, Bildungsprozesse in ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang aufzuspüren, zu belassen oder – gegebenenfalls – wieder dort einzubetten. Das Gegenteil davon wären Lernveranstaltungen – Musik, Naturwissenschaft oder Bewegung usw. – im Stundentakt.
Maywald: Was kann die Schule von einem derartigen frühkindlichen Bildungsverständnis lernen?
Schäfer: Die Bedeutung des Erfahrungslernens gilt auch für die Schule. Überall da, wo Kinder neue Bereiche sachlicher oder sozialer Wirklichkeiten erleben, müssen sie Erfahrungen sammeln, wie man damit umgeht und was diese Erfahrungen im Lebenszusammenhang bedeuten. Schule ist also auch ein Ort für Erfahrungslernen. Das bedeutet aber auch, dass die Schule in Bereichen, in denen sie nicht auf selbstverständlichen Erfahrungen der Kinder aufbauen kann, Wege eröffnen muss, die notwendigen Erfahrungen neu zu machen. Da man einerseits nicht in allen Bereichen Erfahrungen machen kann und andererseits in vielen Bereichen bereits Erfahrungen vorliegen, muss Schule ein besonderes Augenmerk darauf legen, das neue Wissen mit dem vorhandenen Vorrat an Erfahrungen zu verknüpfen. Dabei geht es nicht nur um Anwendung des neu erworbenen Wissens, sondern um die Frage, welchen „Sinn“ dieses neue Wissen für das individuelle Kind macht, also um eine Einbettung in die Sinnzusammenhänge, die für ein Kind bedeutsam sind und die mit seinen individuellen Lebenserfahrungen eng verknüpft sind. Die traditionelle Schule läuft ständig Gefahr, den Sinn, den Erwachsene einer Sache zuschreiben, auch für den Sinn zu halten, den Kinder damit verbinden. Sie ist relativ ungeübt darin, diesen individuellen Sinn der Kinder zu erfassen und in ihre Arbeit mit einzubeziehen, also Wissen vor dem individuellen Erfahrungshintergrund von Kindern zu begreifen.
Der dritte Punkt betrifft einen Wandel des Lernverständnisses. In der frühen Kindheit wird es deutlich, dass Lehren und Lernen nicht in erster Linie darin besteht, dass etwas – Kompetenzen beispielsweise – vermittelt werden, sondern dass Lernen bedeutet, jemanden in die Lage zu versetzen, das Können und Wissen zu erzeugen, das er für sein Leben benötigt und für sinnvoll findet. Es dürfte einen radikalen Wandel im Selbstverständnis von Schule bedeuten, Schule als einen Ort zu begreifen, in dem alle Kinder die Möglichkeiten finden, das Können und Wissen tatsächlich zu erzeugen, das sie für ihr Leben in unserer Kultur gebrauchen können. Das bedeutet nämlich, dass das Lernen nicht zum Problem des Kindes gemacht wird, das mehr oder weniger erfolgreich lernt, sondern zum Problem der Institution, die sich die Frage stellen muss, was sie tatsächlich an Materialien, Werkzeugen und Unterstützungen bereit gestellt hat, um die ihr anvertrauten Kinder – in ihrer individuellen, sozialen und kulturellen Differenz – tatsächlich in die Lage zu versetzen, dieses Können und Wissen für sich zu erzeugen.
Maywald: Offensichtlich ist Bildung in der frühen Kindheit mehr als die Summe einzelner Kompetenzen. Worin besteht dieses „Mehr“?
Schäfer: Die Aufgabe frühkindlicher Bildung besteht darin, dass junge Kinder sich ein flexibles geistiges Instrument der Welt- und Selbsterschließung schaffen. Dafür bedienen sie sich der kulturellen Modelle, die in ihrem Umfeld verwirklicht werden. Kinder lernen, wie man in unserer Kultur denkt, dadurch dass sie stillschweigend die Haltungen nachvollziehen, die sie in ihrem Umfeld vorfinden.
Indem Kinder etwas über Dinge lernen, lernen sie also gleichzeitig etwas über Haltungen, Einstellungen und Umgangsweisen, die in einer Kultur und Gesellschaft mit diesen Dingen verbunden werden, also etwas über die impliziten Annahmen einer Kultur, wie man die Dinge erkennt. In diesem Sinne lernen junge Kinder nicht nur die Welt kennen, sondern lernen auch die Erkenntnistheorien zu verwirklichen, die „man“ in einer soziokulturellen Gemeinschaft für den Umgang mit der Sach- und Sozialwelt zugrunde legt.
Wenn man beispielsweise heute über Naturwissenschaft in der frühen Kindheit diskutiert, so meint man zumeist gewisse Inhalte und Verfahren, die man bereits jungen Kindern nahebringen will. Dabei setzt man aber eine bestimmte Vorstellung von wissenschaftlichem Denken voraus, die man Laborwissenschaft nennen könnte und macht diese zum „Maßstab“ „naturwissenschaftlicher Bildung“ auch in der frühen Kindheit. Heraus kommen dann Kinderlabors und Kinderversuche bereits für Krippenkinder. Die Vorstellungen einer solchen Laborwissenschaft wurden jedoch erst in den letzten 250 Jahren unserer kulturellen Entwicklung gewonnen. Es wird nicht hinterfragt, ob sie, die sicherlich die neuesten Entwicklungen in den Naturwissenschaften dominiert, die Vorstellung ist, wie junge Kinder Natur am besten erfahren. Es wird auch nicht gefragt, welche Voraussetzungen notwendig waren, dass Naturwissenschaften als Laborwissenschaften im Verlauf dieser Geschichte entstehen konnten. Noch weniger wird gefragt, welche Voraussetzungen junge Kinder benötigen, damit sie mit dieser Vorstellung von Natur in Petrischalen, Reagenzgläsern und Mikroskopen etwas anfangen können. Das Problem besteht also darin, dass man ein bestimmtes Denk- und Arbeitsverfahren in den Naturwissenschaften zum Vorbild erhebt, an dem sich Kinder vom Beginn ihres Lebens an zu orientieren haben. Andere Erkenntnisverfahren, die wir tagtäglich nutzen – wie zum Beispiel Erfahrungen, die in Alltagszusammenhängen gemacht werden und die wir benötigen, um mit der sozialen und kulturellen Welt um uns herum überhaupt umgehen zu können – werden dabei ignoriert. Die Erkenntnistheorie einer bestimmten Art von Naturwissenschaft – aber eben auch nur einer bestimmten Art – wird stillschweigend und unhinterfragt zum Modell des Erkennens genommen, das sich junge Kinder aneignen sollten, damit sie tüchtige Mitglieder einer technologisch und ökonomisch orientierten Gesellschaft werden. Frühkindliche Bildung ist deshalb weitaus mehr als ein „Erwerb bestimmter Kompetenzen“. Sie ist darüber hinaus eine Einführung in implizite und explizite Weisen, wie „man“ – im Einklang mit bestimmten, gesellschaftlich leitenden Meinungen – mit verschiedenen Wirklichkeiten in einer Kultur umgeht, mit denen der Natur, der Kultur und ihrer grundlegenden Werte, mit den sozialen Wirklichkeiten, mit den eigenen Wirklichkeiten des Subjekts – Identität und Selbst-Verständnis –, mit der Arbeit und mit dem Spiel. Die frühe Kindheit ist in erster Linie eine Hinführung in die Weisen „wie man es macht“ und nur in zweiter Linie eine Einführung in bestimmtes Können und Wissen, das prinzipiell zu jedem Zeitpunkt eines Lebenslaufs gewonnen werden könnte. Mit den ersten „Kompetenzen“, die Kinder im Umgang mit Wirklichkeiten gewinnen, entwickeln sie die grundlegenden Fähigkeiten, wie „man“ sie gewinnt. Während die Erkenntnisse sich im Verlauf eines Lebens verändern und verändern müssen, bleiben die so gewonnenen Haltungen in der Regel stabil, zumindest so lange sie nicht bewusst in Frage gestellt werden.
Das bedeutete auch, man kann sich an keine „klaren“ Vorgaben einer Entwicklungspsychologie halten, die uns sagt, wie Kinder lernen und die wir frühkindlichen Bildungsprozessen als Orientierung zugrunde legen könnten. Entwicklungspsychologie kann uns bislang nur sagen, wie Kinder in einem bestimmten soziokulturellen Rahmen lernen, weil sie die Wahl einer anderen Kultur nicht haben. Eine Entwicklungspsychologie, die ihre Eingebundenheit in soziale und kulturelle Traditionen nicht reflektiert, die sich wie eine Naturwissenschaft im traditionellen Sinn begreift – wie das gegenwärtig der Trend ist –, läuft Gefahr, einfach in den Dienst unhinterfragter sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Praktiken gestellt zu werden.
Maywald: Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen und die pädagogischen Angebote auf jedes einzelne Kind auszurichten, verlangt von Erzieherinnen und Erziehern ein hohes Maß an Beobachtungsfähigkeit. Was heißt gezieltes Beobachten und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für frühpädagogische Aus- und Fortbildungen?
Schäfer: Man kann die Sprachfähigkeit eines Kindes „gezielt“ nach bestimmten Kriterien „beobachten“, ohne dieses Kind überhaupt zu kennen. Der Begriff des „gezielten Beobachtens“ enthält bereits eine Vorentscheidung: Man kann gezielt nur beobachten, wenn man einen klaren Maßstab hat, an dem man die Beobachtung misst. Im Vordergrund „gezielten Beobachtens“ steht daher ein diagnostisches Interesse, herauszubekommen, was – in der Regel ein bestimmtes Kind – in einem bestimmten Bereich kann oder nicht kann. Dieses Beobachten interessiert sich nicht für das Kind und die Zusammenhänge, die es mit seiner Umwelt herstellt. Es kann an manchen Stellen sinnvoll sein, macht aber nicht die Bedeutung des Beobachtens für den pädagogischen Alltag klar. Dort muss man Kinder „beobachten“, um sie kennen zu lernen, um die Bedeutungen zu erfahren, die sie ihren Interessen und Tätigkeiten beilegen. Mit dem Begriff des gezielten Beobachtens wird von vorne herein die fachliche Bedeutung von „Beobachtung“ stillschweigend zugunsten eines „diagnostischen“ Beobachtens verschoben.
Gezieltes Beobachten entdeckt die Einzigartigkeit eines Kindes nur in seiner Abweichung von vorgegebenen Standards. Das schafft im pädagogischen Alltag mehr Probleme als es löst. Es verfestigt – trotz gegenteiliger Behauptungen – die Probleme individell-biographischer, sozialer und kultureller Differenz. Indem das „gezielte“ Beobachten den Vergleich mit den allgemeinen Erwartungen in den Vordergrund stellt, zentriert es sich auf die Abweichungen und produziert Gruppen von Kindern, von denen die einen mehr, die anderen weniger können. Es werden Unterscheidungen gemacht und festgeschrieben, die dann anschließend in entsprechenden Fördermaßnahmen wieder ausgeglichen werden sollen. Diese Vorgehen ist zumindest unzureichend und widersprüchlich, ich würde sogar sagen kontraproduktiv, wenn es um die Chancengerechtigkeit für alle Kinder geht. Um die Individualität der Kinder wenigstens in den Blick zu bekommen – und das scheint mir die wichtigste Voraussetzung für Chancengerechtigkeit – benötigt man eine Weise der Beobachtung, die ich „wahrnehmendes Beobachten“ nenne, wobei ich die Gründe für die Verdoppelung in diesem Begriff in der gebotenen Kürze hier nicht erläutern kann. Bei dieser Art der Beobachtung halte ich mich als Fachperson offen für Wahrnehmungen, die ich nicht erwartet habe, die vielleicht auch nicht sofort begreifbar sind, Beobachtungen, die mir einen Ansatz dafür geben, zu bemerken, was speziell dieses Kind oder diese Kindergruppe an Handlungsweisen, Ideen und Möglichkeiten in eine gegebene Situation einbringt; Beobachtungen, die mich zum Nachdenken bringen, mit dem Ziel, etwas von dem spezifischen Verständnis zu erfassen, welches Kinder mit einer gegebenen Situation verbinden.
Ein Lernverständnis, das sich nur für Standards interessiert und dafür, auf welche Weise Kinder diese Standards erbringen, braucht sich eigentlich nicht dafür zu interessieren, was in Kindern vorgeht, wenn sie sich mit einem Gegenstand beschäftigen. Es muss auch die individuelle Varianz nur als Abweichung erfassen, die man möglichst beseitigen sollte. Der Gedanke, dass in solchen „Abweichungen“ auch produktive Möglichkeiten liegen, ist ihm fremd. Ein Verständnis von Lernen als einem individuellen Erzeugen, wie es eben skizziert wurde, muss sich allerdings für das interessieren, was Kinder individuell und in Gruppen tun, um ein bestimmtes Können und Wissen hervor zu bringen. Fachliche Hilfe als Unterstützung dieses Erzeugens vor gegebenen sozialen und kulturellen Hintergründen ist auf eine breite, Verständnis suchende Kommunikation mit Kindern angewiesen.
Wahrnehmendes Beobachten ist also eher eine Form der nicht sprachlichen Kommunikation und Verständigung mit Kindern, um herauszubekommen, was ihnen Dinge, Vorgänge, Ereignisse bedeuten, mit dem Ziel, ihnen – auf diesem Verständnis aufbauend – fachliche Hilfen anzubieten, ihre Fragestellungen und Problemlöseversuche sinnvoll weiter zu treiben. Dazu sind wahrnehmendes Beobachten und darauf aufbauende Dokumentationen ein alltägliches Handwerkszeug, um den Lernprozess als einen Prozess des erfolgreichen Erzeugens von Können und Wissen durch die Kinder voranzubringen. Sie sind aber auch ein fachlich-methodisches Instrument, um etwas über individuelle Kinder zu lernen, wie sie Dinge und Situation angehen oder sie interpretieren.
Das gezielte Beobachten ist also ein eher diagnostisches Spezialwerkzeug, das man in vielen Fällen auch Spezialisten überlassen kann. Es erbringt wenig für den pädagogischen Alltag. Das wahrnehmende Beobachten hingegen ist ein Verfahren, tagtäglich Kinder in ihrer individuellen, sozialen und kulturellen Differenz zu erfassen, als individuelle Kinder, mit dem Ziel, ihre individuellen Ausgangsvoraussetzungen und Möglichkeiten für ihre Lernprozesse fruchtbar zu machen.
Dieses wahrnehmende Beobachten lernt man nur am Fall. Ausbildung müsste Gelegenheit geben, in einem engen Zusammenhang mit Praxis und aus Fallstudien diese Form des Beobachtens zu lernen. Es ist ein Beobachten, das dem Verstehen dient, bevor man fachlich handelt. Fachliches Handeln, das solchen Verständigungsversuchen entspringt, ist ein anderes Handeln, als eines, das sich lediglich an Kompetenz-Zielen, die zu erreichen sind, orientiert. Insofern enthalten beide Formen des Beobachtens ein unterschiedliches Bildungsverständnis von jungen Kindern. Chancengerechtigkeit ist nach meiner Überzeugung nur auf dem zweiten Weg zu erreichen.
Maywald: Das kindliche Spiel wird in vielerlei Hinsicht für Zwecke des Lernens instrumentalisiert, man denke nur an den Begriff des „pädagogisch wertvollen“ Spielzeugs. Kinder spielen aber nicht, um zu lernen. Welches Verhältnis besteht Ihrer Auffassung nach zwischen Spielen und Lernen?
Schäfer: Ozhan, fünf Jahre alt, sagt: „Erfinden ist wie spielen. Lernen ist nicht wie spielen“. Er sagt nicht: „Wir machen alles, wie die Erwachsenen, nur spielerisch.“
Kinder haben offensichtlich eine andere Auffassung vom Spiel als viele Erwachsenen. Für diese gilt es immer noch als eine unernste Form des Umgangs mit Wirklichkeit, die zwar Spaß macht und damit den Kindern zugestanden wird, der aber keine große Bedeutung für den kindlichen Bildungsprozess zukommt. Diese Auffassung steht in einem großen Gegensatz zu der Tatsache, dass Spiel in der gesamten Welt höherer Säugetiere die Form des Lernens heranwachsender Artgenossen ist, die sie gebrauchen, um sich den spezifischen Bedingungen ihrer gegebenen Umwelten und den Notwendigkeiten des Überlebens anzupassen. Sie steht auch im Gegensatz zu der Auffassung, dass der gesamte Prozess der Evolution eher einem Spielprozess gleicht, in dem immer neue Möglichkeitsformen durch einen Prozess der Selektion so ausgewählt werden, dass alle Variationen überleben können, die einen bestimmten Rahmen an Bedingungen erfüllen. Vielfalt ist die Grundlage dieses evolutionären Spielprozesses. Sie steht auch im Gegensatz zu einer langen Tradition von Untersuchungen der kulturellen Bedeutung des Spiels, die bis in die Antike reichen und in deren Verlauf unter anderem Schiller, Huizinga oder Nietzsche das Spiel als eine wichtige Grundlage kulturellen Erlebens und kultureller Entwicklung begründet haben.
Es ist die Vorstellung eines bewussten, systematischen Lernaufbaus, für die vor allem ein schulisches Lernen steht, welche das Spiel gerne in belanglose Spielerei verwandelt und allenfalls als Trojanisches Pferd für Lernaufgaben zulässt, die ansonsten „bitter“ erscheinen. Es wäre einer Untersuchung wert, wie es gelingen konnte, das Spiel kulturell so sehr abzuwerten, dass es pädagogisch anscheinend nur noch dann einen Sinn macht, wenn man nachweist, was dabei alles gelernt wird. Und so gibt es eine Reihe von Untersuchungen über die Bereiche, die alle im Spiel gelernt werden. Was dabei herauskommt, ist eher trivial. Es gibt so gut wie keine menschlichen Funktionen, die nicht im Spiel „gefördert“ werden könnten.
Spiel ist eine eigene Form des Lernens, die offensichtlich keinem systematischen Lernaufbau folgt, die viele Freiheitsgrade lässt und – zum Leidwesen vieler Pädagoginnen und Pädagogen – sich keinen Lern- und Kompetenzzielen beugt. Es ist aber eine zentrale Lernform des Erfahrungslernens, wie bereits das Spiel der Tiere zeigt: Sie gehen aus von einem Können, das sie immer wieder spielend variieren und dadurch erweitern und differenzieren. Das machen Kinder genauso, im Spiel variieren sie ein vorhandenes Repertoire an Können und Wissen. Sie „üben“ dabei nicht nur, was sie bereits können – das auch. Vielmehr gehen sie oft bis an den Rand ihres Könnens und versuchen einen Schritt darüber hinaus. Man kann das an ihren Körperspielen beobachten, zum Beispiel an vielen öffentlichen Plätzen, an denen Skater sich ihrem „Spiel“ hingeben. Sie wiederholen immer und immer wieder ihre Figuren, feilen sie aus und wenn sie gelingen, suchen sie den nächsten Tick in einem neuen Schwierigkeitsgrad. Der geht gerade so viel über das bisherige Können hinaus, dass er mit der Variation und Verbesserung der bisherigen Mittel erreichbar erscheint. Das bisherige Können spielt also eine große Rolle. Ohne das gäbe es den nächsten Schritt nicht. Aber auch in Rollenspielen probieren Kinder aus, was sie an Beziehungsmustern erfahren haben, setzen sie neu zusammen – erfinden neue Väter und Mütter mit neuen Eigenschaften – und phantasieren sich aus, was dabei herauskommen könnte. Spiel scheint eine Möglichkeit zu sein, bisher vorhandenes Können so weit zu variieren, zu differenzieren und zu erweitern, dass man dabei darüber hinaus zu neuen Erfahrungsdimensionen kommt. Interessanterweise enthält ein solches Spiel oft lange Übungsphasen, die nicht nur in Kauf genommen werden, sondern geradezu einen Ansporn erzeugen, sein Können zu perfektionieren. Das Verhältnis kehrt sich also um, das Lernen und das Üben stehen im Dienst des Spiels und nicht – wie das pädagogisch immer wieder unterstellt wird – das Spiel im Dienst des Lernens und des Übens.
Spiel ist nicht nur eine eigene Form des Lernens, sondern gelingt nur bei einem Maximum von Kompetenz auf einem gegebenen Level. Ein guter Fußballspieler ist ein Spieler, der mehr kann, als Standardsituationen gut ausführen. Ein Könner ist er erst dann, wenn er sein ganzes körperliches, geistiges und soziales Geschick in möglichst vielen Spielzügen, die nie voraussehbar sind, situativ abwandeln und einsetzen kann. Er muss sein fußballerisches Können also spontan auf die tatsächlich gegebenen Umstände kreativ anpassen können, dass sie zu erfolgreichen, den Gegner überraschenden Spielzügen werden. Ein guter Kopfballspieler bewährt sich in allen Situationen bis an den Rand des Unmöglichen. Um also ein guter Spieler zu sein, muss man über sein ganzes Handlungsrepertoire so verfügen, dass es spielerisch geworden ist. Ein Spieler in seinem Bereich ist jemand, der etwas besonders gut kann, so gut, dass es ihm scheinbar mühelos gelingt.
Auf die ersten Lebensjahre bezogen: Spielend und explorierend entwickeln Kinder im ersten Lebensjahr ihre körperlichen Fähigkeiten, spielend lernen sie krabbeln oder laufen. Spielend treten sie in die Welt der Sprache ein. Das gelingt zumeist deshalb so problemlos, weil Eltern mit-spielen. In der frühen Kindheit ist Spiel eine wichtige Form des Lernens, in dem vorhandene Erfahrungen an virtuellen und freiwillig gewählten Aufgabenstellungen über den Rand des bisherigen Standes hinaus entwickelt werden. Es schließt die bisher erreichte maximale Kompetenz nicht nur ein, sondern arbeitet über sie hinaus.
Doch es hat in den ersten Lebensjahren noch eine zusätzliche Bedeutung: Das, was aus Handlungserfahrungen an Können und implizitem Wissen hervorgeht, wird im Spiel aus den Alltagszusammenhängen herausgelöst und als virtuelle Szenen von dieser Wirklichkeit unabhängig gemacht. Spielen trägt dazu bei, dass aus Handlungen „innere Gedanken“ werden, die im Spiel dann wieder konkretisiert und praktisch ausgetestet werden. Spiel ist also Grundlage eines „inneren Denkens“ und damit auch ein Vorläufer des Denkens mit der Sprache. Indem es Handlungen aus dem Wirklichkeitsfeld herauslöst, in Vorstellungen verwandelt, die „manipuliert“ werden können, trägt es zur Entstehung des Bewusstseins und seiner Denkmöglichkeiten bei, die dann – im nächsten Schritt – durch die Sprache nochmals entscheidend erweitert werden.
Maywald: Wenn Eltern Sie fragen, wie sie ihr ein- oder zweijähriges Kind am besten fördern können, was würden Sie ihnen antworten?
Schäfer: Bieten Sie ihm ein Umfeld, in dem es seine Neugier befriedigen und eigenständig handelnd seine Erfahrungen vorantreiben kann – drinnen in der Wohnung und draußen, wo immer es möglich ist. Seien Sie in möglichst vielen dieser Erfahrungssituationen mit dabei oder in der Nähe, um mitzubekommen, was Ihr Kind gerade erlebt, denkt oder gestaltet. Nehmen Sie mit Interesse seine Tätigkeiten wahr. Gestalten Sie die Situationen so, dass das Kind mit seinen Möglichkeiten teilnehmen kann. Kommen Sie mit dem Kind in einen mimisch-gestischen und sprachlichen Dialog – je nachdem, wie alt es ist – und geben Sie ihm nach Möglichkeit ehrliche und möglichst wertschätzende Rückmeldung. Freuen Sie sich über seine Fortschritte. Stören Sie sein Spiel nicht. Bieten Sie ihm angemessene Materialien und Werkzeuge, die es selbständig benutzen kann. Schaffen Sie ihm eine Gestaltungsecke, wo es aus Materialien, die nichts kosten müssen, seine Vorstellungen von seinen Wirklichkeitserfahrungen gestalten und dadurch sich bewusst machen kann. Lassen Sie ihm die Zeit, die es braucht, um sich mit den Dingen seines Interesses auseinanderzusetzen. Nehmen Sie seine Interessen auch ernst, wenn Sie sie nicht verstehen und – vor allem – versuchen Sie nicht, sie durch Ihre Interessen zu ersetzen. Pflegen Sie seine Neugier. Sie müssen nicht auf alles eine Antwort wissen, aber Sie können mit eigener Neugier dabei sein, wenn es Rätsel zu lösen gibt. Lassen Sie die Kinder, wo immer es sich machen lässt, mit dabei sein, zeigen Sie ihnen Dinge, die sie interessant finden könnten und lassen Sie ihnen Zeit, sich mit neuen Bereichen sozialer, kultureller oder sachlicher Wirklichkeiten vertraut zu machen. Seien Sie aber nicht enttäuscht, wenn sich die Kinder nicht für alles interessieren, was Sie ihnen anbieten. Machen Sie den Kindern keine Stundenpläne. Beschämen Sie sie nicht. Aber vertreten Sie die Werte, die Ihnen wichtig sind, ohne zu verlangen, dass die Kinder ihnen sofort gehorsam folgen. Machen Sie ihnen verständlich, warum Ihnen etwas wichtig ist. Das Wichtigste: schalten Sie Ihr Mitgefühl niemals ab.
Alles, was man wissen kann, kann man gegebenenfalls später lernen, aber ein Interesse an dem zu finden, was Natur, Kultur und mitmenschlicher Austausch bieten können, dafür werden die Bahnen früh gelegt, die Enttäuschung an der Welt kann sehr früh beginnen und durchzieht dann möglicherweise das ganze Leben. Die Freude aber auch. Weltverständnis beginnt in der Partnerschaft mit vertrauten Erwachsenen und kann nicht stundenweise in Sprachunterricht, Musikstunden oder naturkundliche Experimente delegiert werden. Von solchen Dingen können Kinder erst Nutzen ziehen, wenn sie ein grundsätzliches Vertrauen in die Welt gewonnen haben und sicher sind, dass es Menschen gibt, die sie dorthin begleiten. Ein kleines Alltagsbeispiel, wie Eltern den Bildungsprozess ihrer Kinder unterstützen: Ich sitze im Zug, als ein junge Mutter mit ihrer schätzungsweise noch nicht eineinhalbjährigen Tochter auf dem Gang vorbeikommt. Das Mädchen läuft langsam voran, die Mutter hinter ihm, beide hoch gestreckten Hände des Kindes in der Hand führend, damit es in dem Geschaukel des Waggons nicht hinfällt. Langsam läuft das Mädchen von Sitzreihe zu Sitzreihe, bleibt immer wieder stehen, orientiert sich, erfasst etwas – es ist schwer zu erkennen was – und wackelt nach einigen Augenblicken wieder weiter, die Mama als sichernde „Leine“ im Schlepptau. Diese lässt dem Kinde „seine Zeit“, folgt ihm geduldig ohne eigene Ziele, abwartend, wo es hängen bleibt. An einem Sitz geht es zunächst vorbei, stutzt, dreht sich um und blickt zurück auf einen in seinem Sitz schlafenden Mann. Sie beobachtet ihn genau, bis sie nach einer Weile intensiver Betrachtung ausruft: „Heia … heia!“ Sie wiederholt das immer wieder und blickt aufgeregt auf den schlafenden Mann. „Heia!“ Die Mama nimmt das Wort auf und gibt es ihr zurück: „Heia“. Es entsteht ein Wechselgespräch zwischen Mama und Kind, in dem die Mama immer wieder das „Heia“ des Kindes wiederholt und ihm zurück gibt. Zwischendurch dann einmal ihr Kommentar: „Ja, der Mann schläft.“ Dann geht es weiter durch den Gang und wieder zurück an den eigenen Sitzplatz. Wenig später wiederholt sich die ganze Episode nochmals, in der gleichen Intensität und Ausführlichkeit und in der gleichen geduldigen Resonanz der Mutter auf das Interesse des Kindes.
Was heißt hier Bildungsprozess? Das junge Mädchen erkundet den Zugwaggon, für ein Kind im zweiten Lebensjahr sicherlich eine nicht alltägliche, wahrscheinlich sogar völlig neue Welterfahrung. Die Mutter folgt und unterstützt es dadurch, dass sie ihm beim Laufen Sicherheit gibt. Sie folgt ganz dem Rhythmus des Kindes, treibt nichts voran und schützt allenfalls vor Dingen, die gefährlich werden könnten. Mit Aufmerksamkeit folgt sie dem, was ihre Tochter erkundet. Durch Worte und durch die Geste des An-der-Hand-haltens steht sie in einem ruhigen, Sicherheit ausstrahlenden Kontakt zu ihrem Kind. Schließlich „unterhält“ sie sich mit ihrer Tochter über das, was diese so spannend fand: den schlafenden Mann in seinem Sitz. Sie spricht mit ihr über dieses Erlebnis, bestätigt durch ihr Verhalten und durch ihre Resonanz, dass sie die Wahrnehmung ihrer Tochter für sehr wichtig hält – auch wenn sie dazu nur das eine Wort „Heia“ benutzt. Schließlich nimmt sie die Gelegenheit wahr, einen Satz einzustreuen, nur einen einzigen, der dieses Interesse aufnimmt und weiterführt: „Ja, der Mann schläft.“
Maywald: Worauf sollten Eltern bei der Entscheidung für eine Krippe oder eine Kindertagespflegestelle in punkto Bildung achten?
Schäfer: Sie sollten nicht nur fragen, sondern vor allem ihren Eindrücken folgen. Ein paar Hinweise dazu: Sie sollten zur Überzeugung kommen, dass sie es mit fachlichen Personen zu tun haben, die ihnen einerseits das sichere Gefühl vermitteln, dass sie sich für ihr Kind interessieren und die andererseits selbst Interessen an wichtigen Bereichen unserer Kultur haben. Gute Einrichtungen haben Orte und Räume, wo Kinder selbst tätig werden können, Fachpersonal, das sich für bestimmte Arbeitsfelder zuständig fühlt – und zwar nicht in einem ständigen Wechsel –, einen Tagesablauf, der auf die Rhythmen der Kinder eingeht und keinesfalls einem Stundenplan gleicht. Solche Einrichtungen sind dadurch erkennbar, dass Kinder, allein und in Gruppen, sich intensiv ihren Tätigkeiten widmen, dass Erzieherinnen dabei eine wohltuende interessierte Distanz einnehmen und dennoch aufmerksam sind, um rechtzeitig Hilfestellungen zu geben, Erzieherinnen also, die Kinder nicht von einer Unternehmung in die nächste treiben. Das alles verbindet sich in der Regel zu einem Eindruck von Ruhe und Konzentriertheit, der sich beim Betreten solcher Einrichtungen einstellt. Sie fallen oftmals dadurch auf, dass der Geräuschpegel vergleichsweise niedrig ist, obwohl die Kinder sich frei und selbständig bewegen, also nicht durch Formen der Disziplin ruhig gestellt werden.
Maywald: Im Unterschied zur UN-Kinderrechtskonvention kennt das Grundgesetz bisher kein Recht auf Bildung, sondern lediglich die an ein Mindestalter geknüpfte Schulpflicht. Sollte Ihrer Meinung nach ein solches Recht des Kindes auf Bildung und bestmögliche Förderung in die Verfassung aufgenommen werden?
Schäfer: Dem kann ich nur zustimmen. Die Fixierung auf die Schulpflicht enthüllt das negative Menschenbild, das in der Formulierung des Grundgesetztes implizit enthalten ist. Wir benötigen eine positive Formulierung eines Rechts auf Bildung von Anfang an. Wir haben ein solches Recht bereits vor Jahren in unseren eigenen Arbeitszusammenhängen in einigen Fassetten formuliert, die sicher nicht den Ansprüchen des Grundgesetztes genügen, die aber deutlich machen können, worum es geht: Kinder haben (1) ein Recht auf Anerkennung ihrer Subjektivität; (2) ein Recht auf Unterstützung, sich eine reichhaltige kulturelle und natürliche Erfahrungswelt zu erschließen; (3) ein Recht auf die Entfaltung des Reichtums ihrer individuellen und kulturellen Erfahrungsmöglichkeiten; (4) ein Recht auf die soziale Unterstützung ihrer Sebstbildungsmöglichkeiten; (5) ein Recht auf Nachhaltigkeit ihrer Bildungsprozesse; (6) ein Recht auf Partizipation/Teilnahme von Anfang an.
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