fK 4/11 Klein

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Rund um die Einschulung: Dynamik und Dynamit

Eingewöhnung, Integration, Inklusion

Von Jochen Klein

In dem Kinderbuch „Der Ernst des Lebens“ entpuppt sich der angekündigte Ernst des Lebens als der neue Mitschüler Ernst. Im wahren Leben entpuppt sich der Eintritt in die Schule nicht selten als echter Einschnitt, in mancher später Erinnerung als der ernste Einschnitt im Kinder-Leben.

Vom Kind zum Schulkind: Der Ernst des Lebens verschlingt unglaubliche Energien
Mit Eintritt eines Kindes in die Schule sind heftige Änderungen verbunden: Alltägliche, neue Sozialkontakte und größere soziale Herausforderungen; die immer noch wachsende Körperlichkeit; Selbstfindung, Selbstbehauptung, was immer auch den Vergleich mit den anderen meint; eine Fülle neuer Verhaltensregeln verlangen Anpassungen, Beschränkungen des Bewegungsdrangs, des dringend etwas Mitteilen-Müssens; der Tagesablauf wird geordneter, ob ein Kind will oder nicht, der „geregelte“ Tag wird mitunter länger, der frei zu gestaltende, kreative Teil wird kürzer, abends wird pünktliches Ins-Bett-Gehen wichtig: „Damit Du morgen früh für die Schule gut ausgeschlafen bist“; kognitiv stehen die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen an. Nach der Schule ist vor der Schule, Hausaufgaben, die Fragen der Eltern „Wie war’s?“, „Lies das mal!“. Die Schule bestimmt das Leben des Kindes in vielen Bereichen.

Und wenn Eltern einfühlend oder auch uninteressiert NICHT fragen, fühlt ein Kind sich womöglich alleingelassen, gerät in Konflikte zwischen der Familien- und der Schulkultur. Die häufig noch Schonraum gebende Kindertagesstätte wird eingetauscht gegen eine Grundschule, die (staats-)pflichtgemäß einen unmittelbaren Bildungsauftrag hat und daneben noch den „heimlichen Lehrplan“ und der bei zu viel Einfühlsamkeit „Kuschelpädagogik“ vorgeworfen wird.

All dies verlangt körperliche, geistige und seelische Energien, die die Mehrzahl der Kinder an den Rand ihrer Kräfte bringt. Dass bis zu 20 Prozent der Kinder psychische Auffälligkeiten bis hin zu frühen burnout-Merkmalen bescheinigt werden, ist die fast schon akzeptierte Spitze des Eisbergs namens Ernst. Für einen großen Teil der Kinder und deren Eltern verläuft dieser Übergang dennoch reibungslos. Für einen zweiten Teil ist die Dauer der Schulpflicht tatsächlich eine mehr oder weniger belastete Zeit. Als besondere Situation muss diejenige der frühzeitig als behindert definierten Kinder und deren Eltern angesehen werden.

Eltern werden zu Eltern eines Schulkinds: Die eigene Vergangenheit und die Gegenwart der Zukunft
200 Jahre nach Einführung der Schulpflicht kommt mit einem Kind immer auch die Eltern- und Großeltern-Generation mit in die Schule. Die elterneigenen Erfahrungen, die mehr oder weniger guten Erinnerungen werden aktiviert, wenn das eigene Kind in die Schule kommt. Die erlittenen Kränkungen oder auch der erfolgreiche Schulbesuch, „das nette Fräulein“ der Grundschule, der aus dem Krieg heimgekehrte Herr Gymnasiallehrer (des Autors), das Auswendiglernen, das leicht oder schwer fiel, Latein, Kurvendiskussion: „Wofür braucht man das denn?“ Diese Vergangenheit begleitet Mutter und Vater, wenn sie sich auf die kleinen Stühle der Erstklässler zwängen. Und wenn ihr Kind zu Hause Neues berichtet, über Manches stöhnt, schimpft, vom gemütlichen Stuhlkreis erzählt.

Und in der Gegenwart der ersten Klasse winkt bei manchen Eltern schon die Zukunft: Schafft die Lehrerin denn so den Lehrplan (dabei schaffen doch die Kinder!)? Bei einigen Kindern mit „Helikopter-Eltern“ lassen frühzeitig G8, Studium und Karriere grüßen. Bei anderen mit so genannten „bildungsfernen“ Eltern wirkt deren so erlebte, ohnmächtige Gegenwart von einfachsten Arbeiten oder gar gleich: von Arbeitslosigkeit auf ihre Weise in die Zukunft.

Die nächsten Übergänge auf die weiter führenden Schulen, hinein in die eben besser oder schlechter bezahlte Arbeitswelt werfen bereits ihre Schatten voraus. Verständlicherweise, wenn man die Verlautbarungen von Arbeitsmarkt und Bildungspolitik ernst nimmt: Deutschland braucht mehr Abiturienten und Studenten – oder eben umgekehrt: Mit Abitur und Studium steigen die Chancen erheblich.

Kindergarten – Kindertagesstätte – Schule: Über viele Brücken muss man geh’n
Hatte der „Kindergarten“ in der Vor-PISA-Zeit tatsächlich häufig noch den Charakter von liebenswertem Schon-, Spiel-, Kreativ- und Erzähl-Raum, so übt PISA inzwischen einen Annäherungsdruck aus. Dieser hat zwei Tendenzen:

(1) Die Kindertagesstätte wird als Ort des Lernens aufgewertet und bekommt Bildungspläne, ihr potentieller Bildungswert wird erkannt, allerdings ohne dass ihr bisheriger enormer pädagogischer Wert wirklich anerkannt und damit als erhaltenswert eingeschätzt wäre. Immerhin: Der erste Schritt zu einer größeren gesellschaftlichen Anerkennung, zu verbinden mit verbesserter Ausbildung und Bezahlung, wird getan.

(2) Eine bessere Verbindung zur Grundschule, also die gemeinsam verantwortete Gestaltung des Übergangs steht unweigerlich an. Konnten früher Kita und Schule nacheinander (und im Hort auch noch Jahre nebeneinander) die gleichen Kinder betreuen, verlangen die Bildungspläne sowie die Ganztagsschule eine enge Kooperation: Das Übergangsthema für ein Kind und das Brückenthema für Kita und Schule sind ein- und dasselbe.

Jahrzehntelang gab es aufgrund je eigener Traditionen ein Nebeneinander von Kindertagesstätten und Schulen; dies gilt weniger bei kirchlicher Trägerschaft, aber sehr wohl für die staatlichen Schulen und die Tagesstätten in freier Trägerschaft. Es gab (gibt?) Lehrkräfte und Erzieher(innen), die noch nie über ihre gemeinsamen Kinder im Gespräch waren!

Berührungsängste auf Seiten vieler Erzieher(innen) sowie Abwertungen auf Seiten vieler Lehrkräfte werden nach und nach abgebaut. Zeitliche Ressourcen werden eingeplant, inhaltliche Absprachen werden getroffen; die Tatsache, dass in den letzten Jahren vielerorts Projekte in der Erprobung sind, bestätigt, dass hier noch erheblicher Nachholbedarf bezüglich der eigentlich selbstverständlichen Kooperation besteht. „Brückenjahr“ in Niedersachsen, ponte in Berlin/Brandenburg, die Ganztagsschul-Bewegung: Es tut sich viel!

Und plötzlich gibt es Anpassungs- und Lernprobleme: Früh erkannt – und nun?
Die Notwendigkeit einer guten Zusammenarbeit gilt unumstritten für alle Kinder, ist aber unabdingbar bei Kindern mit „Anpassungs- und Lernproblemen“ und deren Eltern. Ich meine hiermit Kinder, bei denen noch keine medizinische oder sonstige Diagnostik erstellt, noch kein Befund erhoben, noch keine Etikettierung vorgenommen ist, sondern bei denen die Fachkräfte in der Kindertagesstätte Beobachtungen gemacht und Einschätzungen gewonnen haben, die ihnen „Sorgen bereiten“: geringe Ausdauer, sensomotorische Unsicherheiten, artikulatorische Unsauberkeiten, geringer Wortschatz, sehr einfacher Satzbau, geringe mathematische Vorläuferfertigkeiten, emotionale Probleme, unpassendes Sozialverhalten.

Bei vielen dieser und anderer „Auffälligkeiten“ sind Erzieher(innen) neben den Kinderärzten die ersten Fachleute, die dies erkennen. Sie erleben die Kinder im alltäglichen Zusammenleben, haben Vergleiche, kennen sich mit normaler Kindesentwicklung aus und eben auch mit den Abweichungen hiervon. Und sie haben die Möglichkeit, Eltern aufmerksam zu machen, sie zu beraten und sie gegebenenfalls an medizinische Fachkräfte zu verweisen. Sie kooperieren häufig sehr gut mit Ergo- und Physiotherapeut(inn)en, mit Logopäd(inn)en, Beratungsstellen und haben dadurch ihre Kompetenzen für die Kita-Alltag erweitert. Sie ahnen auch für manche Kinder einen schwierigen Übergang in die Schule.

Dabei stoßen sie nicht selten auf zwei Grenzen: (1) Die eine Grenze sind Eltern, die sie mit ihren Sorgen nicht erreichen können. Mitunter sind zeitintensive Beratungsgespräche und -kompetenzen erforderlich (was beides leider auch nicht immer gegeben ist), um Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen; (2) Die andere Grenze ist der Übergang in die Schule: Mangels Absprachen, mangels Entwicklungsberichten, mangels Lesen vorhandener Berichte („Ich möchte gerne unbefangen eigene Eindrücke gewinnen“) geht das häufig schon präzise Wissen um Anpassungsprobleme eines einzelnen Kindes erst einmal wieder verloren.

Ein Kind mit Lernproblemen provoziert Be- und Erziehungsprobleme: System Familie
„Bitte keine (neuen) Sorgen, bitte keine (zusätzlichen) Belastungen in Form von Untersuchungen, Folgeterminen, Kosten! Bitte keinen Ärger, keine zusätzlichen Aufgaben für Zuhause, keine Erziehungs-Ratschläge, keine Förder-Vorschläge!“ So oder ähnlich klingen Reaktionen eines Teils von Eltern, denen die Experten für Kindes- und Lernentwicklung ihre besorgten Eindrücke von ihrem Kind dargestellt haben.

Deutlicher als an dieser Abwehr kann man nicht merken, dass ein Lernproblem eines Kindes fast immer ein Beziehungs- und ein Erziehungsproblem mit sich bringt: Der eingespielte Umgang zwischen Eltern und Kind, der mehr oder weniger gut austarierte Alltag, und nicht zuletzt das emotionale Verhältnis werden in Frage und auf die Probe gestellt. Leicht gerät das identifizierte Defizit in den Mittelpunkt, Üben statt Spielen, Aussprache Korrigieren statt blind zu verstehen, am Abend ‚Punkte vergeben‘ statt Vorlesen und spontaner Umgang. Zweifel, Verunsicherung, Sorgen statt Zutrauen. Noch ein Termin, der mit der Arbeit abzustimmen ist. Im ungünstigen Fall wird der Hinweis auf ein Problem als persönliche Kränkung empfunden, womöglich werden eigene Schulerfahrungen aktiviert, oder auch nur die mit dem älteren Geschwisterkind. Schuldgefühle klopfen an die Tür.

Nicht alle Erwachsenen sprechen ihren Dank dafür aus, dass frühzeitig eine eventuell schwierige Entwicklung erkannt wird, so dass tatsächlich präventiv einiges getan werden kann. Eltern, Großeltern, nicht zu vergessen: Geschwisterkinder („Guck mal, was ich schon kann!“), alle bringen ihre Ansichten ein, reden mit, und natürlicherweise sind dies eher widersprüchliche Meinungen, häufig gut gemeint, ebenso häufig mit Schuldzuweisungen: eben Dynamik und Dynamit.

Und wenn es schon Entwicklungsprobleme gab: Viele Experten sind dabei
Neben Kindern, die problemlos den Übergang und die weitere Schulzeit durchlaufen, und denen, die trotz vielleicht geringer Auffälligkeiten in der Kita dann erst mit dem Übergang in die Schule nicht klar kommen, gibt es die Gruppe der behinderten Kinder, gleich welcher Art von Behinderung. Sie sind in aller Regel schon früh vom Medizinsystem erkannt und in dessen Rahmen und/oder im Rahmen von Frühförderung, also im Sozialsystem, unterstützt worden. Für sie und noch stärker für ihre Eltern beginnt mit den ersten Aufnahme-Untersuchungen ins Schulsystem in aller Regel eine ganz neue Qualität von Verunsicherung. Kinderarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum, Kinder- und Jugendpsychiater werden ergänzt um Schularzt und Schulleitung oder deren Beauftragten: neue Experten, neue Fragestellungen und neue Befunde mit neuen Bewertungen.

Die bundesweit eingeführten Untersuchungen der Viereinhalbjährigen eröffnen für viele Kinder gute Möglichkeiten zur frühen Unterstützung, in der Regel leider beschränkt auf die Sprachförderung. Für behinderte Kinder steht dagegen die durchaus komplizierte Beurteilung an, welche der verschiedenen Sonderschulformen die besten Perspektiven für eine optimale individuelle Förderung eröffnet. Dieser Entscheidungsprozess ist nicht selten gekennzeichnet von einem Streit zwischen den Experten, mit Kompetenzgerangel, Platzmangel, Möglichkeiten der Ablehnung seitens der Sonderschule bis hin zum Finanzierungsdschungel. Gemeinsame Absprachen sind immer noch nicht selbstverständlich, die Möglichkeit von vermittelnden und die Akzeptanz erhöhenden ‚Runden Tischen‘ mit allen Beteiligten ist häufig noch Neuland.

Die Gefühlswelt für Mutter und Vater eines behinderten Kindes, die ihrerseits auch längst nicht in ihren Einschätzungen und Empfindungen übereinstimmen, wird heftig strapaziert. Neue Hoffnungen werden mit dem Thema Einschulung ebenso heraufbeschworen wie neue Diskriminierung erlebt wird. Waren medizinische Maßnahmen wie Ergo- oder Physiotherapie bzw. Logopädie in den Tagesablauf der Kita integriert, entfällt dies in den meisten Schulen, muss also privat organisiert werden.

Und bedeutet all dies schon für viele Eltern Verwirrung genug, stehen sie nun auch noch vor der Entscheidung, ob ihr Kind eine Sonderschule besucht oder die neue Möglichkeit der Inklusion nutzt: Jede Grundschule ist laut etlicher Landesgesetze verpflichtet, entsprechende Unterstützung für die individuell angepasste Förderung zu bieten. Dadurch wiederum findet eine unmittelbare Konfrontation mit den anderen Kindern statt, die vor der Schule womöglich vermieden war. Und längst nicht alle anderen Eltern nehmen mit Freude und mit offenem Herzen die politisch gewollte und initiierte Integration und Inklusion an.

Ganztagsschule, individuelle Förderung und Inklusion: Chance, Revolution, Vision
In den ersten zehn Jahren dieses Jahrtausends bieten drei große Bewegungen die Chance zu einem Paradigmenwechsel für Schule und Gesellschaft:
– Seit PISA erwarten die Schulgesetze der Länder ausdrücklich von jeder Schule und Schulform, dass sie bei gleichzeitiger Leistungsorientierung für jeden Schüler dessen individuelle Möglichkeiten erfassen und erweitern.
– Dies verquickt sich vielerorts mit der Etablierung von Ganztagsschulen. Ganztägige Betreuung kann zusätzliche Zeit und Möglichkeiten zu einer individuellen Sicht und Förderung schaffen, wenn sie denn in guter Kooperation von Schule, Hort und ‚Gemeinde‘ und mit entsprechend qualifiziertem Personal umgesetzt wird.
– Die bundesdeutschen Regelungen zu einer inkludierenden Politik, basierend auf der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung, sehen vor, dass gesellschaftliche Einrichtungen so gestaltet sind, dass sie Menschen mit Beeinträchtigungen maximale Selbstbestimmung ermöglichen.

Der gesellschaftliche Auftrag zur Inklusion bedeutet Chance und Herausforderung zugleich. Die über das bisherige Ziel der Integration des Einzelnen in ein vorhandenes System hinausgehende Vision, dass „die gesellschaftlichen Voraussetzungen so verändert werden (…), dass Menschen mit ihren jeweils unterschiedlichen Konstitutionen gut in dieser Gesellschaft leben können“ (Spiess 2011, S. 13), bedeutet für die Gesellschaft im Allgemeinen und für die pädagogischen Einrichtungen im Besonderen einen Paradigmenwechsel. Es wird darüber zu reflektieren sein, wie und durch wen in Verbindung mit dem Auftrag zur individuellen Förderung diese völlig neue Denkweise umzusetzen ist. Besondere fachliche Kompetenzen sind notwendig, um Inklusion und das Gebot der individuellen Förderung umzusetzen.

Integrative Lerntherapie: Fachleute mit Beziehungs-, Diagnostik- und Förderkompetenz
In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Berufsbild ‚Integrative Lerntherapie‘ entwickelt: Die vielfältigen Erkenntnisse aus medizinisch-psychologischen und pädagogischen Fachwissenschaften, aus der kindertherapeutischen Praxis (Ergo- und Physiotherapie, Logopädie, Heilpädagogik) und die systemischen Sichtweisen mit ihren ressourcenorientierten Konzepten und der Zusammenarbeit von Kind und komplettem Umfeld sind zu einer hochwertigen interdisziplinären Förder- und Beratungspraxis zusammengeführt. Integrative Lerntherapeut(inn)en verfügen über Kompetenzen in Diagnostik, Förderung, Beratung und Beziehungsgestaltung.

Beziehungskompetenz: Die Bedürftigkeit von verunsicherten Kindern und Eltern und in deren Gefolge häufig auch von Erzieher(inne)n und Lehrkräften verlangt nach der Fähigkeit, professionell Beziehung aufbauen zu können. Gerade ein in seiner Entwicklung wie auch immer gehandicaptes Kind benötigt eine Person, die es emotional „erreicht“, es in seinen aktuellen Grenzen genauer sieht und darin akzeptiert und zugleich andere (bisher kaum) gesehene bzw. gewürdigte Möglichkeiten „entdeckt“ und einbezieht – und die gleichzeitig systemisch denkt und handelt.

Beratungskompetenz: Wenn durch Beratungskompetenz Eltern zur Mitarbeit gewonnen werden, erreicht eine Lernförderung erfahrungsgemäß ihre größte Wirkung. Für die Lehrkräfte und Erzieher(innen) sind „der zweite Blick“ und der fachliche Austausch in aller Regel sehr wertvoll. Interdisziplinäre Kooperation mit anderen Fachkräften erfordert neben der Kenntnis von deren spezifischen Angeboten einen kooperativen Arbeitsstil.

Diagnostikkompetenz: Integrative Lerntherapeut(inn)en achten gleichwertig auf Kompetenzen und Grenzen, achten mehr auf Qualitäten als auf Test-Zahlen und suchen gezielt nach bisher unentdeckten oder vernachlässigten Ressourcen. Zugleich bleibt der Blick offen für potentielle Belastungen gesundheitlicher bzw. psychischer Art: Wie steht das Kind im emotionalen Kontakt zu seinen Eltern, den Lehrer(inn)en, anderen Kindern? Wie könnte der Einbezug des Lebensumfelds weitere Wachstums-Möglichkeiten eröffnen? Eine so umfassend gestaltete Diagnostik zur Förderung zeigt auf, mit welchen Kompetenzen von Kind, Familie, (Ganztags-)Schule, Kita, lokales Umfeld die anstehenden Lernprozesse bewältigt werden können (Klein und Träbert 2010).

Fachübergreifende Kompetenzen in Entwicklungs- und Lernbegleitung: Wichtig ist die umfassende Unterstützung in den Bereichen Bewegung (insbesondere Graphomotorik, Augen- und Mundmotorik) und Wahrnehmung (insbesondere in den Bereichen auditive und visuelle Verarbeitung). Hinzu kommen Tonus regulierende Angebote, in Verbindung damit werden Aufmerksamkeit und Konzentration gestützt. Eine Förderung der gesprochenen Sprache – Verbesserung der Artikulation, Kompetenzen im Grundwortschatz, Grammatik, Syntax – gehört ebenso zur individuell abzustimmenden Förderkonzeption.

Innerhalb dieses breiten Spektrums findet die Unterstützung von elementarer Schriftsprache bzw. elementarem Rechnen ihren Platz: Festigung von Laut-Differenzierung, Buchstaben-Sicherheit und deren Zuordnung, auf Schriftsprache bezogene sprachanalytische Kompetenz – Silben, Morpheme. Mengenerfassung, Ziffer-Zahl-Zuordnung, Serialität, Rechenoperationen der Grundrechenarten, Mengenzerlegung, Zehnerübergang, Zahlenräume, Textaufgaben.

Aus psychologischer Sicht stehen die Lern- und Arbeitsorganisation des Kindes im Mittelpunkt, Stärkung des Selbstwerts, Selbstkontrolle von Verhalten einschließlich eigener Leistungsbewertung, Stärkung der sozialen Kompetenz, Entspannungstechniken. Zentrale Prinzipien sind dabei: (1) Verhelfen zu kleinschrittigen Lernerfolgen und der damit verbundenen Fortschrittsorientierung (vom Teufelskreis zur Glücksspirale), (2) individuell angepasste Methodenvielfalt, das ist einer der wesentlichen Unterschiede zu jeder Art Trainingsprogramm, (3) ständige Ziel- und Auftragsklärung mit Eltern, Lehrkräften und Kind, (4) Beständigkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität bezüglich Terminen und Absprachen, (5) wohlwollende professionelle Haltung, (6) vermittelnder Kontakt mit allen Beteiligten – Kind, Eltern, Lehrkraft (Mediator)

Lerncoaching: Früh fördern statt spät sitzen bleiben, Schulabbruch, Hartz IV…
Die spezifischen Kompetenzen der integrativen Lerntherapie sind als Lerncoaching in der Schule sehr wirkungsvoll. Entsprechende evaluierte Projekte geben eine Antwort auf viele Aspekte zum Übergang in die Schule. Unter dem Motto: „kurzfristig, niedrigschwellig, unbürokratisch“ haben gleich zu Beginn der ersten Klasse Lerntherapeut(inn)en mit einer dreijährigen Zusatzausbildung in Integrativer Lerntherapie in Grundschulen nach den beschriebenen ganzheitlich-systemischen Konzepten gearbeitet (Klein 2009-2011).

Wesentliche Merkmale des Lerncoaching in der Schule sind: – Freiwilligkeit bzw. Akzeptanz: Schulleitung, Lehrkräfte und Eltern tragen das Konzept
– Raum in der Schule: sicher verfügbar, hell, Größe mindestens 16 qm
– abschließbarer Schrank, eigener Schlüssel, beheizt, Fenster
– Zeiten: Möglichst während der Unterrichtszeit
– Auswahl: unaufwändiges Selektionsverfahren: Lehrkraft trifft nach sechs bis acht Schulbesuchswochen eine Vorauswahl; Lerntherapeut(in) hospitiert; fachlicher Austausch; Ansprache der Eltern: Elterngespräch und Diagnostik zur Förderung
– Eingangsphase: eine Stunde je Kind für Übergabegespräch; zwei Einzeltermine mit dem Kind; Diagnostik zur Förderung und Aufbau der Beziehung; ein Elterngespräch je Kind
– Förderung: eine Stunde pro Woche, ca. ein Schuljahr; 15 Einheiten für alle „Einzelaktivitäten“ (Diagnostik, Gespräche) plus 35 Stunden im Paar bzw. in der Dreiergruppe; d. h. für das einzelne Kind 50 Einheiten
– Gespräche mit Lehrkräften und Eltern: Regelmäßige Treffen und „Tür- und Angel-Gespräche“ mit Lehrern; Elterngespräche
– Auswertungs- bzw. Bilanzgespräche: Zum Ende eines Halbjahrs ein Bilanzgespräch.

Ergebnisse
Kinder: Alle Kinder kamen ausgesprochen gerne, genossen die Zuwendung, bauten eine gute Beziehung auf, zeigten andere, bessere Verhaltensweisen als im Unterricht, sie sprachen (während sie sich dies in der Klasse nicht trauten), beteiligten sich, zeigten schnelle Fortschritte – auch in der Klasse. Nach einem Jahr konnten fast alle Kinder das Lerncoaching beenden!
Lehrkräfte: Sie haben profitiert von erweitertem know how, von fachlichen und emotionalen Entlastungen bezüglich ihrer „Sorgenkinder“ und dadurch freie Energien für die ganze Klasse. Gestiegene Sicherheit durch „den zweiten Blick“ der Lerntherapeutin.
Eltern: Immer, wenn Elternkontakt zustande kam (die Einschränkung soll nicht verschwiegen werden), war er sehr effektiv, mit guter Akzeptanz von weiter gehenden Vorschlägen und mit Dankbarkeit für so frühe Unterstützung in der Schule.

Dr. Jochen Klein ist Ausbilder von Lerntherapeut(inn)en und Leiter des KREISEL e.V. in Hamburg.

Literatur
Dannenbeck, C. (2011): Inklusion – Anspruch und Wirklichkeit. FORUMsozial 1/2011, S. 17-20.

Jörg, S., Kellner, I. (2009): Der Ernst des Lebens. Stuttgart/Wien.

Klein, J. (2006): Gute Lerntherapie in Schule braucht gute Rahmenbedingungen in Schule. Bildungspolitische und lerntherapeutische Aspekte zum Projekt des KREISELnetzwerks Lerntherapie in Schule: Früh fördern statt spät sitzen bleiben. Hamburg.

Klein, J. (2010): Projektbericht Früh fördern statt spät sitzen bleiben und Nachbefragung. Hamburg.

Klein, J., Träbert, D. (2010): Wenn es mit dem Lernen nicht klappt. Weinheim.

Spiess, C. (2011): Der Inklusionsbegriff aus ethischer Sicht. FORUMsozial 1/2011, S. 11-16.

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