3/10 Woweries

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Intersexualität: eine kinderrechtliche Perspektive

Von Jörg Woweries

Medizinische Laien wissen über Intersexualität – man kann auch Zwitter, Hermaphrodit oder Zwischengeschlecht schreiben – sehr wenig. Was gelegentlich bei der Geburt oder später, in der Zeit der Pubertät, festgestellt werden kann, ist ein nicht eindeutig männliches oder weibliches Genitale auf Grund des äußeren Bildes, sind Abweichungen genetischer, gonadaler und/oder hormoneller Befunde vom erwarteten Ergebnis. Als nächster Schritt wird dann eine Abweichung von der Norm als Krankheit, Störung oder Disorder gesehen. Alles was diese binäre Ordnung in Frage stellt, wird als abnorm, unnatürlich oder pathologisch angesehen.

Die Nomenklatur der Chicago Consensus Conference 2005 ersetzte Intersexualität durch Disorders of Sex Development (DSD), also Störung der sexuellen Entwicklung, und benennt verschiedene „Krankheiten“. Betroffene äußern sich in verschiedenen Foren empört über ihre Zuordnung zu „Störung“ und Krankheit. Ihr Vorschlag, von Variations in Sex Development zu sprechen, wurde in Chicago abgelehnt, ihre Stimmen wurden ignoriert. Zu fragen ist hier: handelt es sich dabei tatsächlich um Abweichungen von einer Norm und was ist hier die Norm? Oder aber sind es nicht doch Varianten biologischer Vielfalt? Milton Diamond (1997) spricht von Spielarten des Lebens.

Gedankenspiele über ein „drittes Geschlecht“ helfen auch nicht weiter. Wegen vielfältiger Erscheinungsformen gibt es kein „eindeutiges“ drittes Geschlecht. De facto wird mit dem Überbegriff Intersexualität bzw. DSD genau diese Gruppierung trotzdem vorgenommen und akzeptiert. Für Betroffene wichtiger ist aber der juristische und kulturelle Aspekt, der entscheidend zur Sichtbarmachung und Akzeptanz der Zwitter beitragen kann, etwa als Überbegriff für verschiedene körperliche Geschlechtsvarianten. Aus diesem Grund wird ein drittes Geschlecht von manchen Betroffenen verlangt und ist mehr als eine bloße „Gedankenspielerei“. Sehr viele andere verlangen allerdings, dass in den Personalakten überhaupt kein Geschlechtseintrag vorgenommen wird. Dies ist im Personenstandsgesetz aber nicht zugelassen.

Die Haltung, ein nicht eindeutiges Genitale als pathologisch anzusehen und Operationen möglichst bald nach der Geburt vorzunehmen, gründet auf der von John Money vor über fünf Jahrzehnten propagierten Ansicht, die Geschlechtsidentität könne durch Erziehung bzw. durch Umerziehung erreicht werden. Diese Ansicht ist nicht haltbar. Zusätzlich hielt man es für besser, das Geschlecht nach chirurgischer Machbarkeit in eine weibliche oder männliche Richtung zu lenken, damit das „Uneindeutige“ nicht mehr sichtbar, nicht mehr erkennbar ist. Das äußere Aussehen wurde der männlichen oder weiblichen „Norm“ angepasst. Nach orientierenden Schätzungen wurde in ca. 85 bis 90 Prozent ein äußerlich weiblich aussehendes Genitale geformt. „It is easier to make a hole than to build a pole“.

Dieser Teil der Strategie, die chirurgische „Normalisierung“ des Genitales, wird von den erwachsenen Betroffenen als schweres Trauma empfunden. Damit einhergehend wurde häufig eine Entfernung der Keimdrüsen (Hoden/Eierstöcke), eine Kastration, vorgenommen. Zu diesem System gehört auch, die Operationen und die ursprüngliche Anlage der Genitalorgane zu verheimlichen. In der Öffentlichkeit und selbst in den Familien wurde dieses Phänomen tabuartig verheimlicht. Viele glauben, dass nur wenige Menschen betroffen sind, tatsächlich sind es aber viele: man schätzt, dass unter 4.500 bis 2.000 Geborenen ein Betroffener zu finden ist. Das bedeutet, dass bei 680.000 Geburten jedes Jahr 150 bis 340 intersexuelle Menschen hinzukommen. Gerade dieses Verheimlichen bedeutet ein Ausgrenzen, es verschlimmert die sowieso schon vorhandenen Belastungen. Noch immer gibt es Jugendliche, die über ihre Situation nicht aufgeklärt sind. Aus juristischer Sicht besteht allerdings ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, also auch auf das Wissen um das eigene Geschlecht und verheimlichten Operationen.

Es ist auffällig, dass beim Thema der „geschlechtsangleichenden“ Operationen evidenzbasierte Ergebnisse praktisch nicht vorhanden sind. Trotzdem wird bis in die Gegenwart immer noch nach den veralteten, falschen Vorstellungen gehandelt. Dabei steht im Ergebnis des Netzwerks Intersexualität: „Es gibt keine festgelegten Richtlinien wie in anderen Bereichen der Medizin. Mit anderen Worten: das Basiswissen über eine angemessene Behandlung und Betreuung ist sehr gering“ (Netzwerk Intersexualität 2008). Und sehr häufig findet sich bei Nachfragen (Esped 2002) keine Kenntnis über die weitere Diagnostik oder Entwicklung des Kindes (lost to follow-up).

Es ist aber deutlich, dass sich sehr viele inzwischen erwachsene Patienten, selbst von unterschiedlichen operativen Eingriffen betroffen, gegen das entwürdigende Prozedere auf ihrem Lebensweg und vor allem gegen in der Regel mehrfache Operationen insbesondere im Säuglings- und Kindesalter aussprechen. In den Foren der Betroffenen kann man lesen, dass viele sich als Opfer von Verstümmelungen sehen. Sie erleben ihre Gefühle, Wut und Hass, sowie traumatische Erlebnisse noch Jahrzehnte lang und sehr intensiv immer wieder.

Zwei Nachuntersuchungen sind nennenswert. In den Hamburger Studien an 78 Erwachsenen mit einer Intersex-Diagnose (Schweizer et al. 2009) gibt ein großer Teil an, die Behandlung negativ erlebt zu haben. Weit über die Hälfte der Teilnehmenden (62 Prozent) zeigten klinisch relevanten Leidensdruck; 47 Prozent hatte Suizidgedanken; 13,5 Prozent berichteten über zurückliegende Selbstverletzungen. Ein großer Teil gibt eine asexuelle Orientierung an, welche auf traumatisierende Operations- und Behandlungserfahrungen zurückgeführt wird, durch die sie jedes sexuelle Interesse und die Fähigkeit sich zu verlieben verloren haben. Ebenfalls ist die Eltern-Kind-Beziehung hohen Bindungs-Belastungen ausgesetzt. Auf Grund ihrer Untersuchungen kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die intersexuellen Menschen in der psychologischen Literatur als Gruppe mit „high psychological needs“ wahrgenehmen werden sollten. Wenn in der klassischen Psychoanalyse angenommen wird, dass psychisches Erleben, insbesondere Geschlechtserleben und Geschlechtsidentität, entscheidend von der körperlichen und geschlechtlichen Anatomie geprägt sind, dann sind auch der Verlust körperlicher Integrität durch medizinische Körpermanipulationen zu analysieren und zu berücksichtigen.

In der größten Studie (439 Teilnehmer) an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit DSD (Netzwerk Intersexualität 2008) ergab sich eine sehr hohe Unzufriedenheit der Betroffenen mit den operativen und hormonellen Eingriffen. Vor allem Erwachsene waren mit den massiven psychischen und physischen Folgen der genitalen Operationen sehr unzufrieden. Bei 25 Prozent aller operierten Studienteilnehmer kam es zu Komplikationen. 28 Prozent aller Erwachsenen beklagten, dass es für sie schwierig ist, eine spezialisierte Behandlung der nachfolgenden Probleme zu finden. Bei den untersuchten Erwachsenen haben 45 Prozent in der psychischen Gesundheit deutlich schlechtere Werte als eine Vergleichsgruppe. Dazu müssen von den primär angesprochenen Betroffenen noch 23 Prozent berücksichtigt werden, die die Teilnahme auch aus psychischen Gründen absagten. Auch bei Jugendlichen werden im Bereich Psyche deutliche Beeinträchtigungen festgestellt. Außerdem wird dabei die Angabe von neun Prozent, die später in das andere Geschlecht wechseln, nicht ausreichend gewürdigt. Das ist doch ein extrem hoher Wert, wenn man ihn mit Werten aus dem Bereich der Jugendlichen ohne DSD vergleicht.

Ethische Grundsätze und Empfehlungen sowie rechtliche Perspektiven Vor kurzem wurden „Ethische Grundsätze und Empfehlungen“ einer Expertengruppe veröffentlicht. Darin heißt es u. a.: „Maßnahmen, für die keine zufrieden stellende wissenschaftliche Evidenz vorliegt, sind besonders begründungs- und rechtfertigungspflichtig und bedürfen einer zwingenden medizinischen Indikation.“ Zu fragen ist

(1) Kann die Notwendigkeit für geschlechtsangleichende Operationen mit zufrieden stellender Evidenz belegt werden? Antwort: Es liegen keine Studien mit zufrieden stellender Evidenz vor. Sogar in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF-Leitlinien) der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin von 2007 wird zugegeben, „dass kontrollierte Studien zu genitalen Korrekturoperationen nicht vorliegen und Untersuchungen zum Outcome unbefriedigend sind“.

(2) Liegt bei den zur Diskussion stehenden Eingriffen eine medizinische Indikation vor? Wenn man die seltenen Verschlüsse oder Behinderungen im harnableitenden System sowie Hormongaben beim Salzverlustsyndrom ausnimmt, lautet die Antwort: Es liegt weder eine vitale, noch eine medizinische Indikation vor. Genau genommen sind es kosmetische Operationen oder Operationen aus soziokultureller Indikation. Sogar die AWMF-Leitlinien sagen: „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung sind nicht per se aus rein kosmetischen Gründen korrekturbedürftig und stellen bei einem Neugeborenen keinen chirurgischen Notfall dar.“

In den Ethischen Grundsätzen heißt es weiter: „Generell muss den Eltern der Aufschub von prognostisch unsicheren Maßnahmen bis zur Entscheidungsreife des Kindes als erste Präferenz dargestellt werden. (…) Die Erziehung in einem sozialen Geschlecht ohne entsprechende operative ästhetische Korrekturen erhält dem Kind zudem die Option auf einen evtl. notwendigen späteren Wechsel der Geschlechtsidentität.“ Aus der Literatur ist bekannt, dass sich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Menschen mit DSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter entschließt, das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zu wechseln. Die Häufigkeit eines späteren Wechsels in ein anderes als das nach der Geburt zugewiesene Geschlecht ist keine seltene Ausnahme, bei den von Preves (2005) untersuchten Fällen waren es 24 Prozent, bei besonderen genetischen Fällen sind es ca. 50 Prozent, in den „Netzwerken Intersex“ wurden neun Prozent angegeben. Natürlich ist ein späterer Geschlechtswechsel durch Operationen im Säuglings- oder Kindesalter erschwert oder unmöglich.

Trägt die Chirurgie zur „Vereindeutigung“ des Genitale, tragen „genitalkorrigierende Operationen“ zum Wohl des Kindes bei? Es handelt sich nicht um einen Heileingriff. Eine chirurgische Operation ist – abgesehen von den genannten Ausnahmen – in keinem Fall erforderlich, weil keine zwingende Kausalität zwischen Genitalaussehen und Geschlechts-Identität vorliegt. Die von den Eltern erwartete Hilfe, nämlich eine geschlechtsangleichende Operation, ist nicht möglich. Um die chirurgischen Eingriffe als gerechtfertigt anzusehen, wurde von der Bundesregierung darauf verwiesen, dass eine „geschlechtsangleichende“ Operation für die Entstehung der Geschlechtsidentität wichtig sei (Deutscher Bundestag 2001: Drucksache 14/5627). Gerade dies ist eben nicht der Fall. Die auf John Money zurückgehenden Vorstellungen sind unbewiesene Fiktionen. Die Rechte der Betroffenen haben Vorrang vor den Vorstellungen der Eltern und den beschränkten technischen Möglichkeit der Chirurgen, die vorwiegend nur das äußere Bild eines weiblichen Genitale erzeugen können.

Bisher ist es üblich, dass die Mediziner auch zu schwersten operativen Eingriffen bereit sind, wenn die Eltern es wünschen. Die Eltern sind auf Grund der von den Operateuren vorgebrachten Argumente selbst Opfer der Informationen durch die Mediziner. Es muss aber bestritten und in Zukunft verhindert werden, dass bei solchen kosmetischen Operationen, die zudem irreversibel sind, die Operationseinwilligung von den Eltern stellvertretend für das Kind vorgenommen werden darf. Auch die hohe Zahl von Beschwerden über die meist mehrfachen Operationen, deren Folgen oft erst in der Jugend oder bei Erwachsenen ganz bewusst werden, sprechen dagegen. Da die chirurgischen Eingriffe nicht erforderlich und in Anbetracht des hohen Risikos auch nicht zumutbar sind, und die Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht sehr schwer wiegen, kann auch nicht auf einen qualifizierten Rechtfertigungsgrund für die Eltern verwiesen werden. „Im Zweifelsfall hat die psychische und soziale Unterstützung des Kindes und seiner Eltern einen höheren Wert als die Herstellung einer biologischen Normalität“, heißt es in den „Ethischen Grundsätzen“. Diesen Ausführungen ist jedoch an einem Punkt zu widersprechen: es handelt sich eben nicht um eine „Normalisierung“, sondern nur um kosmetische Eingriffe, damit der äußere Anschein geändert wird. Eine Normalisierung ist weder denkbar, noch machbar.

Zusammengefasst lässt sich meines Erachtens sagen: aus den „Ethischen Grundsätzen und Empfehlungen“ geht eindeutig hervor, dass diese Operationen keine Heilbehandlung darstellen, sondern eine Körperverletzung nach § 223, § 224 oder § 226 Strafgesetzbuch. Die Operationseinwilligung sollte nur vom Betroffenen selbst gegeben werden, nicht stellvertretend von den Eltern.

Die „Behandlung“ von intersexuellen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wird bisher ausschließlich in den Kreisen der wenigen Mediziner diskutiert, die sich mit den Problemen dieser Menschen befassen. Ihnen geht es vor allem um technische Veränderungen und Methoden, während die grundsätzliche Entscheidung für das operative Vorgehen zwar gelegentlich in Zweifel gezogen aber nicht grundsätzlich abgelehnt wird. Die betroffenen Kinder und deren Eltern sind einerseits abhängig von den Informationen der Mediziner und andererseits eingebunden in das Verschweigen der als peinlich offerierten und empfundenen „Krankheit“.

Der UN-Ausschuss CEDAW ermahnte in seiner 43. Sitzung am 2. Februar 2009 in Genf Deutschland, dass die vollständige Umsetzung der internationalen Menschenrechte auch bei intersexuellen Menschen garantiert sein muss. Weiter mahnte das Komitee, dass es sich um „rechtlich verbindliche Elemente“ handle. Die medizinisch nicht notwendigen und traumatischen chirurgischen Zwangsbehandlungen stellen einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht, die körperliche Unversehrtheit und die Würde dar. Die Zustimmung der Betroffenen darf daher nicht durch die der Eltern ersetzt werden. Die an Zwittern üblichen „genitalen Zwangsoperationen“ widersprechen dem klar. Dies betrifft das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu dem die sexuelle Selbstbestimmung gehört (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts (Art. 3 Abs. 3 GG). Auch die UN-Kinderrechtskonvention lässt sich heranziehen zur Verpflichtung der Bundesregierung zu einer entsprechenden Gesetzgebung, die die Rechte individueller Menschen ernst nehmen.

Intersexualität ist ein gesamtgesellschaftliches Thema
Plett (2009) weist darauf hin, dass das Recht, wie wir es in allen Staaten vorfinden, die auf der westeuropäischen Tradition beruhen, so sehr auf exklusiver Zweigeschlechtlichkeit basiert, dass diese Struktur bislang schwer aufzubrechen ist. Hier muss grundlegend nachgedacht werden.

Bis jetzt weisen Mediziner nach der Geburt eines intersexuellen Menschen nach der überkommenen Denkkonstruktion das Geschlecht dem biologisch nicht haltbaren binären/dichotomen System zu. Dies widerspricht dem gegenwärtigen Wissen. Bisher finden sich in der Biologie nur Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus vielen inneren Wesensmerkmalen zusammensetzt, die irgendwo auf einer Spannbreite zwischen den beiden polaren Extremen männlich und weiblich liegen. Wir wissen, dass typisch männliche und weibliche Hormone bei beiden Geschlechtern vorkommen. Jeder Mensch vereint in seinem Wesen männliche und weibliche Eigenschaften, z. B. Empathie, Sprachfähigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen. Dabei neigen Frauen mehrheitlich zu weiblichen Attributen und Männer mehr zu männlichen. Eine scharfe Trennung gibt es nicht. Tägliche Beobachtungen zeigen, dass die einzelnen Menschen eben nicht an den extremen Enden zu orten sind. Die Spannbreite sowohl innerhalb der weiblichen Menschen und auch innerhalb der männlichen Personen ist sehr groß. Es ist zu fordern, dass die Geschlechtszuweisung sich auf dem breiten Feld eines polaren Denkschemas, das auch Zwitter berücksichtigt, erfolgen muss. „Wenn das Recht die Biologie berücksichtigen will, muss es auch anerkennen, dass es zwischengeschlechtliche Menschen gibt“ (Plett 2009). Auch beim Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1978 zur Situation von Transsexuellen war man von der Existenz von Zwittern ausgegangen.

Gerade am Beispiel der Intersexualität wird der Irrsinn der dichotomen Konstruktion deutlich. Einerseits wird eine „Lücke“ definiert, andererseits wird Personen, die ihre Geschlechtsidentität – von niemand angezweifelt – in der „Mitte“ finden, die von ihnen selbst gewünschte Eintragung im Personenstandsregister als „Zwitter“ unter Berufung auf medizinische und psychologische Gutachter verweigert. Sie werden willkürlich und zwangsweise einer Seite als weiblich oder männlich zugeordnet: von Gutachtern, die sich von dieser dogmatischen, dichotomen Konstruktion nicht distanzieren wollen. Dies verstößt aber gegen den Schutz der sexuellen Identität. Hier ist nicht an sexuelle Orientierung zu denken, sondern an die Selbstbestimmung als männliches oder weibliches oder zwischengeschlechtliches Wesen.

Eine wesentliche Forderung ist deshalb auch, dass bei der Eintragung nach der Geburt im Personenstandsgesetz entweder gar keine Geschlechtseintragung erfolgt, oder neben der üblichen Eintragung männlich oder weiblich als dritte Möglichkeit ein „nicht eingetragen“ vorgesehen wird, wenigstens bis einschließlich der Zeit der Pubertät.

Das aber ist ein soziokulturelles, gesamtgesellschaftliches Thema, das völlig neu konzipiert werden muss: unter Beteiligung u. a. von Ethikern, Juristen und Selbsthilfegruppen, die sich für die Rechte der intersexuellen Menschen einsetzen. Gesetzgebung und Rechtsprechung sollten für solche Fragen z. B. Sozialwissenschaftler, Kulturwissenschaftler und Psychologen/Psychotherapeuten als Gutachter heranziehen, die sich selbstverständlich auf evaluierte Forschungsergebnisse in Längsschnittstudien stützen müssen, falls diese schon vorhanden sind. Bisher haben sich aber nur sehr wenige diesem Thema zugewendet. Insofern sind auch die Erfahrungen der Selbsthilfegruppen (www.intersexuelle-menschen.net, www.si-global.ch) hilfreich. Medizinern kommt dabei nicht die erste Kompetenz zu.

Die Annahme, dass intersexuelle Menschen von einer Gemeinschaft nicht akzeptiert werden, mag bei oberflächlicher Betrachtung stimmen, wurde aber bisher nie wissenschaftlich erfasst. Dies stünde auch nicht in der Fachkompetenz der Ärzte, die Operationen an Säuglingen und Kindern propagieren und noch immer ihre Vorstellungen mehr oder weniger auf die Gedankenkonstruktionen von Money zurückführen. Wissenschaftliche Kompetenz kommt ihnen bei diesem Problem nicht zu, da es sich um soziokulturelle, gesellschaftliche Fragen handelt. Bisher gibt es keine evaluierte Studie, die die allgemeine Öffentlichkeit nach der Akzeptanz von Zwittern befragt hat.

Ich denke hier auch an den Begriff der Inklusion. Gemeint ist, dass Unterschiede der Menschen eben die Normalität darstellen. Die Betroffenenverbände sprechen von „Variations in Sex Development“, Diamond spricht von Spielarten des Lebens und registriert: „nature loves variety, but society hates it“. Richter-Appelt hat durch ihre eigenen Forschungen herausgefunden, dass intersexuelle Individuen in ihrem geschlechtsdifferenzierenden Verhalten oft zwischen Männern und Frauen liegen. Sie möchte das jedoch nicht als Problem sehen, sondern es „könnte als eine über die Kategorie Mann und Frau hinausgehende Bereicherung der Vielfalt menschlichen Wesens angesehen werden“.

Es ist eine Sache, dass die Logik es erfordert, den Dualismus der Geschlechtsidentität als polare Kategorie zu definieren und nicht als dichotomes Modell. Es ist eine andere Sache, dass die Komplexität der Verhältnisse es auch verlangt, dass die damit verbundene Unbestimmbarkeit ausgehalten werden muss. Individuen, deren Selbstverständnis sich nicht wie bei der großen Mehrheit an den Rändern des polaren Spannungsfeldes weiblich/männlich befindet, oder die sich selbst dem anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zuordnen, gehören nicht in das System von Krankheit und Psychopathologie, sondern sind Teil eines normalen Spektrums einer Population. Es ist zu hoffen, dass die „Grauzone“ zwischen den Geschlechtern als Variante des Normalen akzeptiert wird. Vorurteile müssen abgebaut werden. In der Situation von Kindern in pädagogischen Einrichtungen muss eine soziale Ausgrenzung verhindert werden. Die Aufgabe besteht darin, dem Kind in der jeweiligen Gesellschaft genügend Selbstbewusstsein mitzugeben, damit es sich so akzeptiert, wie es ist. Ich erwarte, dass dies möglich ist.

Worterklärung
Dichotom: in zwei Teile zerschneidend, dann ist „nichts dazwischen“
Binär: entweder ja oder nein, in nur zwei Zuständen auftretend
Polar: Kontinuum zwischen zwei Polen, es ist also immer „etwas dazwischen“

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Jörg Woweries ist Arzt für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin.

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