fK 6/05 Podium

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Europäische Zusammenarbeit für Kinder

Auszüge des Podiumsgesprächs zum Abschluss der Tagung „Kinder im erweiterten Europa” am 28./29.10.2005 in Frankfurt (Oder)

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit: Eingangs möchte ich Sie, Herr Haupt, als langjähriges Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages bitten, uns über die Arbeit in der Kinderkommission zu berichten.

Klaus Haupt: Vor 14 Jahren haben kluge Politiker festgestellt, dass Kinder ein besonderes Schutzbedürfnis haben, dem man Rechnung tragen muss. Kinder sind nämlich die einzige Gruppe, die leider noch nicht wählen darf. Einmalig in der Deutschen Parlamentsgeschichte wurde dann die Kinderkommission als Unterausschuss des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gegründet. Hierbei gibt es verschiedene Besonderheiten: Jede Fraktion im Deutschen Bundestag entsendet einen Kinderbeauftragten in die Kommission, es hängt also nicht von der Fraktionsstärke ab. Der Vorsitz wechselt jährlich, so dass jede Fraktion einmal den Vorsitzenden stellt. Die Kinderkommission entscheidet nicht nach Mehrheiten, wie das ansonsten in allen Gremien des Parlaments vorgeschrieben ist, sondern nach dem Konsensprinzip. In unserer Arbeit haben wir jedoch bemerkt, dass wir an eine Grenze stoßen: Wenn wir im Bundestag initiativ werden und eine Debatte anstoßen wollten, da mussten wir uns entsprechend der Geschäftsordnung an den Mutterausschuss wenden. Oder wir mussten den umständlichen Weg gehen und einen interfraktionellen Antrag anregen. Viel besser wäre es jedoch, wenn die Kinderkommission mit einem Recht ausgestattet wäre, das mehr ist als ein demokratisches Feigenblatt. Wir haben um ein Rederecht gekämpft, was zunächst nicht durchsetzbar war, dann aber später klappte. Und schließlich haben wir den Mut gehabt, ein eigenes Antragsrecht zu beantragen. Ein solches Antragsrecht würde gewährleisten, dass wir manche Debatte über Kinder im Deutschen Bundestag initiieren könnten, was dem Deutschen Bundestag sehr gut täte. Dazu fand bereits eine erste Debatte im Plenum statt. Im Rahmen eines interfraktionellen Antrages in der vorletzten Legislaturperiode hatten wir innerhalb von zwei Wochen 180 Unterschriften zusammen. Dann kam Sand ins Getriebe und der Antrag fand kurz vor Ende der Legislaturperiode keine Mehrheit. Im Frühjahr 2005 haben wir auf einer Pressekonferenz einen zweiten Versuch unternommen. Danach jedoch wurde bekanntermaßen die Legislaturperiode vorzeitig beendet, so dass wir unser Anliegen zunächst nicht weiter verfolgen konnten.

Dr. Klaus Gritz: Ich rege an, dass die Liga einen erneuten Vorstoß unternimmt, das Antragsrecht der Kinderkommission durchzusetzen. Wenn dieser Vorstoß von außen kommt, hat das vielleicht mehr Wirkung, als wenn eine solche Forderung nur aus dem Parlament heraus kommt.

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit: Herr Prof. Krappmann, was halten Sie davon, dass wir eine EU-Richtlinie fordern, welche die EU-Staaten zwingt, die UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht umzusetzen und dabei eine Frist für die Umsetzung zu bestimmen mit der Folge, dass EU-Recht ganz unmittelbar gelten würde, sobald diese Frist abgelaufen ist?

Prof. Dr. Lothar Krappmann: Zunächst möchte ich sagen, dass alles willkommen ist, was dazu führt, dass die UN-Kinderrechtskonvention in den Ländern zur Realität wird. Wenn ich versuche, den Vorschlag durchzubuchstabieren, dann glaube ich, dass es eine Reihe von Problemen gibt. Bei einigen Artikeln der Konvention ist es schwer zu sagen, ohne dass es diskutiert wird, was die volle Erfüllung dieser Vorschrift darstellt. Zum Beispiel heißt es in der Konvention, dass Kinder größtmöglich zu fördern sind. Wir sind uns sicher, dass wir unsere Kinder nicht größtmöglich fördern, aber wie können wir dieses Ziel in einer Art und Weise erreichen, dass jeder zustimmt und sagt, ja, das war gemeint, und das wollen wir erreichen, und wir haben es auch irgendwann erreicht. Auf der einen Seite wäre es also gut, es gäbe diesen Druck von Seiten der europäischen Strukturen. Dies verlangt dann andererseits aber auch, dass sehr konkrete Handlungspläne aufgestellt werden. Die letzte Bundesregierung hat dies zu tun versucht. Sie hat einen Nationalen Aktionsplan aufgestellt, angelehnt an den Weltkindergipfel. Aber dieser Aktionsplan war bei genaurem Hinschauen kein Aktionsplan, sondern er ist eher ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf. Denn man braucht – und das möchte ich Ihrem Vorschlag hinzufügen – einen Aktionsplan, der die Ziele genau beschreibt und der sagt, wann und möglicherweise in welchen Zwischenschritten sie erreicht werden sollen, und welche Mittel man dafür einzusetzen gedenkt. Es mag sein, dass man trotzdem nicht so erfolgreich ist, wie man will, aber um überhaupt voranzukommen, braucht man diese Konkretisierung. Man müsste sich Artikel für Artikel vornehmen, Prioritäten festlegen und diese dann in einen Handlungsplan umsetzen, der konkrete Termine und Haushaltstitel enthält.

Ingeborg Rakete-Dombek: Ich finde es wichtig sich anzuschauen, in welchen Bereichen Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention nicht übernommen hat. Dabei meine ich mich zu erinnern, dass es auch um die Situation von Flüchtlingskindern geht. Hat sich die Lage hier inzwischen verändert?

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit: Es ist völlig richtig, dass die Bundesrepublik die Kinderrechtskonvention nicht vollständig umgesetzt hat. Sie hat Vorbehalte erklärt. Ein Teil dieser Vorbehalte hat sich dann in der Folgezeit erledigt. So sieht die Konvention vor, dass ein Kind nach Trennung oder Scheidung der Eltern das Recht auf Kontakt zu beiden Elternteilen hat. Die Gesetzeslage in Deutschland hat bei der Ratifizierung der Konvention im Jahr 1992 dieser Vorgabe nicht entsprochen. Seit dem 1.7.1998 ist das Gesetz jedoch geändert. Seitdem hat das Kind in Deutschland nach einer Trennung oder Scheidung das Recht, seine beiden Eltern zu sehen, und damit ist dieser Vorbehalt erledigt. Andere Vorbehalte, zum Beispiel auf dem Gebiet des Ausländerrechts, sind nach wie vor nicht beseitigt. Immer noch werden insbesondere Asyl suchende Kinder nicht entsprechend der Konvention behandelt.

Klaus Haupt: Wir haben uns als Kinderkommission mit dieser Problematik dauerhaft auseinandergesetzt. Man muss sich das einmal vorstellen: das wohlhabende Deutschland stimmt der Kinderrechtskonvention – dem weltweit bedeutendsten Menschenrechtsabkommen – nur unter Vorbehalt zu. Die außenpolitische Wirkung ist verheerend! In jedem Bericht des UN-Komitees für Kinderrechte wird Deutschland hierfür scharf kritisiert. Wir haben im Bundestag drei Beschlüsse zur Rücknahme der Vorbehalte gefasst. Es spricht nichts dagegen, dass diese Vorbehalte zurückgenommen werden. Und wenn die Vorbehalte zurückgenommen sind, dann müssen auch einige Regelungen geändert werden, die besonders von Kindern – die ja ein besonderes Gerechtigkeitsempfinden haben – immer wieder kritisiert werden. Flüchtlingskinder haben nämlich in manchen Bundesländern nicht dasselbe Recht auf Bildung und volle gesundheitliche Betreuung wie deutsche Kinder. Hier hat sich einiges geändert, aber nach wie vor ist es zum Beispiel in Berlin nicht selbstverständlich, dass ein Kind an Klassenfahrten teilnehmen kann, wenn es einen Flüchtlingshintergrund hat. Und da sagen Kinder zu Recht: wo leben wir eigentlich?

Prof. Dr. Lothar Krappmann: Aus der Sicht des UN-Komitees für die Rechte des Kindes muss ich noch eine Peinlichkeit hinzufügen. Die Bundesrepublik hat ja gemäß Artikel 2 der UN-Kinderrechtskonvention die Verpflichtung übernommen, kein Kind zu diskriminieren. Ist es nicht seltsam, dass sie dann später eine Gruppe von Kindern aus ihrem Handeln herausnimmt? Das geht nicht an. Insofern gibt es in diesem Vorbehalt einen tiefen Konstruktionsfehler, der aus der Sicht mancher Juristen sogar dazu führt, dass dieser Vorbehalt gegenstandslos ist. Es gäbe also allen Grund, sich dieser Peinlichkeit endlich zu entledigen.

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit: Zum Schluss möchte ich gern etwas zu dem sagen, was die Liga seit ihrem Bestehen – und sie besteht seit fast dreißig Jahren – unter anderem schon mit erreicht hat. Hierzu gehört das Thema der gewaltfreien Erziehung. Vor wenigen Tagen fand in Berlin eine europäische Fachtagung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung” statt. Dort wurde gefordert, dass die gewaltfreie Erziehung als europäisches Leitbild vorangetrieben werden muss. Deutschland habe, so der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, Thomas Hammarberg, dadurch, dass es seit fünf Jahren in seinen nationalen Gesetzen das Verbot von Gewalt in der Erziehung enthält, einen europäischen Meilenstein gesetzt. Europa müsse, so Hammarberg weiter, eine gewaltfreie Zone für Kinder werden. Körperliche Bestrafungen müssten als Menschenrechtsverletzungen verfolgt werden. Und Uri Avneri, Träger des alternativen Friedensnobelpreises, hat mit Blick auf die jüdisch-palästinensische Geschichte gesagt: „Geschlagene Kinder werden wieder zu schlagenden Eltern. Nur gewaltfreie Erziehung durchbricht den Zirkel, vom Opfer zum Täter zu werden. Frieden ist eine Geisteshaltung. Damit Frieden möglich wird, muss die Mentalität durch Frieden verändert werden”. Das Thema der gewaltfreien Erziehung steht auf der nächsten europäischen Ministerkonferenz 2006 in Portugal. Ein Ziel, das dort verfolgt werden soll, ist eine auf drei Jahre angelegte Kampagne des Europarats für das Verbot körperlicher Züchtigung in ganz Europa. An dieser Kampagne sollen auch die Kinder beteiligt werden. Dies zeigt, dass wir zwar in manchen Bereichen in Deutschland große Rückstände haben, in anderen aber doch inzwischen auch führend sind. Das gibt uns Hoffnung und zeigt, wie notwendig und richtig die Arbeit der Liga ist. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass wir auf diesem Gebiet unbedingt weiter machen müssen.

Das Podiumsgespräch wurde moderiert von Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Senatorin für Justiz a.D. in Hamburg und Berlin und Vorsitzende des Kuratoriums der Deutschen Liga für das Kind.

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