fK 6/05 Hédervári-Heller

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Seelische Gesundheit von Kindern in den ersten Lebensjahren in Deutschland

von Éva Hédervári-Heller

Das Interesse für Kinder in den ersten Lebensjahren war noch nie so groß wie heute. In Deutschland leben vier Millionen Kinder im Alter zwischen null und sechs Jahren. Dies entspricht 5,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Trotz der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Einbrüche, die wir gegenwärtig hierzulande erleben, hat sich die Versorgung von Kindern mit psychischen Störungen in den letzten Jahren sowohl im psychiatrischen als auch im psychotherapeutischen Bereich im Vergleich zu früheren Zeiten erheblich verbessert. Ebenso hat sich ein Wandel hinsichtlich der Auffassung über die Kindheit im Allgemeinen und über die frühkindliche Entwicklung im Besonderen vollzogen.

In früheren Epochen galten Kinder als „kleine Erwachsene”, ohne eine Berechtigung auf ein kindgerechtes Dasein. Lebensweisen, Gewohnheiten und auch psychische Krankheitsbilder der Erwachsenen wurden auf die Kinder einfach übertragen. Eine eigenständige Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie gab es nicht. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts hatte man erkannt, dass viele Erscheinungsbilder psychischer Erkrankungen von Kindern nicht mit denen der Erwachsenen übereinstimmen, sondern eine entwicklungstypische Symptomatik aufweisen und eine spezielle Diagnostik und Therapie erfordern. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde die Kindheit als ein besonders vulnerabler Lebensabschnitt erkannt, der eines speziellen Schutzes bedarf. In den westlichen Industrieländern begann eine Sensibilisierung für seelische Verletzungen von Kindern durch Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung. Eine systematische Erforschung der Auswirkungen dieser massiven Formen der seelischen Verletzungen erfolgte allerdings erst viel später in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertes. Vor allem die Untersuchungen zur mütterlichen Deprivation von René Spitz und John Bowlby haben die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die seelischen und emotionalen Beeinträchtigungen von Säuglingen und Kleinkindern gelenkt.

So haben sich die Lebensbedingungen von Säuglingen und Kleinkindern in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland radikal verändert und die Chancen für ein Aufwachsen in seelischer Gesundheit wurden wesentlich verbessert. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten und im Gegensatz auch zu den armen Ländern unserer Erde geht es bei uns nicht mehr um das reine Überleben der Kleinstkinder, sondern um die Optimierung ihrer Entwicklungschancen.

Mit dem Gesetz zum Gewaltverbot in der Erziehung, das im Jahr 2000 verabschiedet wurde, setzte Deutschland im vereinten Europe wichtige Meilensteine im Hinblick auf Menschenrechte im Kindesalter. Damit gehört Deutschland weltweit zu den wenigen Ländern, die das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung per Gesetz regeln: „Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig” (§ 1631 Absatz 2 BGB).

Was heißt seelische Gesundheit?

Seelische Gesundheit in den ersten Lebensjahren wird im Allgemeinen als selbstverständlich angenommen und erst durch abweichende Verhaltensweisen des Kindes in Frage gestellt. So sind viele Eltern oft entsetzt, wenn sie ihr noch sehr junges Kind wegen seelischer Störungen beim Psychologen oder Kinderpsychiater vorstellen sollen. Auf der anderen Seite ist in der Fachwelt unumstritten, dass ein Mensch von Geburt an seelische Verletzungen erleiden und Symptome entwickeln kann. Früher waren es schwerwiegende Störungsbilder wie Hospitalismus, frühkindliche Deprivation oder anaklitische Depression. Im Gegensatz dazu sprechen wir heute über Probleme der frühkindlichen Verhaltensregulation (exzessives Schreien, Fütter- und Schlafprobleme), über psychosomatische oder neurotische Erkrankungen und nur noch selten von Hospitalismus oder emotionaler Deprivation.

Unabhängig von der Definition liegt bei allen diesen Störungsbildern dennoch eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit vor. Kindestötung möchte ich nur am Rande erwähnen, mit der Absicht darüber nachzudenken, wie diese schreckliche Form der Psychopathologie der Eltern und krimineller Handlung an Kindern verhindert werden könnte.

Eine seelische Störung liegt vor, wenn beispielsweise das Erleben wie die inneren Verhaltenszustände des Denkens und Fühlens, sowie das Verhalten des Kindes von der Norm abweichen oder wenn diese Abweichung zu einer Beeinträchtigung des Befindens führt. Eine Normabweichung psychischer Störungen kann hinsichtlich Alter, Geschlecht, gesellschaftlicher Erwartungen, Art, Dauer, Schweregrad und Häufigkeit des Symptoms entstehen. Beeinträchtigungen umfassen u.a.

  • Emotionalität (individuelle Leiden z.B. durch Ängstlichkeit, Aggression, Bindungsunsicherheit, Bindungsstörung)
  • soziale Komponenten (soziale Einengung, Isolation und Störung der sozialen Kontakte zu Geschwistern oder Gleichaltrigen)
  • Meilensteine der Entwicklung (Sprache, Motorik, Sauberkeitserziehung etc.)
  • frühkindliche Verhaltensregulation (exzessives Schreien/chronische Unruhe, Fütter- und Gedeihstörung, Schlafprobleme)

Risikofaktoren für ein Aufwachsen in seelischer Gesundheit

Risikofaktoren für ein Aufwachsen in seelischer Gesundheit können von Seiten des Kindes oder der Eltern sowie von gesellschaftlichen und Umweltfaktoren wie Sozialschicht, Armut oder mangelnden Unterstützungsmaßnahmen vorhanden sein. Die Ursachen seelischer Störungen lassen sich in der Regel nicht auf einen dieser Bereiche zurückführen, sondern auf das Zusammenwirken der einzelnen Risikofaktoren.

(1) Risikofaktoren von Seiten des Kindes

Biologische Risikofaktoren von Seiten des Kindes können u.a. Frühgeburt oder erbliche Komponenten wie z.B. frühkindlicher Autismus, Down-Syndrom, Tic-Störungen, hyperkinetische Störungen oder ein schwieriges Temperament sein. Kinder mit angeborenen Störungen sind in ihrem sozialen Umfeld stärker gefährdet, seelische Verletzungen zu erleiden, als Kinder ohne diese Probleme. Störungen der frühkindlichen Verhaltensregulation sind sowohl ein Zeichen von seelischer Beeinträchtigung als auch als ein Risikofaktor für eine seelische Störung zu interpretieren.

Maßnahmen: Angebote von Frühförderstellen, Autismus-Zentren, Selbsthilfegruppen, psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung als Leistungen der gesetzlichen und privaten Krankenkassen sowie der Jugendhilfe. Die psychotherapeutische Behandlung von Verhaltensregulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter erfolgt im Rahmen der Eltern-Säuglings-Beratung und -Therapie. Diese sehr effiziente Maßnahme der Frühprävention und Frühintervention wird in psychotherapeutischen Praxen, in Kinderkliniken und auch im sozialpädagogischen Kontext in der Erziehungs- und Familienberatung erfolgreich praktiziert.

(2) Risikofaktoren von Seiten der Eltern

Risikofaktoren von Seiten der Eltern können geringe elterliche Feinfühligkeit bzw. intuitives elterliches Verhalten sowie Störungen der Mutter-Kind-Interaktion und der Mutter-Kind-Bindung sein. Weiterhin spielen ungünstige psychosoziale Bedingungen eine Rolle, wie Arbeitslosigkeit, Armut, psychische und psychiatrische Belastungen der Mutter oder des Vaters, allein erziehende oder jugendliche Eltern. Auch Familien ausländischer Herkunft haben besondere Belastungen zu bewältigen.

Maßnahmen: An die Eltern adressierte Projekte wie z.B. das in Hamburg und Potsdam laufende Frühinterventionsprogramm für Eltern mit Risikokonstellation, das Heidelberger Präventionsprogramm für werdende Eltern „Das Baby verstehen” oder das Konzept der „Entwicklungspsychologischen Beratung für junge Eltern” als Maßnahme der Jugend- und Sozialhilfe. Alle diese Projekte haben das Ziel, den Aufbau einer sicheren Eltern-Kind-Bindungsbeziehung zu fördern und damit einen elementaren Schutzfaktor für die seelische Gesundheit im frühen Kindesalter zu sichern. Kinder mit psychisch oder psychiatrisch erkrankten Müttern sind besonders gefährdet, selbst psychisch zu erkranken. Daher ist eine frühzeitige Behandlung von Müttern gemeinsam mit ihren Säuglingen und Kleinkindern von besonderer Bedeutung. Immer mehr psychiatrische Kliniken bieten bundesweit stationäre Behandlung für psychisch schwer erkrankte Mütter und ihre Kleinkinder an. Auch hier stehen neben der psychiatrischen Behandlung der Mütter die Förderung der Mutter-Kind-Interaktion und der Aufbau einer sicheren Mutter-Kind-Bindung gleichberechtigt nebeneinander.

(3) Umweltbedingte Risikofaktoren

Zu den umweltbedingten Risikofaktoren gehören traumatische Früherfahrungen des Kindes durch: Verwahrlosung, Vernachlässigung, psychische, physische oder sexuelle Misshandlung sowie der Verlust primärer Bindungspersonen durch Tod. Auch Trennung und Scheidung der Eltern unter ungünstigen Bedingungen gehören hinzu. Dabei ist nicht die Trennung als solche für Kinder eine große psychische Belastung, sondern die Art und Weise, wie Eltern mit der Trennungssituation in ihrer elterlichen Verantwortung umgehen. Entscheidend ist u.a., ob die Eltern es schaffen, im Interesse und zum Wohl des Kindes auf der Elternebene zu handeln, oder ob sie das Kind instrumentalisieren, um emotionale Verletzungen auf der Paarebene zu kompensieren.

Maßnahmen: Am 1.10.2005 trat das Gesetz zur „Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe” (KICK) in Kraft. In diesem Zusammenhang wurde ein umfangreiches Handbuch für den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Jugendämter erstellt. Diese Handlungsanleitung soll Mitarbeiter des ASD dabei unterstützen, mehr Entscheidungskompetenz bei Kindeswohlgefährdung zu erlangen. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von Hilfsangeboten der Jugendhilfe, die vom betreuten Wohnen von Mutter und Kind bis hin zu Familienpflegestellen, Erziehungsstellen und Heimen für die Unterbringung von gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern reichen. Mit der kürzlich von der Deutschen Liga für das Kind zusammen mit dem Deutschen Kinderschutzbund und dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter herausgegebenen Broschüre „Wegweiser für den Umgang nach Trennung und Scheidung” werden Eltern informiert, wie sie den Umgang am Wohl des Kindes orientieren können.

Schutzfaktoren für ein Aufwachsen in seelischer Gesundheit

Nicht alle Kinder, die unter ungünstigen psychosozialen Bedingungen und vielfältigen Belastungen aufwachsen, entwickeln eine seelische Störung. Ergebnisse der Protektions- und Resilienzforschung, die sich mit der psychischen Widerstandsfähigkeit von Kindern befassen, weisen auf eine Reihe protektiver Faktoren hin, die ein Kind vor seelischen Erkrankungen schützen. Hierzu gehören u.a.

  • Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament des Kindes
  • Gute bis überdurchschnittliche Intelligenz
  • Selbstvertrauen und positives Selbstwertgefühl
  • Dauerhafte und emotional sichere Bindung zu mindestens einer primären Bezugsperson
  • Aufwachsen in einer Familie mit Entlastung der Mutter
  • Gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust
  • Soziale Förderung
  • Relativ geringe Risikogesamtbelastung

Eine besonders wichtige Bedeutung der Protektionsforschung liegt darin, dass sie den Weg für Präventions- und Interventionsprogramme bei gefährdeten Kindern und Jugendlichen geebnet hat. Ob allerdings die im frühesten Kindesalter gesetzten psychischen Beeinträchtigungen zu beheben sind, oder ob ungünstige Lebensbedingungen in den frühen Jahren zu späteren negativen Folgen führen, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aus der Trauma- und Adoptionsforschung ist bekannt, dass die Dauer, Intensität und die Gesamtumstände von traumatischen und ungünstigen Lebenserfahrungen eines Kindes die wesentliche Rolle dabei spielen, ob frühe schädigende Einflüsse bei einem später schützenden Milieu nur zu vermindern oder auch rückgängig zu machen sind.

Datenlage

Eine bundesweite repräsentative Untersuchung zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen existiert in Deutschland bisher nicht. Seit 2003 wird jedoch eine umfassende Studie zum Gesundheitszustand von Kindern zwischen 0 und 18 Jahren unter der Regie des Berliner Robert Koch-Instituts durchgeführt. Darin werden die psychische Gesundheit sowie die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen gesondert erfasst.

Allerdings existieren einzelne Studien und Schätzungen über psychische- und psychosomatische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sowie über Regulationsstörungen in der frühen Kindheit. Schätzungsweise sind ca. 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychisch auffällig und bei circa vier bis sechs Prozent besteht ein Behandlungsbedarf. Das Säuglings- und Kleinkindalter betreffend kann man sich vorrangig auf Angaben von internationalen Studien stützen, die davon ausgehen, dass 15 bis 29 Prozent aller gesunden Säuglinge von Störungen der Verhaltensregulation betroffen sind. Dabei liegt der Anteil der Säuglinge mit schwerwiegenden Symptomen vermutlich zwischen drei und zehn Prozent.

Die wachsenden Einsparungen im sozialen Bereich haben einen erheblichen negativen Einfluss auf die seelische Gesundheit von Säuglingen und Kleinkindern. Neben einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern kam es in den letzten Jahren zugleich zu einer Verschlechterung der Lebenssituation vor allem junger Kindern in psychosozial benachteiligten Familien. Seit Ende der 1980er Jahre ist z.B. ein dramatischer Anstieg junger Sozialhilfeempfänger festzustellen. Nach neuesten Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes leben 14,2 Prozent der Kinder bis zum 18. Lebensjahr in Armut.

Zusammenfassung

In einer Zeit wachsender Einsparungen im sozialen Bereich sowie politischer und ökonomischer Verunsicherung öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich und zwischen Chancen und Risiken für ein Aufwachsen in seelischer Gesundheit weiter. Insbesondere Kleinkinder in Benachteiligten- und Risikofamilien sind betroffen, psychisch und physisch zu erkranken. Das sollten wir nicht einfach hinnehmen, sondern etwas dagegen tun. Es gibt ja schon die zwei Welten der armen und reichen Kinder in Sachen Bildung. Die PISA Studie zeigt, dass es von der Bildungsschicht der Eltern und nicht von der Intelligenz abhängt, ob ein Kind in unserem Bildungssystems Erfolg hat oder scheitert.

Einer armen und reichen Kindheit auch in Bezug auf die seelische Gesundheit müssen wir aktiv entgegenwirken, indem wir gemeinsam Verantwortung übernehmen und handeln! Nur durch die gemeinsame Verantwortung der Familien- und Sozialpolitik, der Justiz, sowie der Wirtschaft und Wissenschaft können bessere Lebensbedingungen für junge Kinder erreicht werden. Hier leistet die Deutsche Liga für das Kind einen wichtigen Beitrag, indem sie durch Aufklärung und durch Integration auf die Bedeutung der ersten sechs Lebensjahre für die spätere Entwicklung aufmerksam macht und gesetzliche Maßnahmen zum Wohl junger Kinder bewirkt. Ähnliche Ziele verfolgt die Deutschsprachige Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH).

Vor dem Hintergrund von Globalisierung und europäischer Integration kann die seelische Gesundheit in der frühen Kindheit nicht nur im nationalen Kontext, sondern sie muss international betrachtet werden. Die geographischen Grenzen zwischen den Staaten der Europäischen Union sind gefallen. Dies bietet die Chance, die Lebenssituation von Familien mit jungen Kindern europaweit transparent zu machen und Möglichkeiten einer gegenseitigen Unterstützung herauszufinden. Unterstützung kann sich allerdings nicht allein auf materielle Faktoren beschränken, sondern muss auch emotionale und seelische Zustände von jungen Kindern einbeziehen. Es ist zu wünschen, dass das Ziel der Liga, die seelische Gesundheit von Kindern vor allem in den ersten Lebensjahren zu fördern und ihre Rechte und Entwicklungschancen in allen Lebensbereichen zu verbessern, von den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zum Wohle der heranwachsenden Generation mitgetragen wird.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Éva Hédervári-Heller ist Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Frankfurt (Main) und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind.

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