fK 5/03 Gerszonowicz

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bildung im Alltag – Erfahrungsmöglichkeiten in der Tagespflege

von Eveline Gerszonowicz

Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 22 in Verbindung mit § 24 KJHG) haben Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr an einen Rechtsanspruch auf Bildung im Kindergarten oder in einer Kindertageseinrichtung. Ein entsprechender Rechtsanspruch auf Bildung ist für Kleinkinder (0-3 Jahre) wie auch für ältere Kinder, die in einer Tagespflegestelle betreut werden, leider nicht explizit vorgesehen. Immerhin können Kinder in Tagespflegestellen eine – wie es in § 23 KJHG heißt – „Förderung ihrer Entwicklung“ erfahren. Dabei sind sich Wissenschaftler darin einig, dass Bildung spätestens mit der Geburt beginnt und einen lebenslangen Prozess darstellt.

Wie sieht Bildung in der Tagespflege aus?

In Tagespflegestellen findet sich ein vielfältiges Bildungsangebot insbesondere für Kleinkinder: Hier wird gemeinsam Alltag gelebt, Beziehungen werden aufgebaut und die unmittelbare Lebensumgebung, die Wohnung und das Wohnumfeld werden kennen gelernt.

Das Erleben eines strukturierten Tagesablaufs mit Aktions- und Ruhephasen schafft für Kinder Orientierung, Sicherheit und damit Grundvoraussetzungen dafür, dass sie weiter gehende Lernangebote wahrnehmen können. Auch eine Betreuung früh morgens, spät abends oder an Wochenenden und Feiertagen muss von Kindern in Tagespflege nicht als besondere Belastung erlebt werden, denn durch das gemeinsame Alltag-Leben verlieren solche besonderen Betreuungszeiten an Außergewöhnlichkeit. Die moderne Arbeitswelt verlangt es leider allen Beteiligten ab, sich mit Unregelmäßigkeiten zu arrangieren.

In der Regel wird auf gemeinsame Mahlzeiten wert gelegt ebenso wie auf die Beteiligung der Kinder an der Vorbereitung. So werden die Kinder gelegentlich zum Einkauf frischer Lebensmittel, z.B. auf einem Markt, mitgenommen. Dort und beim anschließenden gemeinsamen Zubereiten können die Kinder vielfältige Erfahrungen machen: Sie lernen Farben, Formen, Oberflächenstrukturen und die Beschaffenheit von Lebensmitteln zu unterscheiden und können den Prozess verfolgen, wie sich Lebensmittel durch Verarbeitung verändern. Sie helfen den Tisch zu decken, wieder abzuräumen und abzuwischen, damit anschließend wieder etwas Gemeinsames stattfinden kann. So werden quasi nebenbei alltägliche Handlungsabläufe gelernt und geübt, die für kleine Kinder Erfahrungen grundlegender Lebenszusammenhänge darstellen.

Um die Lerninhalte etwas konkreter zu analysieren, sollen die letztgenannten Handlungsabläufe beispielhaft genauer angesehen werden: Beim Tisch decken lassen sich Zahlen und Ordnungen feststellen – jeder bekommt einen Teller, einen Löffel, einen Becher. Die einzelnen Teile unterscheiden sich in Form, Material und Gewicht. Das Transportieren des Geschirrs stellt eine Anforderung an die Balance dar. Die Einsicht, dass jedes Kind Geschirr braucht, und das selbstverständliche Sorgen dafür fördert die Entwicklung des Sozialverhaltens. Das gemeinsame Abwischen des Tisches erfolgt in der Regel mit einem feuchten Tuch: die Eigenschaften von Wasser sowie die Gegensätze nass-trocken, schmutzig-sauber werden erlebt und die Anerkennung über eine vom Erwachsenen als „Hilfe“ gewürdigte ernsthafte Leistung stärkt das Selbstwertgefühl des Kindes.

Hier soll nun keinesfalls dafür geworben werden, die Kinder im Alltag nur einfach „mitlaufen“ zu lassen und ihnen keine speziellen pädagogischen Angebote zu machen! Im Gegenteil: Hier soll der Versuch unternommen werden dafür zu sensibilisieren, wie vielfältig Bildungsprozesse bei Kindern auch im häuslichen Umfeld sein können. Voraussetzung dafür ist, dass die Betreuungspersonen für die Nutzung vorhandener Möglichkeiten selbst ausreichend sensibilisiert sind, die Interessen der Kinder aufgreifen und diese in der Entwicklung ihrer individuellen Bildungsprozesse fördern.

Bindung: Voraussetzung für Bildung

Erkenntnisse aus Deprivationsforschung und Entwicklungspsychologie bestätigen, wie notwendig eine sichere Bindung für Kinder als Voraussetzung für Entwicklung und das Ermöglichen von Lernprozessen ist. In der Tagespflege wird das Kind in der Regel während des gesamten Aufenthalts von derselben Bezugsperson betreut. Die Tagesmutter begrüßt das Kind am Morgen und verabschiedet es am Nachmittag. Eine solche Möglichkeit einer konstanten Bezugsperson ist insbesondere für Kinder, deren Eltern ganztags oder unregelmäßig berufstätig sind, kaum anders als in der Tagespflege denkbar. Ergänzt wird diese Beziehungskontinuität durch eventuell weitere Mitglieder der Tagespflegefamilie (Partner der Tagesmutter, eigene Kinder), die den Kindern als zusätzliche Bezugspersonen mit ihren spezifischen Anregungen zur Verfügung stehen. Auch die anderen Tagespflegekinder dürfen in ihrer Bedeutung für das Kind nicht unterschätzt werden. Der kleine überschaubare Rahmen von zumeist drei bis fünf Kindern ermöglicht den Kindern soziale Erfahrungen und gibt gleichzeitig Orientierung. Eine (begrenzte) Auswahl an Spielpartnern ist möglich, Beziehungen untereinander können aufgebaut werden. Durch eine – nicht zu große – Altersmischung können sich geschwisterähnliche Konstellationen entwickeln und die Kinder haben die Möglichkeit, die Vorteile des Zusammenlebens mit Älteren bzw. Jüngeren zu genießen. In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung und die umfassende Möglichkeit der emotionalen Bildung in der Tagespflege hingewiesen, die neben der Diskussion um die intellektuelle Bildung nicht vernachlässigt werden darf.

In der Tagespflegestelle gibt es in der Regel keine Bauecke, Kuschelraum oder mit Sportgeräten ausgestatteten Toberaum. Aber es gibt Platz, wo gespielt und gebaut wird. Die Spielzeug-Eisenbahn verläuft dabei vielleicht unterm Tisch, an der Zimmerpalme beginnt der Urwald. Auf dem Sofa sitzen alle gemütlich beim Vorlesen – Kuscheln inklusive. Ein Kindertisch zum Draufklettern und Matratzen zum Runterspringen ermöglichen Kleinkindern auch drinnen Bewegung und Aktion. Die Kinder lernen Treppen hinauf- und hinabzugehen oder eine Haushaltsleiter zu erklimmen, auch ohne aufwändig gestaltete Podestlandschaften. Regelmäßige Spaziergänge in der Umgebung ermöglichen vielfältige Umwelterfahrungen.

Wie können Bildungsprozesse ermöglicht werden?

Eine wesentliche Voraussetzung für das Ausschöpfen der Bildungsmöglichkeiten in Tagespflegestellen ist – neben einer sicheren und kindgerechten Ausstattung – die Fähigkeit der Tagespflegeperson, bewusst das Entwickeln vielfältiger Lernprozesse zuzulassen. Sie muss in der Lage sein, die jeweiligen Interessen der Kinder zu erkennen und zu fördern, ihrem Forscherdrang Raum zu geben, Erfahrungen zu ermöglichen und zusätzliche Materialen zur Verfügung zu stellen. Wenn das Kind z.B. gerade Erfahrungen mit dem Element Wasser machen möchte, ist das unter Umständen nur in der Badewanne möglich. Studien zu Fließeigenschaften und Oberflächenspannung lassen sich dort mit Hilfe von Gefäßen unterschiedlicher Form und Größe, wie sie in jeder Küche zu finden sind, hervorragend durchführen. Veränderung von Materialien im Wasser wie z.B. Stoff oder Papier können beobachtet werden. Auch das Experimentieren mit Fingerfarben ist in der Badewanne häufig stressfreier als in der übrigen Wohnung.

Die meisten Tagesmütter verfügen nicht über eine pädagogische Ausbildung. Ihnen sollte ein umfangreiches Fortbildungsangebot zur Verfügung stehen, um

  • Sensibilität für kindliche Bildungsprozesse zu fördern
  • Ergebnisse der Entwicklungspsychologie zu vermitteln
  • Beobachtungsfähigkeiten zu schärfen
  • Anregungen zur Bildungsförderung von Kindern zu geben

Kindern in der häuslichen Umgebung pädagogische Angebote zu machen stellt auch für ausgebildete Erzieher(innen) eine Herausforderung dar, die bei entsprechender Förderung sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene interessant und lehrreich sein kann.

Dr. Eveline Gerszonowicz ist Diplom-Pädagogin und Leiterin des Fachbereichs Tagespflege bei der Familien für Kinder gGmbH in Berlin

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