fK 4/04 Largo

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Durchschlafen – Entwicklungsaufgabe im ersten Lebensjahr

von C. Benz und Remo H. Largo

Das Kind erbringt im ersten Lebensjahr grosse Anpassungsleistungen; eine davon betrifft seinen Schlaf. Es bewältigt die folgenden drei Aufgaben: Es passt seine Schlaf-Wachphasen dem Tag-Nacht-Wechsel an und bringt einen Rhythmus in seine Wach-Schlaf-Aktivitäten. Es lernt mehr als vier Stunden am Stück zu schlafen, und es zeigt erste Autonomiebestrebungen durch selbstständiges Einschlafen. Diese Aufgaben werden von den Kindern unterschiedlich rasch bewältigt. Wie in allen Entwicklungsbereichen besteht auch im Schlafverhalten eine grosse Vielfalt unter den Kindern.

Es erstaunt nicht, dass die Kinder diese Entwicklungsaufgaben nicht problemlos meistern. Schlafstörungen gehören zu den häufigsten Verhaltensauffälligkeiten im Säuglingsalter. Das Anliegen der Beratung sollte sein, den Eltern zu helfen, das Kind bei seinen Entwicklungsaufgaben zu unterstützen. Die Eltern und andere Betreuungspersonen sollten sich möglichst unvoreingenommen auf die Bedürfnisse des Kindes einstellen, damit das Kind sich seinen individuellen Eigenheiten entsprechend entwickeln kann.

Der Rhythmus als Grundstein für das Durchschlafen

In den ersten Lebenswochen reifen die zerebralen Strukturen, die dem jungen Kind das Durchschlafen ermöglichen. Sie passen ihre Rhythmen den wichtigsten Zeitgebern Licht und soziale Ereignisse (Ernährung, Pflege, Spiel, soziale Kontakte) an. Diese Entwicklung verläuft je nach Kind unterschiedlich schnell. Viele Säuglinge haben einen starken inneren Drang zur Regelmässigkeit. Der Ablauf ihres Trinkverhaltens, Einschlafens und Aufwachens gleicht nach einigen Lebenswochen einem Uhrwerk. Andere Kinder melden ihre Hunger- und Schlafbedürfnisse über Monate zu immer anderen Tages- und Nachtzeiten an. Es gelingt ihnen nicht, ohne die Hilfe der Eltern eine Konstanz in ihr Schlaf-Wachverhalten zu bringen. Damit verbunden sind oft hartnäckige Durchschlafstörungen und ein vermehrtes Quengeln am Tag.

Regelmässigkeit hilft dem Kind aber, mit dem Tagesablauf rascher vertraut zu werden, was sich wiederum positiv auf sein Wohlbefinden auswirkt. Regelmässige Abläufe helfen auch der (unerfahrenen) Mutter, ihr Kind besser zu lesen. Das Rhythmisieren des Tagesablaufes ist der erste Baustein auf dem Weg zu ruhigen Nächten.

Wie viel Schlaf brauchen Säuglinge?

Der Schlafbedarf ist in jedem Alter und von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Die meisten Erwachsenen brauchen zwischen sieben und neun Stunden Schlaf, um leistungsfähig zu sein. Es gibt aber auch solche, die mit vier Stunden auskommen, oder andere, die zehn Stunden Schlaf brauchen.

Die meisten jungen Säuglinge schlafen 14 bis 18 Stunden pro Tag. Einige kommen mit 12 bis 14 Stunden aus, andere schlafen bis zu 20 Stunden pro Tag. Weil der Schlafbedarf unter gleichaltrigen Kindern so unterschiedlich ist, gibt es keine Regel, die angeben könnte, wie viel Schlaf ein Kind in einem bestimmten Alter benötigt. Für jedes Alter gilt aber: Ein Kind kann nur so viel schlafen, wie es seinem Schlafbedarf entspricht. Muss es mehr Zeit im Bett verbringen, kann es auf verschiedene Weise reagieren: Es kann am Abend nicht einschlafen, wacht morgens sehr früh auf oder es ist nachts mehrmals für längere Zeit wach.

In den ersten Lebenswochen sind die Dauer des Tagschlafes und diejenige des Nachtschlafes etwa gleich gross. Mit der Anpassung an den Tag-Nacht-Wechsel kommt es zu folgender Umverteilung der Schlafphasen: Der Nachtschlaf nimmt immer mehr zu, während der Tagschlaf immer kürzer ausfällt. Mit etwa sechs Monaten ist diese Umverteilung im Wesentlichen abgeschlossen.

Wie oft und wie lange das einzelne Kind tagsüber schlafen soll, hängt von seinen biologischen Vorgaben und vom Erziehungsstil der Eltern ab. Kinder sollen tagsüber so viel schlafen können, dass sie im Wachzustand zufrieden und an ihrer Umgebung interessiert sind. Kinder, die tagsüber zu wenig schlafen, werden quengelig und sind lustlos in ihrem Spiel. Gelegentlich schlafen sie beim Spielen unversehens ein.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Schlafbedarf eine feste Grösse ist, die sich nicht verändern lässt, bedingen sich die Dauer des Tag- und Nachtschlafes gegenseitig. Das heisst, je länger ein Kind tagsüber schläft, desto weniger schläft es nachts und umgekehrt. Auch Einschlaf- und Aufwachzeiten verhalten sich entgegengesetzt. Ein Kind, das abends früh einschläft, wird morgens früh aufwachen und umgekehrt.

Durch das Führen eines Schlafprotokolls während 10 bis 14 Tagen kann der persönliche Schlafbedarf des Kindes ermittelt und die Verweildauer im Bett dem Schlafbedürfnis angepasst werden (vgl. Fallbeispiel Isabel, 10 Monate). Die Umstellung an den neuen Schlafplan erfolgt über einen Zeitraum von 7-14 Tagen.

Isabel, 10 Monate alt

Die Eltern der 10-monatigen Isabel suchen Rat in der Schlafsprechstunde, weil das Mädchen jede Nacht mehrmals aufwacht und für längere Zeit wach ist.

Diese Wachphasen sind auf dem Protokoll als Wellenlinien gekennzeichnet. Um den effektiven Schlafbedarf von Isabel zu bestimmen, werden die Schlafzeiten (ausgezogene Linien) zusammengezählt und gemittelt. Isabels Schlafbedarf liegt bei 13 Stunden. Die Eltern bestimmen, wie oft und wie lange das Kind am Tag schlafen soll. Diese Zeit wird von der Gesamtschlafzeit abgezogen, und es bleibt die Zeit, die das Kind nachts im Bett verbringen soll. Am Morgen wird das Kind zum festgelegten Zeitpunkt geweckt.

Während der Umstellung wird Isabel tagsüber müde und schlecht gelaunt sein. Dies müssen die Eltern wissen, sonst werden sie die neuen Massnahmen zu früh und ohne Erfolg beenden.
Einen Monat später schläft Isabel zumeist durch.

Das Anpassen der Bettzeit an den individuellen Schlafbedarf ist der zweite Baustein auf dem Weg zu ruhigen Nächten. Unsere Erfahrungen in der Schlafsprechstunde liessen vermuten, dass Kinder mit geringerem Schlafbedarf häufiger Schlafstörungen aufweisen, weil die Eltern dazu neigen, von einem zu hohen Bedarf auszugehen. Dieser Eindruck liess sich anhand der Daten der Zürcher Longitudinalstudien bestätigen. Kinder mit geringem individuellem Schlafbedarf erwachen nachts häufiger, liegen abends länger wach und zeigen auch mehr Widerstand beim Zu-Bett-Gehen.

Selbständiges Einschlafen

Mehrmaliges nächtliches Aufwachen gehört in jedem Lebensalter zum normalen Schlafverhalten. Erst wenn die Kinder nicht selbständig wieder einschlafen können, werden die Eltern in ihrer Nachtruhe gestört. Kinder, die abends nicht alleine einschlafen können, gelingt dies verständlicherweise auch nachts weit weniger als Kindern, die abends dazu in der Lage sind. Schläft das Kind abends an der Brust der Mutter ein, wird es, wenn es nachts aufwacht, nach der Mutter rufen, weil es ihre Brust, das Gehalten-und-Gewiegt-Werden braucht, um wieder einzuschlafen. Das Kind, das abends alleine einschläft, findet auch nachts den Schlaf selbständig wieder.

Um den Kindern das selbständige Einschlafen zu erleichtern, ist ein Einschlafritual nützlich. Damit sind die abendlichen Aktivitäten gemeint, die sich vor dem (erhofften) Einschlafen abspielen. Warum ist die Art und Weise, wie die Eltern das Kind zu Bett bringen, so wichtig? Im Verlaufe des ersten Lebensjahres bildet sich ein Erinnerungsvermögen aus. Spielen sich die abendlichen Aktivitäten immer in der gleichen Reihenfolge ab, dann führen sie ab einem bestimmten Alter das Kind zum Schlafen hin. Läuft aber jeder Abend für das Kind anders ab, kann es keine Erwartungen entwickeln. Es weiss nie, wann Schlafenszeit ist. Jeden Abend wird es – für sein Empfinden nicht voraussehbar und überraschend – ins Bettchen gelegt und soll auf Kommando einschlafen.

Bereits das neugeborene Kind verfügt über gewisse, wenn auch beschränkte Fähigkeiten, sich selber zu beruhigen und selbständig einzuschlafen. So saugt das Neugeborene an seinen Händchen und räkelt sich, bis es den Schlaf findet. Diese Fähigkeiten entwickeln sich in den ersten Lebensmonaten rasch weiter, sind aber unter den Kindern verschieden ausgeprägt. Manche Kinder finden bereits in den ersten Lebensmonaten den Schlaf problemlos selber, andere sind während längerer Zeit mindestens zeitweise auf die Hilfe der Eltern angewiesen. Ob das Kind die Fähigkeiten, sich selber zu beruhigen, entwickeln kann, hängt nicht nur vom Entwicklungsstand und den Eigenheiten des Kindes, sondern ganz wesentlich auch vom Verhalten der Eltern ab.

Stellen wir uns zwei unterschiedliche mütterliche Verhaltensweisen vor: Ein Kind wird jeden Abend herumgetragen, bis es einschläft, und dann erst vorsichtig ins Bettchen gelegt. Nach einer gewissen Zeit verbindet es Einschlafen mit Herumgetragenwerden. Die Nähe der Mutter ist ein fester Bestandteil des Einschlafrituals geworden. Das Kind kann nur im engen körperlichen Kontakt mit der Mutter einschlafen. Ein anderes Kind wird wach zu Bett gelegt. Die Mutter sitzt am Bettchen. Wenn das Kind zu schreien anfängt, unruhig ist und nicht einschlafen kann, spricht die Mutter leise zu ihm, streichelt ihm über sein Köpfchen und hält seine Händchen. Die Mutter bestärkt ihr Kind in seinem Bemühen, den Schlaf selber zu finden. So wird es von Woche zu Woche selbständiger, bis es schliesslich so weit ist, dass es ohne die mütterliche Hilfe einschlafen kann.

Zwischen den beiden oben genannten Verhaltensweisen gibt es einen grossen Spielraum, den die Eltern entsprechend den Eigenheiten des Kindes und ihren eigenen Erziehungsvorstellungen gestalten können. Dabei sollten Eltern Folgendes bedenken: Eine grosse und beständige körperliche Nähe über die ersten Lebensmonaten hinaus wird für das Kind zu einer Gewohnheit. Sie dürfen nicht erwarten, dass das Kind in einem bestimmten Alter spontan nicht mehr nach der ständigen Anwesenheit der Eltern verlangen wird.

Mirjam, 12 Monate

Mirjam kann seit ihrer Geburt nur in den Armen der Mutter oder des Vaters einschlafen. Nachts wird sie immer wieder wach, schreit und will herumgetragen werden. Als erste Massnahme wird der Tagesablauf strukturiert, anschliessend die Bettzeit dem Schlafbedarf angepasst. Die nächtlichen Schreiphasen verringern sich. Dies stärkt die Kompetenz der Eltern. In einem weiteren Schritt verändern sie das Einschlafsetting. Das Kind wird wach ins Bettchen gelegt. Die Mutter bleibt auf einem Stuhl neben dem Bettchen sitzen. Sie tröstet das weinende Kind, nimmt es aber nicht mehr aus dem Bett. Sobald das Kind ihr neues Verhalten akzeptiert, rückt die Mutter den Stuhl weiter weg, bis sie schliesslich das Kinderzimmer verlassen kann.

Festgefahrene Einschlafgewohnheiten zu ändern setzt eine konsequente Erziehungshaltung über mindestens zwei bis vier Wochen voraus. Wir empfehlen ein schrittweises Vorgehen, um Kind und Eltern an ein neues Einschlafverhalten heranzuführen (graduelle Annäherung). Auf diese Weise können die Frustrationen für das Kind und die emotionale Belastung für die Eltern gering gehalten werden. Je nachdem wie eng die Eltern-Kind-Beziehung beim Einschlafen ist und wie rasch das Kind eine Änderung zulässt, wird es früher oder später lernen, selbständig einzuschlafen.

Das stufenweise Vorgehen über das Einführen eines geregelten Tagesablaufes (Rhythmusregulation), das Anpassen der Bettzeit an den individuellen Schlafbedarf und das Verändern von Einschlafgewohnheiten hat sich in unserer Sprechstunde bewährt. Je nach Familie und Situation sind Modifikationen angebracht.

Bei kleinen Säuglingen in den ersten Lebensmonaten beschränken wir uns darauf, die Eltern auf die Bedeutung eines regelmässigen Rhythmus hinzuweisen. Nach dem sechsten Lebensmonat werden zusätzlich das Anpassen der Bettzeit an den individuellen Schlafbedarf und die Fähigkeit, selbstständig einzuschlafen, thematisiert.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Caroline Benz ist Oberärztin in der Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals in Zürich

Prof. Dr. Remo H. Largo ist Leiter der Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals in Zürich

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