fK 1/06 Uslucan

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Chancen von Migration

Migration als Entfaltungspotenzial für Familien

von Haci-Halil Uslucan

Der Diskurs um Migration ist weitgehend von einem Defizit- und Konfliktdenken geprägt. Migranten gelten nicht zu Unrecht als eine besondere Risikogruppe. Studien zeigen eine deutlich höhere Stressbelastung und Krankheitsanfälligkeit von Migranten gegenüber der deutschen Bevölkerung. Gemessen an den kritischen, stressverursachenden Lebensereignissen sind Migranten schätzungsweise 20-mal mehr belastet als die einheimische Bevölkerung. Andere Studien verweisen auf eine im Durchschnitt zehn Jahre früher einsetzende Invalidität bei Migranten gegenüber deutschen Arbeitnehmern. Im Bildungs- und Schulbereich wird vielfach auf die prekäre Situation der Schüler mit Migrationshintergrund verwiesen. Verschwiegen oder vergessen wird dabei, dass die überwiegende Mehrzahl der Migranten ihren Alltag zur Zufriedenheit gestaltet und weder mit Gewalt und Devianz, noch mit Pathologien auffällig wird. Auch stellt eine Migration nicht generell ein Entwurzelungsrisiko und Verlust von Heimat dar. Für eine Vielzahl von Migranten ist die einst fremde Heimat zur neuen und einzigen geworden.

Trotz der nicht zu verleugnenden Problemlagen wird die Aufmerksamkeit bislang kaum auf die Chancen einer Migration gelegt, und zwar sowohl für Migranten als auch für die Aufnahmegesellschaft. Um diese Chancen soll es in diesem Beitrag gehen. Dabei werde ich mit den Chancen, die sich für die Aufnahmegesellschaft ergeben, beginnen und dann auf exemplarische Themen wie Bikulturalität, Bilingualität und Interkulturelle Erziehung eingehen. Abschließend werden Aspekte zusammengetragen, die eine Integration von Migranten in die Mehrheitsgesellschaft erleichtern bzw. fördern können.

Chancen der Migration für die Aufnahmegesellschaft
Schon immer ging kulturhistorisch von dem Fremden eine ambivalente Ausstrahlung aus. Einerseits erschien darin eine Verlockung, ein Aufbruch aus den eigenen belastenden Gewohnheiten und Alltagsroutinen: der Fremde erschien als Bereicherung, als Anregung und als spannungserzeugend. Andererseits war der Fremde stets auch Sinnbild von Bedrohung und Gefahr. Der Fremde war potentiell der Feind, der angsterzeugend erlebt wurde. Das lateinische Wort „hostis“, das sowohl als Gastfreund wie auch als Feind übersetzt werden kann und von dem sich die englischen Ausdrücke „host“ (Gastgeber) und „hostile“ (feindselig) ableiten, verweist eindringlich auf diesen Zusammenhang.

Demgegenüber ist Mobilität in der Moderne ein positiv besetzter Begriff. In diesem Sinne sind Migranten eine äußerst mobile Population. Veränderungen durch Migrationsbewegungen sind in Deutschland nicht nur auf einer visuellen und demographischen Ebene, und zwar durch eine Zunahme der ausländischen Bevölkerungsanteile bemerkbar, sondern hinterlassen Spuren auch auf einer mentalen Ebene: Mehr und mehr werden Bewusstseinsprozesse ausgelöst, welche die Fragen der kulturellen Vielfalt und der kulturellen Identität thematisieren. Einer dieser Reflexionsprozesse betrifft die Frage, ob die Bundesrepublik sich als eine „Einwanderungsgesellschaft“, als eine multikulturelle Gesellschaft etc. definiert oder nicht, und ob diese Begriffe erst eine Zukunftsvision bezeichnen, oder aber begrifflicher Ausdruck bereits gelebter Realitäten darstellen. Denn gerade der Begriff der multikulturellen Gesellschaft kann die Bezeichnung eines Faktums, eines Programms oder gar einer Utopie sein.

Unabhängig vom Ausgang dieser Frage kann konstatiert werden, dass Minoritäten entscheidende Beiträge zu einer kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt und zum sozialen Wandel leisten. Diese Beiträge beschränken sich nicht nur auf das ursprüngliche Anwerbemotiv als billige Arbeitskräfte für die hiesige Wirtschaft, die Einführung neuer Küchen, Sitten und Lebensstile etc., sondern sie betreffen auch die kognitiven Bereiche wie Qualität und Vielfalt von Entscheidungsprozessen. So konnte gezeigt werden, dass eine Berücksichtigung der Minoritätenperspektive bei einer auf geistige Flexibilität abzielenden Aufgabenstellung zu einem insgesamt verbesserten und kreativen Denken führt. Die theoretische Ausgangsannahme hierbei bildet die Überlegung, dass bei einer demographischen Vielfältigkeit, in der verschiedene Meinungen vorhanden sind und geäußert werden, auch die Wahrscheinlichkeit steigt, die richtige Lösung zu finden. Dagegen ist die Gefahr eines konvergenten, eines einander angeglichenen Denkens, innerhalb einer Majorität recht groß, da von der Majorität abweichende Meinungen Stress erzeugen.

Migration als Entwicklungschance
Migration hat eine Katalysatorfunktion, d.h. Migranten können das Entwicklungsgefälle zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland überbrücken, sie können aber auch zur Konservierung alter Werte und zur Ausbildung einer Defensivkultur in der Migrationssituation führen. Es ist wesentlich einfacher, über Risiken und defizitäre Entwicklungen einer Migration zu reden als ihre Chancen zu erkennen und Entwicklungspotentiale der Migrationssituation wahrzunehmen. Viel zu selten wird thematisiert, dass künstlerisch-intellektuelle Kreativität u.a. aus der Spannung zwischen den Kulturen resultiert. Gerade eine Migration ist vielfach mit dem Ziel angetreten worden, sich im weitestgehenden Sinn des Wortes zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, sei es in ökonomischer, bildungsmäßiger, beruflicher oder familiärer Hinsicht. Betrachtet man zum Beispiel den Bildungshintergrund der ersten und zweiten Generation von Migranten, so lässt sich ein deutliches Ungleichgewicht feststellen. Während die Mehrzahl in der Elterngeneration insbesondere der türkischen Migranten nur eine fünfjährige Schulbildung aufwies, erlebte die nachkommende Generation im Aufnahmeland eine Verlängerung der Schulzeit auf mindestens neun bis zehn Jahre und damit auf ein historisch bislang nicht gekanntes Maß. Dies übertrifft auch die seit 1998 eingeleitete Aufstockung der Schulpflicht auf acht Jahre im Herkunftsland Türkei.

Bikulturelle Identität
Von Geburt an beginnen Migrantenkinder, in mindestens zwei kulturellen Bezügen zu denken und sich geistig alternative Handlungsoptionen vorzustellen. In der Adoleszenz haben sie neben der allgemeinen Entwicklungsaufgabe, eine angemessene Identität und ein kohärentes Selbst zu entwickeln, sich auch noch mit der Frage der Zugehörigkeit zu einer Minderheit auseinander zu setzen und eine „ethnische Identität“ auszubilden. Generell steht die Identitätsentwicklung vor der Grundspannung, einerseits der biographischen Dimension folgend, einzigartig zu sein und keinem anderen zu gleichen, so zu sein, wie kein anderer, andererseits der sozialen Dimension folgend, den gemeinsamen Werten und Normen zu gehorchen und so zu sein wie alle. Für Migrantenkinder spannt sich hier eine zusätzliche Dimension auf: So zu sein bzw. sein zu müssen, wie es die Anforderungen und Erwartungen des eigenkulturellen Kontextes vorgeben.

Eine gelungene Identitätsbildung muss die Balance zwischen diesen drei Anforderungen herstellen, also auch deutlich stärkere Rollendistanzierungen vornehmen und eine größere Ambiguitätstoleranz entwickeln. Migranten befinden sich in einer doppelt reflexiven Position und entwickeln eine kritische Distanz sowohl zu eigenkulturellen wie auch zu mehrheitskulturellen Normen. Daraus erwachsen nicht nur Belastungen, sondern auch eine deutlich selbstbewusstere Identität, da sich die Fähigkeit zur Rollendistanz stärker ausbilden kann. Ferner sind Migranten in ihrem Alltag häufiger als Einheimische mit Situationen konfrontiert, in denen Ambiguitätstoleranz gefordert wird, weil eine Unvereinbarkeit von unterschiedlichen kulturellen Zielen und Anforderungen erkannt wird. Insofern kann eine Erhöhung der Ambiguitätstoleranz als eine Ressource der Bikulturalität betrachtet werden, weil dadurch Subjekte bemächtigt werden, „in vielen Traditionen zu Hause“ zu sein und ein flexibles Selbst zu entwickeln, das unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden kann.

Bilingualismus
Für Migranten bietet sich mit einer auf Dauer angelegten Migration die einmalige Chance, in einem natürlichen Kontext bilingual aufzuwachsen bzw. ein bilinguales Leben zu führen. Dabei ist mit Bilingualismus nicht nur die Fähigkeit gemeint, sich in zwei Sprachen verständlich zu machen bzw. zwei Sprachen zu beherrschen, sondern auch die Fähigkeit des Individuums, sich mit den beiden beteiligten Sprachgruppen zu identifizieren. Die Chancen, die sich durch Bilingualismus ergeben, sind nicht auf Wortschöpfungen begrenzt, die durch Code-Switching entstehen, nur den bikulturell Sicheren zugänglich sind und eine offensichtliche Form der Bereicherung darstellen, die der monolingualen Mehrheits- wie auch der Minderheitskultur entgeht, sondern mit Bilingualismus gehen auch gut belegte und nachvollziehbare kognitive Potentiale einher. So zeigen eine Reihe von empirischen Studien, dass bilinguale Personen sowohl im Bereich der allgemeinen Intelligenz als auch in den kognitiven Stilen und den metalinguistischen Fähigkeiten sich monolingualen überlegen erweisen. Bilingual erzogene Kinder neigen weniger dazu, Begriff und Referent zu verwechseln, d.h. die Differenz zwischen Wort und Gegenstand ist ihnen eher gegenwärtig, weil sie durch ihre Zweisprachigkeit eher eine gewisse Distanz zu der eigenen und der erworbenen Sprache entwickeln und erkennen, dass sprachliche Symbole für die Bezeichnung von Gegenständen auswechselbar sind.
Empirische Studien zum Zweitspracherwerb zeigen, dass diese phonologisch dann korrekt erworben wird, wenn mit ihrer Aneignung vor dem Alter von elf Jahren begonnen wird. Bei dieser Konstellation ist eher ein akzentfreier Erwerb zu erwarten, was die Voraussetzung einer gelungenen sprachlichen Integration darstellt. Im Alter von 11 bis 15 Jahren war häufiger ein Akzent anzutreffen und beim Zweitspracherwerb nach dem Alter von 15 Jahren waren Akzente die Regel. Daraus kann abgeleitet werden, dass zumindest ein Spracherwerb im frühen Alter die beste Voraussetzung einer Integration darstellt.

Interkulturelle Erziehung
Seit Beginn der 1980er Jahre findet ein verstärkter Diskurs um interkulturelle oder multikulturelle Erziehung in der Pädagogik statt. Bis dahin dominierte eine Sonderpädagogik bzw. Ausländerpädagogik mit dem Ziel, ausländische Kinder in das deutsche Schul- und Bildungssystem einzugliedern und ihre Defizite zu beheben. Die Chancen jedoch, die sich aus dieser historisch-gesellschaftlichen Migrationssituation sowohl für Mehrheiten wie für Minderheiten ergaben, wurden kaum berücksichtigt. So könnte ein konsequenter Bilingualismus von Migrantenkindern, die Möglichkeit also, dass sie sowohl die Verkehrssprache als auch ihre eigene Sprache sprechen können, auch deutsche Kinder mit der Tatsache verschiedener Sprachen vertraut machen und ihnen nicht nur im gesteuerten Fremdsprachenunterricht, sondern auch im sozialen Alltag die Möglichkeit geben, metalinguale Kompetenzen, ein Nachdenken über die eigene Sprachverwendung, zu entwickeln.

Sollen die Chancen der Migration wahrgenommen werden, darf also interkulturelle Erziehung nicht als eine Sonderpädagogik für Gruppen anderer Nationalitäten verstanden werden und zu einer weiteren Gruppenbildung führen, sondern muss als eine Pädagogik für alle konzipiert sein, in der die Fähigkeiten für das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft gelernt werden. Interkulturelle Erziehung kann gelingen, wenn anerkannt wird, wie Migrantenkinder in die Wert- und Normvorstellungen ihres Alltages eingebunden sind und sich in „lebensweltlichen Verstrickungen“ befinden. Hierfür gilt es aber zunächst, sich der Verwobenheit in eigenkulturelle Denkmuster und Vorgaben bewusst zu werden, eventuell diese zu überdenken oder kritisch zu hinterfragen. Ein Verstehen fremdkultureller Bezugssysteme ist ohne eine Reflexion der eigenen Orientierungssysteme kaum durchführbar. Eine als Chance betrachtete qualifizierte interkulturelle Erziehung sollte die Dimensionen des Bilingualismus und der Bikulturalität ernst nehmen und dabei folgenden Ansprüchen genügen:

(1) Es sollte ein gezielter Zweitspracherwerb durchgeführt werden, bei dem vornehmlich die Migranteneltern stärker mit in die Erziehungsarbeit einbezogen werden, damit sie nicht das Gefühl bekommen, ihre Kinder werden ihnen entfremdet. (2) Es sollten systematische Erzieher- und Lehrerfortbildungen durchgeführt werden, in denen verstärkte Kenntnisse über andere Kulturen vermittelt und wechselseitig bestehende Vorurteile aufgegriffen und bearbeitet werden, um so einen verständnisvollen und fairen Umgang im Alltag zu ermöglichen.

Wenn Migranten bzw. deren Kinder das Gefühl vermittelt bekommen, dass auch das Eigene wertgeschätzt wird, können sie sich eher auf das Neue und Unbekannte einlassen. Im günstigen Falle erweist sich eine durch konsequente interkulturelle Erziehung erworbene bikulturelle Identität nicht nur inhaltlich reicher (z. B. durch eine konsequente Zweisprachigkeit der Erziehung) sondern auch gefestigter in der Persönlichkeit, weil die Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und zu ertragen) gesteigert wird. Diese Fähigkeit wird im Rahmen einer interkulturellen Erziehung auch bei deutschen Kindern angeregt. Denn auch sie müssen lernen, mit Differenzen umzugehen und sich mit Neugier statt Angst auf Fremdes einzulassen.

Aspekte gelingender Integration
Für eine gelingende Integration ist die Frage wichtig, von wem die Entscheidung ausging, das eigene Land zu verlassen und nach Deutschland zu kommen: Vom Individuum selbst, vom Partner, von den Eltern? Je nach dem, wie stark der Einzelne in die Migrationsentscheidung eingebunden war, ist auch mit unterschiedlicher Verantwortungsübernahme für den Erfolg der Migration zu rechnen. So kann zum Beispiel eine unfreiwillige Migration etwa als Jugendlicher als ein Hinweis auf eine starke hierarchische Familienform gedeutet werden, was eine Integration erschwert, während die Freiwilligkeit der Migration Offenheit für neue Erfahrungen signalisiert. Aber auch eine unfreiwillige Migration etwa als Flüchtling kann Schwierigkeiten bereiten, weil eine Vorbereitung im eigenen Land in der Regel fehlte.

Ferner sind personale Ressourcen wie eine hohe Schulbildung im eigenen Land, soziale Kompetenzen, optimistische Überzeugungen und eine eher geringe traditionale Orientierung günstig für Migrationssituationen. Als eine weitere entscheidende Variable gelingender Akkulturation erweist sich das Einreisealter: Je jünger die eingereisten Migranten sind, desto einfacher scheint ihre Integration zu sein, während mit zunehmendem Alter eine „closed mindedness“ einhergeht, die es erschwert, das eigene Überzeugungssystem derart flexibel zu gestalten, dass es neue Informationen und Einstellungen in das eigene Denksystem integrieren kann.

Trotz der Notwendigkeit, die unterschiedlichen Migrantengruppen je einzeln zu betrachten, lässt sich als eine Gemeinsamkeit festhalten, dass Migranten eine hochselektive und mobile Gruppe darstellen, die es wagte, als Pioniere (bzw. in der Kettenmigration) in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr Land zu verlassen und Mut genug bewiesen hat, die Herausforderung der kulturellen und sprachlichen Fremdheit auf sich zu nehmen. Dadurch stehen sie vor Entwicklungsaufgaben, die anspruchsvoller sind sowohl als diejenigen der im Herkunftsland verbliebenen als auch die der Mehrheitskultur und die es verdienen, besonders gewürdigt zu werden.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Haci-Halil Uslucan ist Mitarbeiter der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie am Institut für Psychologie I der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

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