fK 1/06 Anane

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bewegt in die Zukunft

Nachhaltige Mobilitätsbildung im Kindergarten

von Katharina Anane

Mobilität (lateinisch: „mobilitas“) bedeutet ursprünglich Beweglichkeit oder Schnelligkeit und beschreibt eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen. Die meisten Kinder fahren gerne Fahrrad oder Tretroller. Dazu macht das Pädagogische Projekt Mobilität (PPM) im Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) Bayern e.V. verschiedene Angebote. Natürlich kümmert sich das PPM auch um Kinder, die zu Fuß gehen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Hierfür geht das PPM in Kindergärten und Schulen in München, wendet sich in Veranstaltungen an Eltern und Multiplikatoren und konzipiert und veranstaltet Fachtagungen. Zudem interessiert das PPM, mit welchen Schwierigkeiten Kinder und Jugendliche konfrontiert sind, wenn sie in den Kindergarten, in die Schule oder zu ihren Freunden gehen wollen und wie diese Probleme gelöst werden können. Das PPM unterstützt Kinder und Jugendliche, die heutige Verkehrssituation zu verbessern und vermittelt den Spaß am Fahrrad fahren und an der Bewegung überhaupt.

Anlass für das Projekt „Nachhaltige Mobilitätsbildung im Kindergarten“ waren Anfragen von Erzieher(inne)n und Eltern nach einem Fahrradtraining für Kinder im Kindergarten. Das Pädagogische Projekt Mobilität, kurz PPM, stand nun vor dem Problem, dass die meisten Kinder zwar schon im Alter von drei Jahren mit einem Rädchen fahren, Fachleute jedoch vom Fahrrad fahren vor dem sechsten Lebensjahr abraten. Um auf diesen Umstand zu reagieren, hat das PPM 1995 das Konzept „Nachhaltige Mobilitätsbildung im Kindergarten“ entwickelt, das seitdem in durchschnittlich 40 bis 50 Kindergartengruppen pro Jahr in München durchgeführt wird. Das Projekt arbeitet mit den drei Zielgruppen „Kinder“, „Erzieher(innen)“ und „Eltern“.

Das Bewegungsprojekt mit den Kindern
Das Bewegungsprojekt besteht aus zehn Einheiten. Es fördert die psychomotorischen Fähigkeiten, die Kinder für die Bewegung im Wohn- und Verkehrsumfeld benötigen, und bereitet sie auf das Roller und das spätere Fahrrad fahren vor.

Kleine Kinder können nur schwer Geräusche orten, zielgerecht handeln und Geschwindigkeiten abschätzen. Auch das Gleichgewicht halten und die Körperkoordination bereiten ihnen oft noch große Schwierigkeiten. Bewegung im Verkehr erfordert neben kognitiven Fähigkeiten auch soziale Kompetenzen (z.B. Frustration aushalten, aufeinander achten und Verantwortung übernehmen). Kreativität ist gefragt, wenn es darum geht, oft in kurzen Momenten Lösungen für Probleme zu finden, um die „richtige“ Entscheidung zu treffen. Spielerisch und ohne Druck lernen dies die Kinder im Projekt, sie spüren ihren Körper in der Bewegung und freuen sich über ihre Fortschritte.

In den ersten Bewegungseinheiten üben die Kinder mit einfachen Materialien wie Teppichfliesen und Seilen. Später lernen sie mit schwierigeren, rollenden Geräten umzugehen, z.B. Rollbrettern und Pedalos. Die Abschlusseinheiten beschäftigen sich mit dem Roller und enden mit dem so genannten „Rollerführerschein“. Dieser soll den Roller aufwerten und die Kinder für ihr beharrliches Üben belohnen.

Unterstützung der Erzieher(innen)
Das Bewegungsprojekt wird mit den Erzieher(inne)n und dem PPM gemeinsam umgesetzt. Die Mitarbeiterinnen des PPM führen die Erzieher(innen) in die nachhaltige Mobilitätsbildung ein, halten die erste Stunde als Probelektion ab und beschließen das Projekt mit dem Rollerführerschein. Die dazwischen liegenden acht Einheiten werden den Erzieher(inne)n als ausgearbeitete Stundenvorschläge zur Verfügung gestellt. Zudem berät das Team des PPM die Erzieher(innen) während der gesamten Dauer des Projekts und hilft bei der Materialbeschaffung bzw. verleiht Roller, Pedalos und Rollbretter.

Erfahrungen mit dem Projekt Die zehnjährige Erfahrung mit dem Projekt „Nachhaltige Mobilitätsbildung im Kindergarten“ zeigt, dass sich das Bewegungsprojekt auch allgemein sehr gut zur Verbesserung der psychomotorischen Fähigkeiten von Kindern eignet. Dies ist ein Grund für die durchwegs positive Resonanz der Erzieher(innen). Fast alle Kindergärten wiederholen das Bewegungsprojekt im nächsten Jahr oder nehmen es fest in ihr Programm auf. Damit ist ein Ziel des Projektes erreicht: Dass es sich im Schneeballsystem verbreitet und auf diese Weise möglichst viele Erzieher(innen) und Kinder davon profitieren können.

Nachfragen in den Kindertageseinrichtungen haben ergeben, dass viele Kinder ihre motorischen Fähigkeiten bereits nach kurzer Zeit verbessern. Vor allem begrüßt wird von den Erzieher(inne)n die spielerische Einübung sowie die langsame und sichere Heranführung an bewegliche Geräte, die auch bei bewegungsgehemmten Kindern die Freude an der Bewegung wieder weckt.

Den Erfolg des Projektes zeigt auch die folgende Rückmeldung eines Bewegungskindergartens: „Das Projekt ist sinnvoll, weil sich die für die Kinder wichtigen psychomotorischen Bewegungsangebote im Rahmen der Entwicklungsförderung hervorragend in unsere tägliche pädagogische Arbeit einbinden lassen. Die Kinder erobern sich ihre Welt über Bewegung und Wahrnehmung und entwickeln dabei ihre Persönlichkeit“.

Elternarbeit
Alle Eltern wünschen sich ein gesundes Kind. Ansatzpunkt in unserer Arbeit mit den Eltern ist deshalb die positive Gesamtentwicklung ihres Kindes. Diese ist stark an die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit gekoppelt. Auf einem Elternabend stellt das PPM den Eltern das Bewegungsprojekt vor, geht auf den Stellenwert von Bewegung für die kindliche Entwicklung ein und verdeutlicht die Wichtigkeit der eigenständigen Mobilität von Kindern. In ihrer Dissertationsschrift „Psychomotorische Handlungskompetenz beim Radfahren“ weist Birgit Jackel nach, dass Fahrrad fahren eine Mehrfachleistung ist, die von Kindern viel Übung erfordert. Anhand von ausgewählten praktischen Übungen sammeln die Eltern eigene Erfahrungen z.B. bei der Koordination von Mehrfachleistungen. Auf Grund der eigenen Schwierigkeiten mit den Übungen werden sie sensibilisiert, sich in den Entwicklungsstand ihrer Kinder hineinzuversetzen, wobei sie entdecken, dass Fahrrad fahren mehr ist als die Pedale zu treten.

Das Team des PPM gibt den Eltern Anregungen, wie sie ihre Kinder unterstützen können. Der Weg zum Kindergarten, zur Schule oder zu Freund(inn)en bietet sich als einfache Möglichkeit an, um Bewegung ins tägliche Leben zu integrieren. Am Elternabend werden die Vorteile des aktiven Nutzens des Kindergartenweges herausgestellt. Das PPM regt die Eltern an Gruppen zu bilden, die ihre Kinder abwechselnd zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Kindergarten begleiten. Was viele Eltern nicht wissen: Das kleine Fahrrad nennt sich Rädchen und ist ein Spielfahrzeug und darf deshalb nicht auf Verkehrsflächen benutzt werden. Diese und andere Verbraucherinformationen z.B. zum Thema „Kinderfahrräder“, „Kindersitze“, „Anhänger“ etc. runden den Elternabend ab.

Nachhaltiges Handeln
Das PPM strebt eine nachhaltige Wirkung seiner Projekte an. Aus der Praxiserfahrung sind dazu Kriterien entwickelt worden. Der ganzheitliche Ansatz spiegelt sich wieder in den Themen „Gesundheit“, „Lebensstile“, „Partizipation“, „Umwelt“ usw. sowie in der Methodenvielfalt. Es werden alle betroffenen Zielgruppen einbezogen. Mobilitätsbildung muss in der Elementarstufe beginnen und die Sekundarstufe einbeziehen, um nachhaltig zu wirken. Das beschriebene Konzept wird sowohl in Kindertageseinrichtungen mit integrativem wie auch mit interkulturellem Ansatz durchgeführt. Reflexion, Befragungen und stetige Optimierung der Konzepte gewährleisten die Qualität.

Erzieher(inne)n stehen meist wenig Vorbereitungs- und Fortbildungszeiten zur Verfügung.Gehört zum unteren AbsatzDas Mobilitätsprojekt im Kindergarten ist aufgrund der ausgearbeiteten Stundenvorschläge und durch die personelle Unterstützung durch das PPM leicht umsetzbar. Das PPM setzt auf möglichst wenig Papier zugunsten von handelnden Menschen und einer Gehstruktur, d.h. das Team des PPM besucht die Zielgruppen in den Einrichtungen. Durch eine stufenweise Verselbständigung der „nachhaltigen Mobilitätsbildung im Kindergarten“ wird eine feste Verankerung und eine große Ausbreitung erreicht. Das PPM orientiert sich an den Bedürfnissen seiner Zielgruppen und achtet auf die Vereinbarkeit mit Lehrplänen sowie mit Bildungs- und Erziehungsplänen. Vernetzung und Kooperation gewährleisten den fachlichen Austausch und erhöhen die Effizienz. Die heutige Verkehrssituation verursacht enorme ökologische und gesundheitliche Probleme, die gleichzeitig sehr schwer zu lösen sind. Um so wichtiger ist es dem PPM, Visionen zu entwickeln und diese umzusetzen.

Das Pädagogische Projekt Mobilität ist zudem ein Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekt, in dem arbeitslose Sozialpädagog(inn)en und Lehrkräfte einen befristeten, interessanten Arbeitsplatz finden. Sie werden im PPM qualifiziert und fortgebildet. Dadurch erhöhen sich ihre Chancen, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Dies bedeutet einerseits eine höhere personelle Fluktuation als in anderen Bildungseinrichtungen. Andererseits ermöglicht es dem PPM, in zwei Bereichen einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten.

Katharina Anane leitet das Pädagogische Projekt Mobilität im ADFC Bayern. Sie ist Schauspielerin, Erzieherin und Diplom-Sozialpädagogin.

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