fK 1/05 Weissenborn

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Sprachentwicklung und Sprachförderung in den ersten drei Lebensjahren

von Jürgen Weissenborn

Das wichtigste Resultat der aktuellen psycholinguistischen, neuropsychologischen und neurolinguistischen Entwicklungsforschung ist die Feststellung, dass die Grundlagen des Wortschatzes und der Grammatik der Muttersprache in den ersten drei Lebensjahren erworben werden. Da die Sprache eine zentrale Rolle bei der Sozialisation und dem Wissenserwerb des heranwachsenden Kindes spielt, ist eine normale Sprachentwicklung eine unentbehrliche Voraussetzung für einen intakten Verlauf des Sozialisationsprozesses, der kognitiven Entwicklung und der schulischen Laufbahn.

Der Bildungsauftrag, der aus diesen Entwicklungszusammenhängen für die Familie und für die Gesellschaft resultiert, ist, dass beide im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür Sorge tragen müssen, dass Kinder ausreichende sprachlichen Fähigkeiten entwickeln. Um diesen Auftrag einlösen zu können, müssen mindesten zwei Voraussetzung erfüllt sein: Zum einen ein möglichst umfassendes Verständnis der internen (biologischen) und externen (erfahrungsabhängigen) Bedingungen des Spracherwerbs, und zum anderen Verfahren für eine rechtzeitige Erkennung möglicher Risiken und Anzeichen für eine Gefährdung der Sprachentwicklung bzw. schon vorhandener Abweichungen von der normalen Sprachentwicklung, sowie von Verfahren, um im Bedarfsfall präventiv bzw. fördernd und eventuell therapeutisch eingreifen zu können. Wie dringend der Handlungsbedarf im Bereich der Sprachförderung ist, zeigt eine Studie an 231 3½ bis 4-Jährigen, in der bei 20,3% der monolingual deutsch erzogenen Kinder Sprachentwicklungsstörungen festgestellt wurden. Diese Zahl erhöht sich noch bei den Schuleingangsuntersuchungen. Regionale Erhebungen, wie beispielsweise „Bärenstark“ in Berlin, gehen davon aus, dass 36% der muttersprachlich deutschen Kinder sprachlich intensiv gefördert werden müssten. Bei Kindern mit einem anderen sprachlichen Hintergrund als Deutsch wurden teilweise höhere unzureichende Sprachkenntnisse festgestellt.

Vieles deutet darauf hin, das diese sprachlichen Defizite ihren Ursprung in der Sprachentwicklung der ersten drei Lebensjahre haben. Die Schlussfolgerung hieraus kann nur sein, dass in den Bildungs- und Betreuungsaktivitäten bei Kindern unter drei Jahren dem sprachlichen Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Dies wird unterstrichen durch die noch zu erwähnenden Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass aufgrund der mit dem Alter abnehmenden Plastizität des Gehirns sprachliche Förderung umso erfolgreicher zu sein verspricht, je früher mit ihr begonnen wird.

Im Folgenden fassen wir die für die Realisierung des sprachlichen Bildungsauftrags aus unserer Sicht wichtigsten lern- und bildungsrelevanten Forschungsresultate und die Evidenz, auf der sie beruhen, für den Zeitraum von null bis drei Jahren kurz zusammen.

Zeitliches Muster sprachlicher Erwerbsschritte in den ersten drei Lebensjahren

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Etappen des Spracherwerbs im Bereich der Phonologie/Prosodie, der Morphosyntax und des Lexikons in den ersten drei Lebensjahren.

Alter Sprachperzeption/ Sprachverstehen Sprachproduktion
1.-3. Monat a. Universelle Lautunterscheidung (b/ p)
b. Wahrnehmung unterschiedlicher sprachspezifischer Betonungstypen (Französisch vs. Japanisch vs. Deutsch)
Entwicklung der Feinmodulation
4. Monat a. Erkennen des eigenen Namens im Redefluss
b. Präferenz für trochäisches Betonungsmuster
Beginn des kanonischen Lallens
6. Monat a. Erkennen von Satzgrenzen aufgrund prosodisch- rhythmischer Merkmale (u.a. Silbenlängung, Pausen)
b. Erkennen der Wörter Mama / Papa.
Ausbildung des zielsprach- lichen Phoneminventars (zuerst Vokale)
7. Monat a. Erkennen von Wörtern mit dem vorherrschenden zielsprachlichen Betonungsmuster, d.h. im Deutschen betont- unbetont, z.B. Háse. Endbetonte Zweisilber wie Alárm werden noch nicht erkannt.
b. Erkennen einsilbiger, unbetonter Funktionswörter, z.B. das, von, sein
Kanonisches Lallen (reduplizierend): ba – ba
9. Monat Erkennen von syntaktischen Grenzen innerhalb eines Satzes, z.B. Der Junge / spielt Ball Anfänge des allgemeinen Wortverstehens: ca. 60 Wörter. Kanonisches Lallen (bunt):
ba – da
Entdecken der zielsprachlichen Silbe.
10.-12. Monat a. Verlieren der Fähigkeit, alle Laute zu unterscheiden. Es werden nur noch Laute unterschieden, die zur Differenzierung von Wörtern in der Zielsprache dienen.
b. Erkennen von Wörtern mit atypischem Rhythmusmuster: wie Alárm
c. Verstehen von 50 bis 100 Wörtern
Übergang zum frühen Lexikon: Substantive und erste Verben, z.B. auf- (machen).
13.-15. Monat Syntaktische Kategorisierung mithilfe von Artikelformen
16. Monat Erkennung von syntaktischen Funktionen wie Subjekt und Objekt Mehrwortäußerungen (Objekt-Verb): Ball spielen
17. Monat Unterscheidung von Eigennamen und Gattungsnamen aufgrund des Artikels: Zeig mir Dax vs. Zeig mir einen Dax AUCH- und NICHT-Konstruktionen, wie Simone auch Flasche haben
18.-20. Monat Entdecken von grammatischen Abhängigkeiten, z.B. zwischen der Präsenz bzw. dem Fehlen einer Nebensatzkonjunktion und der Stellung des finiten Verbs im Deutschen: Hans sagt, dass er Hunger hat vs. Hans sagt, er hat Hunger. Schnelle Vergrößerung des Wortschatzes
21.-30. Monat Kinder können die syntaktische Struktur eines Satzes zur Erschließung der Bedeutung von unbekannten Verben (gorpen) heranziehen: z.B. Hans und Lisa gorpen vs. Hans gorpt Lisa Erwerb von Possessiv-strukturen wie Vaters Haus; Erwerb der Betonungsregeln für Wörter wie Mandarine, Elefant, Suppenlöffel
30.–36. Monat Verständnis von Fragen wie Wer?, Was?, Wo?, usw., und Mengenausdrücken wie jeder, alle, usw. Erwerb der Grundregeln der Artikelverwendung, der Verbstellungsregel im Hauptsatz, sowie der Regeln der Nebensatzbildung .

Diese, die unterschiedlichen sprachlichen Bereiche (Phonologie/Prosodie, Morphosyntax, Lexikon) übergreifende Darstellung verdeckt die wichtige Tatsache, dass sich in ihnen ebenfalls feste zeitliche Erwerbsreihenfolgen erkennen lassen. Von besonderer Bedeutung ist, dass experimentelle neuropsychologische und behaviorale, d.h. verhaltensbezogene Untersuchungen der Sprachperzeption im ersten Lebensjahr, sowie akustische Analysen von vorsprachlichen Schrei- und Lalläußerungen zeigen, dass vermutlich für die weitere Sprachentwicklung entscheidende Erwerbsschritte vor allem im Bereich der prosodischen Eigenschaften der Muttersprache im ersten Lebensjahr stattfinden.

Zusammenhänge zwischen sprachlichen Entwicklungsschritten

Von besonderem Interesse sind Abhängigkeiten zwischen aufeinander folgenden sprachlichen Entwicklungsschritten, auf die Ergebnisse retrospektiver Analysen der sprachlichen Leistungen von sprachlich auffälligen und sprachlich unauffälligen Kindern zwischen der Geburt und dem dritten Lebensjahr im Rahmen der Deutschen Sprachentwicklungsstudie (www.glad-study.de) hinweisen. Sie zeigen, dass eine unauffällige, altersgemäße Entwicklung des kindlichen Wortschatzes mit 24 Monaten mit produktiven und perzeptiven sprachlichen Leistungen im ersten Lebensjahr korreliert. Das heißt, die Leistungen der Kinder mit einem altersmäßig zu geringen Wortschatz unterschieden sich signifikant von denen der Kinder mit einer altersgemäßen Entwicklung des Wortschatzes. Diese Befunde legen u.a. nahe, dass die Erkennung rhythmischer Eigenschaften der Muttersprache eine wichtige, möglicherweise sogar notwendige Voraussetzung für eine unauffällige Sprachentwicklung im Bereich des Wortschatzes und der Grammatik ist.

Zusammenhänge zwischen kognitiver und sprachlicher Entwicklung

Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sind vor allem Forschungsergebnisse relevant, die auf ursächliche Zusammenhänge zwischen der sprachlichen und der nichtsprachlichen kognitiven Entwicklung hinweisen, weil sie die Möglichkeit der Förderung sprachlicher Fähigkeiten durch die Förderung kognitiver Fähigkeiten eröffnen. Die Evidenz für derartige Zusammenhänge ist bisher jedoch spärlich. Es überwiegen einerseits Hinweise, dass Kinder selbst bei stark eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten, etwa bei geistiger Behinderung im Zusammenhang mit genetischen Syndromen, wie dem Williams-Beuren-Syndrom, erstaunliche sprachliche Fähigkeiten entwickeln, während andererseits Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen keine offensichtlichen kognitiven nicht-sprachlichen Defizite aufzuweisen scheinen. Dies deutet auf eine weitgehende Dissoziation von sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten hin. Neuere Forschungen lassen vermuten, dass es lokale, bereichspezifische Beziehungen zwischen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten gibt, die von den gebräuchlichen kognitiven Entwicklungstests nicht erfasst werden.

Kritische Perioden (Zeitfenster) für sprachliche Entwicklungsschritte

Eine Reihe von Beobachtungen legen nahe, dass nur bis zu einem bestimmten Alter ein spontaner, in allen sprachlichen Bereichen (Phonologie, Syntax, Lexikon) erfolgreicher Spracherwerb möglich ist, was u.a. auf eine genetische Determinierung des Spracherwerbsprozesses hindeutet. So zeigen die Fälle von Kindern, die erst Jahre nach der Geburt zum ersten Mal mit Sprache in Berührung kamen, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten vor allem im syntaktische Bereich keine normalen Werte erreichen.

In die gleiche Richtung weisen Befunde, dass das Maß, in dem Sprachverluste bei Kindern, die durch Eingriffe im Gehirn verursacht wurden, im Laufe der späteren Sprachentwicklung wieder ausgeglichen werden können, von dem Zeitpunkt des Eingriffs abhängt: das heißt die negativen Auswirkungen auf die sprachlichen Fähigkeiten sind umso geringer, je früher der Eingriff stattgefunden hat. Daraus kann geschlossen werden, dass sich die Sprachlernfähigkeiten im Laufe der Entwicklung verändern, ohne dass bisher jedoch klar ist, worin diese Veränderungen im einzelnen bestehen. Möglicherweise hängen sie mit der zerebralen Entwicklung, z.B. der Lateralisierung der Sprachzentren in der linken Hemisphäre zusammen. Ebenfalls in die Richtung einer Veränderung der Sprachlernfähigkeiten weist die Tatsache, dass ab dem Alter von etwa zehn Monaten die Fähigkeit der Kinder abnimmt, nicht-muttersprachliche Laute zu diskriminieren. Gleichzeitig nimmt andererseits die Fähigkeit zur Diskriminierung von rhythmischen Eigenschaften der Muttersprache im Verlauf des ersten Lebensjahres zu. Beide Fähigkeiten zusammengenommen sind die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Kind den kontinuierlichen Lautstrom, der seinen sprachlichen Input bildet, in lautliche Einheiten zerlegen kann, die u.a. Wörtern der zu lernenden Sprache entsprechen, und die dann mit einer Bedeutung verbunden werden können.

Diese abnehmenden Diskriminierungsfähigkeiten für nicht-muttersprachliche lautliche Kontraste und die Entwicklung von sprachlichen Segmentierungspräferenzen aufgrund rhythmischer Faktoren führen jedoch offensichtlich nicht dazu, dass in einer Zweitsprache nicht die gleichen Fähigkeiten wie in der Muttersprache erworben werden können, vorausgesetzt, der Erwerb der Zweitsprache findet etwa bis zum vierten, fünften Lebensjahr statt. Bei späterem Erwerb sind je nach Zeitpunkt des Erwerbsbeginns zuerst im lautlichen (muttersprachlicher Akzent in der Zweitsprache), dann im morphosyntaktischen Bereich Defizite in der Zweitsprache zu beobachten. Das wird darauf zurückgeführt, dass nach dem vierten bis fünften Lebensjahr nicht mehr die gleichen Sprachlernmechanismen wie für den Erwerb der Erstsprache zur Verfügung stehen, möglicherweise auch aufgrund abnehmender Plastizität des Gehirns, und dass bei dem Erwerb der neuen Sprache in zunehmendem Maße Sprachverarbeitungsstrategien aus der Erstsprache herangezogen werden. Die so entstehenden nicht-zielsprachgemäßen Strukturen der Lernsprache können, wie der Akzent oder grammatische Abweichungen, vermutlich nur durch explizites, gesteuertes Sprachlernen (‚Unterricht’) behoben werden.

Bedeutung der Befunde für die institutionelle Spracharbeit

Die Evidenz, dass die spontanen Sprachlernfähigkeiten etwa ab dem dritten Lebensjahr mit zunehmendem Alter abnehmen, hat Konsequenzen, sowohl für den Erwerb der Muttersprache, wie für den einer Zweitsprache durch deutschsprachige Kinder und für den Erwerb des Deutschen als Verkehrssprache durch Migrantenkinder.

Erwerb des Deutschen als Muttersprache: Wenn die Fähigkeit des Kindes zum ungesteuerten, spontanen Spracherwerb schon ab dem dritten Lebensjahr abnimmt, muss davon ausgegangen werden, dass auch die Möglichkeiten, die Sprachentwicklung positiv zu beeinflussen, sei es im Rahmen einer allgemeinen Sprachförderung, sei es zu therapeutischen Zwecken, zeitlichen Einschränkungen unterliegen. Das bedeutet, dass mögliche Risiken für die Sprachentwicklung bzw. ein wie auch immer gearteter Förderbedarf so früh wie möglich erkannt werden müssen, um möglichst erfolgversprechend intervenieren zu können.

Erwerb einer Zweitsprache durch deutschsprachige Kinder: Die Forschungsresultate zum frühen Zweitspracherwerb, die nahelegen, dass bis zum Alter von drei bis vier Jahren der Erwerb einer zusätzlichen Sprache in gleicher Weise und ebenso erfolgreich wie der Erstspracherwerb verläuft, sprechen für ein möglichst frühes Angebot einer Zweitsprache. Voraussetzung muss allerdings sein, dass keine Auffälligkeiten beim Erwerb der Muttersprache festzustellen sind, da die gleichen Sprachlernschwierigkeiten, die die Sprachauffälligkeiten der muttersprachlich deutschen Kinder verursachen, auch das Lernen einer weiteren Sprache beeinträchtigen würden.

Erwerb des Deutschen als Verkehrssprache durch Migrantenkinder: Für Migrantenkinder mit nicht-deutschsprachigem Hintergrund gelten im Hinblick darauf, wann mit dem Erwerb des Deutschen begonnen werden sollte, die gleichen Bemerkungen wie für den Zweitspracherwerb der deutschsprachigen Kinder.

Man muss sich bewusst sein, dass die meisten Kinder auf der Welt in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen. Wenn ein Kind früh genug, d.h. vermutlich innerhalb der ersten drei bis vier Lebensjahre kontinuierlich genügend sprachliche Anregung in den verschiedenen Sprachen seiner Umgebung erhält, wird es diese Sprachen im wesentlichen wie ein einsprachiges Kind erwerben. Mehrsprachig aufwachsende Kinder halten die verschiedenen Sprachen von Anfang an auseinander, und es finden sich bei ihnen auch die gleichen zeitlichen Entwicklungsschritte wieder, wie bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Das heißt jedoch nicht, dass diese Kinder von Anfang an in beiden Sprachen über das gleiche Wissen verfügen. So ist etwa der Wortschatz eines bilingual aufwachsenden Kindes in beiden Sprachen anfänglich nicht gleich groß.

Vielmehr sind es die Kenntnisse in der einen und der anderen Sprache zusammengenommen, die quantitativ und qualitativ den Fähigkeiten eines gleichaltrigen monolingual aufwachsenden Kindes entsprechen. Dies deutet darauf hin, dass die Kapazität für Sprachlernprozesse zu diesem frühen Zeitpunkt biologisch eingeschränkt ist. Es gibt bisher jedoch keine Evidenz dafür, daraus zu schließen, dass sich – wie von Eltern oft befürchtet – ein früher Zweitsprachenerwerb negativ auf den Erwerb der Erstsprache ausübt.

Empfehlungen zum Erwerb des Deutschen als Muttersprache

Bei allen Kindern sollte bei der Aufnahme in den Kindergarten neben der Überprüfung von Risikofaktoren für die Sprachentwicklung (Frühgeburt, Sprachauffälligkeiten in der Familie, usw.) die Entwicklung der zentralen sprachlichen Fähigkeiten (Phonologie, Morphologie, Lexikon, Syntax) überprüft werden. Kinder, bei denen erhebliche Verzögerungen des Erwerbs der Muttersprache festgestellt werden, sollten ab dem ersten Lebensjahr systematisch gefördert werden. Und zwar mithilfe von Verfahren, die auf den zuvor erwähnten Prozessen aufbauen, die dem ungestörten Erwerb der Grammatik und des Wortschatzes der Muttersprache zugrunde liegen. Das sind Verfahren, die von der Annahme ausgehen, dass die sprachlichen Defizite der Kinder auf eine Schwäche von spezifischen Sprachlernmechanismen zurückzuführen sind. Durch einen entsprechenden Aufbau des Fördermaterials kann erreicht werden, wie Pilotstudien zeigen, dass die vorhandenen Sprachlernmechanismen des sprachverzögerten Kindes ausreichen, die für eine normale Sprachentwicklung notwendigen Informationen dem sprachlichen Input zu entnehmen. Die weitere Sprachentwicklung sollte dann weitgehend ohne Förderung möglich sein.

Empfehlungen zum Erwerb einer Zweitsprache durch deutschsprachige Kinder

Der Erwerb einer Zweitsprache innerhalb der ersten drei Lebensjahre sollte abhängig gemacht werden von einem unauffälligen Erwerb der Muttersprache. Sollten Risiken für Sprachentwicklungsstörungen vorliegen, sollte der Mutterspracherwerb des Kindes besonders sorgfältig beobachtet werden. Aufgrund der Tatsache, dass die lautlich-rhythmischen Eigenschaften der zu erwerbenden Sprache entscheidende Informationen für den Sprachlerner zum Aufbau des Sprachwissens enthalten, sollte der ‚Unterricht’ in der Zweitsprache unbedingt durch muttersprachliche bzw. frühe bilinguale Sprecher dieser Sprache erfolgen.

Eine Optimierung des Lernerfolges wäre vermutlich zu erzielen, wenn man analog zu den oben genannten muttersprachlichen Fördermaßnahmen die Zweitsprache in einer Weise darbietet, die die für den monolingualen Erwerb dieser Sprache zentralen sprachlichen Eigenschaften besonders berücksichtigt. So könnte ein Nachteil des Zweitspracherwerbs gegenüber dem Erstspracherwerb, nämlich dass die Kinder in der Regel in der Zweitsprache erheblich weniger Input als in der Erstsprache erhalten, etwas ausgeglichen werden. Allerdings existieren bisher keine Untersuchungen, die Hinweise darauf geben, wieviel Input in der Zweitsprache nötig ist, damit ein dem Erstspracherwerb vergleichbarer Lernerfolg erzielt werden kann. Auch für den Erstspracherwerb wissen wir aus offensichtlichen Gründen nicht, was das Minimum an Input für einen ungestörten Spracherwerb ist. Um den Input in der Zweitsprache zu erhöhen, sollte an die Verwendung von multimedialen Materialien im Familienkontext gedacht werden, wie sie auch in der monolingualen Sprachförderung zur Anwendung kommt.

strong>Empfehlungen zum Erwerb des Deutschen durch Migrantenkinder mit nichtdeutscher Muttersprache

Die bisher genannten Forschungsergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass die Chancen für Migrantenkinder mit nichtdeutscher Muttersprache, die Sprache des Gastlandes zu erwerben, umso größer sind, je früher sie mit der Sprache des Gastlandes systematisch in Berührung kommen. Da gerade dies in der Familie des Kindes im allgemeinen nicht gewährleistet ist, ist es besonders wichtig, dass diese Kinder möglichst schnell einen Platz in einem Kindergarten oder einer ähnlichen Einrichtung bekommen. Dabei wird man jedoch vor allem bei älteren Kindern auf zusätzliche sprachliche Förderung nicht verzichten können.

Das Problem der sprachlichen Förderung der Migrantenkinder wird dadurch noch erheblich verstärkt, dass man davon ausgehen muss, das diese Kinder in vielen Fällen auch Sprachentwicklungsstörungen in ihrer Muttersprache aufweisen. Diese Tatsache bleibt bei der Gestaltung von Förderprogrammen oft unberücksichtigt, da die meisten Programme den Schwerpunkt auf interkulturelle Bereiche der Integration legen. Von diesen Förderprogrammen ist wegen der unzureichenden Berücksichtigung von sprachspezifischen Aspekten keine ausreichende Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse zu erwarten.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Jürgen Weissenborn ist Honorarprofessor für Psycholinguistik an der Humboldt-Universität in Berlin.

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