19 Jun fK 4/10 Zenz
(Amts-)Vormundschaft zum Wohle des Mündels
Anmerkungen zu einer überfälligen Reform
Von Gisela Zenz und Ludwig Salgo
Zu Beginn dieses Jahres legte das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf zur Änderung des Vormundschaftsrechts vor. Grundsätzlich kann den vorgeschlagenen Änderungen zugestimmt werden. Diese „Vorabreform“ der dringendsten Reformanliegen empfiehlt sich aber nur dann, wann sogleich die überfällige Gesamtreform in Angriff genommen und alsbald abgeschlossen wird. Aus dem Referentenentwurf soll in Kürze ein Regierungsentwurf werden, mit dem sich dann noch im Herbst die Gesetzgebungsorgane befassen werden.
Zur rechtspolitischen Ausgangslage
Wenn man die Reformdebatte um die Zukunft der Vormundschaft Revue passieren lässt, steht man nach der Sichtung des inzwischen umfangreichen Materials mit sehr gemischten Gefühlen da. Einerseits: Rechtstatsächlich ist das Feld im Gegensatz zu anderen Gebieten gründlich beackert (z. B. Hansbauer, Mutke, Oelerich 2004; Hansbauer 2002; Zitelmann, Schweppe, Zenz 2002; Gondolf 2007), die Praxis ist kritisch durchleuchtet. Wir wissen, woran wir sind und wovon wir reden. Es liegen hervorragende konzeptionelle Arbeiten vor – Vorschläge, Standards, Richtlinien, Praxisberichte – und es gibt erfolgreiche Modellprojekte und Qualifikationsprogramme. Auffallend sind hierbei die Fundiertheit und Qualität dieser Arbeiten und Vorschläge, vor allem aber die Einhelligkeit und die weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich des Veränderungsbedarfs bei den unterschiedlichen Autor(inn)en aus Wissenschaft und Praxis.
Andererseits schien sich in der Rechtspolitik trotzdem nichts zu bewegen, ja ein Reformbedarf wurde dort vor noch nicht allzu langer Zeit bestritten: Im Gesetzentwurf zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII 1991) wurde der Reformbedarf verneint, da es sich bei den bestehenden Problemen vor allem um „Vollzugsdefizite“ handele, der Vorrang der Einzelvormundschaft aber nach Auskunft der Länder-Justizbehörden (!) durchweg beachtet werde (2 BT-Drucks. 11/5948, S. 91; anders noch 1992 bei der Ersetzung der Volljährigenvormundschaft durch die „Betreuung“, BT-Drucks. 11/4528, S. 203).
Gerade vor dem Hintergrund aller vorliegenden Daten und Fakten muss aber der Bundesgesetzgeber davon überzeugt werden, dass er die teilweise nach wie vor skandalöse Situation im Bereich der Vormundschaft zur Kenntnis nehmen und endlich auch reagieren muss. Ohne den Gesetzgeber wird sich weiterhin in der Breite kaum etwas bewegen lassen und ohne Gesetzesreformen und deren konsequente Umsetzung werden sich skandalöse Zustände nicht beseitigen lassen – trotz des guten Willens vieler einzelner Personen und Institutionen.
Immerhin hatte bereits die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, die Thematik aufgegriffen (Zypries 2009: 4f.), und auch die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls – § 1666 BGB“ des Bundesministeriums der Justiz beschäftigte sich mit dieser Thematik – was freilich nur ein allererster Schritt war. Auch die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, anerkennt einen dringenden Reformbedarf (Leutheusser-Schnarrenberger: Vormund darf Kind nicht nur aus Akten kennen, Berlin, 8. Januar 2010, Presseerklärung).
Aktuelle Reformanlässe
Kevin, Jessica, Benjamin-Pascal, Michelle, Lea-Sophie und wie die Fälle – die Kinder-Todesfälle – auch heißen mögen, sind bei näherer Betrachtung nicht in erster Linie Folgen von Ressourcenproblemen im finanziellen Bereich (nur für das Lebensschicksal von Kevin liegt ein umfangreicher Untersuchungsbericht vor, vgl. dazu auch Salgo 2007). Die Ursachen für diese Todesfälle sind vielmehr komplex. So ist im Fall „Kevin“ in Bremen sehr viel Geld ausgegeben worden (z. B. für den „Ziehvater“, für Ärzte und für vorübergehende Unterbringungen), obwohl massive Einsparvorgaben vorlagen und der Fall sich in einem Stadtteil mit hoher Armutsquote abspielte.
Zugleich trugen Ressourcenprobleme bei der personellen Ausstattung der Amtsvormundschaft wesentlich zur Vernachlässigung seines Schutzes bei. Bundesweit lassen sich ähnlich paradoxe Entwicklungen finden. So wurden z. B. in Göttingen im Zeitraum zwischen 2003 und 2006 die Ausgaben für „Hilfen zur Erziehung“ halbiert. Eine systematische Analyse der sehr disparaten Entwicklungen im Bereich der Kosten in der Kinder- und Jugendhilfe und der daraus resultierenden Fehlverläufe im Einzelfall steht ebenso aus wie die breite Etablierung einer „Kultur des Aus-Fehlern-Lernens“ und der Entwicklung und Verbindlichmachung von Programmatiken zur Fehlervermeidung. An den gesetzlichen Grundlagen für die Umsetzung des Kinderschutzes fehlt es jedenfalls nicht.
Nun gibt es aber unter diesen Todesfällen auch Kinder, die unter „bestellter“ oder „gesetzlicher“ Amtsvormundschaft (vgl. auch Leitner/Troscheit 2008: 11, 14, 20, 26, 42) standen. Sollten diese Kinder unter Amtsvormundschaft nicht besser dran sein? Immerhin ist es doch deshalb zur Errichtung von Amtsvormundschaften gekommen, weil es erhebliche Defizite und gravierende Belastungen im Leben dieser Kinder gab. Wäre nicht gerade für sie eine besondere Aufmerksamkeit des Staates und seiner Organe zu erwarten?!
Hatten wir nicht einen „Kindergipfel“, bestehend aus der Bundeskanzlerin und den Länderchefs?! Dort wurde auch über Kinderschutz in Deutschland gesprochen (vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes (Kinderschutzgesetz), BR-Drucks. 59/09, S. 1.) – wann hatten wir das schon zuvor? Wenn es also Todesfälle von Kindern sind, die zu Recht die Spitzen unseres Staates bewegen, so ist besonders darauf hinzuweisen, dass unter diesen Kindern auch solche sind, die unter Amtsvormundschaft, also unter staatlicher Rechtsfürsorge standen, und dass sich Praxis und Theorie (vgl. Zitelmann, Schweppe, Zenz 2002: 179-194; Gondolf 2007: 224-230) seit Jahren intensiv und sehr konkret mit Fehlern und Verbesserungsvorschlägen im Bereich von Vormundschaften befassen.
Alte, nicht eingelöste rechtspolitische Forderungen
In der jüngeren Fachdiskussion war es der 59. Deutsche Juristentag im Jahre 1991, der eine grundlegende Reform des Vormundschaftsrechts im breiten Einvernehmen angemahnt hatte: „Nach der Reform des Betreuungsrechts ist die Reform der §§ 1773–1785 BGB überfällig. Hierbei sollte gesetzlich als subjektives Recht anerkannt und gesichert werden, dass jedes betroffene Kind einen Anspruch auf eine persönliche Beziehungsperson (Vormund) hat“, im Protokoll über das Abstimmungsergebnis steht: 63:2:4. Nun war diese Forderung schon damals nicht ganz neu: Bereits im Jahre 1955 schreibt der international anerkannte Rechtswissenschaftler Müller-Freienfels: „Bei einer solchen anonymen Amtsvormundschaft (fehlt) die persönliche Fühlung zu dem Mündel (…) und (es besteht) die Gefahr des Schablonenbetriebs“.
Auch der „Zwischenbericht: Kommission Heimerziehung“ aus dem Jahre 1977 kommt schon zu einer Einschätzung, wie sie heute nicht anders ausfällt: „Hinsichtlich der pädagogischen Kompetenz, der Neutralität und dem Wissen der Amtsvormünder um ihre ,Mündel’ sind große Zweifel angebracht. Amtsvormünder haben meistens keine pädagogische Ausbildung. Sie unterliegen behördenpolitischen und strukturellen Zwängen und sind für Hunderte von Fällen gleichzeitig zuständig. Obwohl es sich bei den Mündeln um eine rechtlich schwache Klientel handelt, und obwohl das Vormundschaftswesen von jeher zu den Hauptaufgaben der Jugendämter gehörte (3. Jugendbericht, S. 63), werden die Diskussionen über die Tätigkeit der Amtsvormünder zu unterhalts- und vaterschaftsrechtlichen Fragestellungen zwar akribisch und engagiert, zur pädagogischen Verantwortung der Amtsvormünder nur am Rande geführt. Durch die Einbettung der Amtsvormünder in hierarchische und arbeitsteilige Strukturen wird die originäre Rolle des Amtsvormundes ad absurdum geführt, denn er sollte entsprechend seinem Auftrag erstrangig Interessenvertreter des Kindes und nicht Vertreter eines Organs der Jugendhilfe sein.“
Wie auch immer die Fachgremien hießen, welche wissenschaftlichen Autoritäten es waren, welche wissenschaftlichen Evidenzen vorgelegt wurden, bisher waren alle diese rechtspolitischen Forderungen nicht imstande, beim Gesetzgeber zumindest Reformüberlegungen anzustoßen, geschweige denn den Weg für eine wirksame Gesetzgebung zu öffnen. Und doch ist es im Bereich des Familienrechts einzig die Vormundschaft, die seit Inkrafttreten des BGB am 1.1.1900 nahezu unverändert geblieben ist. Wie konnte es gelingen, die Rechtspolitik gegenüber fundierten Reformforderungen so zu immunisieren? Sind hier Kostenbefürchtungen ausschlaggebend?
Es geht kontinuierlich um etwa 70.000 Minderjährige, die unter Vormundschaften und Pflegschaften stehen. Verlässliche Berechnungen zu den derzeitigen Kosten und zu den Mehrkosten einer qualifizierten und unabhängigen Vormundschaft in Deutschland sind nicht bekannt. Sie sind jedenfalls aber nicht vergleichbar mit den in diesem Zusammenhang gern warnend erwähnten Kosten der rechtlichen Betreuung, die für derzeit 1,2 Millionen Volljährige – mit steigender Tendenz – aufzubringen sind. Nein, eine Kostenexplosion durch eine Reform der Vormundschaft wird es wohl kaum geben, wird doch bereits heute in der Regel (siehe Kevin) viel Geld ausgegeben, nicht wenig davon, um Schäden aufzufangen, die durch mangelnde Rechtsfürsorge bzw. -vorsorge entstanden sind. Auch dafür steht Kevin.
Angesichts der nicht abreißenden Wiederholung der Bedeutung und des Vorrangs des Kindeswohls bei Politikern aller Parteien muss die hoffentlich nunmehr überwundene Blockade der Vormundschaftsreform umso mehr verwundern – geht es doch bei der Gruppe von Minderjährigen, die auf einen qualifizierten, sensiblen und unabhängigen Vormund angewiesen sind, um schwer gefährdete Kinder und Jugendliche, denen irreversible Schädigungen drohen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die nicht enden wollende Debatte um „Kinderrechte in der Verfassung“.
Nachdem der Bundesrat am 19.9.2008 eine Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung abgelehnt hat, könnte es zur Nagelprobe werden, zu überprüfen, wie viel Bereitschaft besteht, sich konkret für die Stärkung von Kinderrechten (auch) durch eine Reform der Vormundschaft einzusetzen, die mit seltener Einmütigkeit aus Praxis und Theorie gefordert wird.
Grundanliegen einer Reform
Übereinstimmend gefordert werden (1) der „persönliche Vormund“ bzw. die „persönlich geführte Vormundschaft“; (2) vernünftige Fallzahlen (vgl. Dresdner Erklärung, abgegeben auf der Fachtagung „Die Zukunft der Amtsvormundschaften“ vom 22.–24.3.2000 in Dresden, abgedruckt in Der Amtsvormund 2000, S. 438): 50 Mündel als maximale Obergrenze); (3) qualifizierte Personen in diesem Arbeitsfeld und deshalb ein interdisziplinär einzulösender Weiterbildungsbedarf; (4) strikte Trennung der Leistungsebene und der anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe von der Vormundschaft oder die Schaffung sonstiger Strukturen, die es Amtsvormündern ermöglichen, sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Minderjährigen und nicht an den Interessen der Behörde zu orientieren; (5) eine wirkliche und nicht nur pro forma stattfindende Beteiligung des Mündels an Entscheidungen.
Einigkeit besteht auch darüber, dass die schwierigen Aufgaben in der Mehrzahl ein professionelles Herangehen erfordern, was die Ausschöpfung eines durchaus vorhandenen ehrenamtlichen Reservoirs in dafür geeigneten Fällen (z. B. in stabilen Dauerpflegeverhältnissen) nicht ausschließt. Zur allseits geforderten „Unabhängigkeit“ gibt es Diskussionen nur über die günstigste organisatorische Sicherstellung einer solchen, denn die Sensibilität gegenüber Interessenkollisionen ist in den letzten Jahren allseits enorm gewachsen, aber ihre Vermeidung noch keinesfalls überall sichergestellt. „Wenn man es daher ernst meint mit der Unabhängigkeit der Amtsvormundschaft bei der Wahrnehmung von Mündelinteressen, wird man die Errichtung einer eigenständigen Vormundschaftsbehörde außerhalb des Jugendamtes fordern müssen“ (Zenz, in: Zitelmann, Schweppe, Zenz 2002: 188).
In eine solche neue Struktur, die vollständig vom Jugendamt zu trennen wäre, müssten alle haupt- und nebenamtlich, professionell und ehrenamtlich sowie auch auf freiberuflicher Basis tätigen Kindesvertreter, d. h. Vormünder, Pfleger, Verfahrensbeistände(-pfleger), aber auch deren Vereinigungen eingebunden sein (Zwangsmitgliedschaft). Denkbar wäre auch die Eingliederung von Verletztenbeiständen für minderjährige Opferzeugen in einen solchen Pool. Aufgabe dieses Gremiums wäre die Rekrutierung von jeweils für den Einzelfall geeigneten Fachkräften durch systematische Suche und Öffentlichkeitsarbeit, Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung und Beratung, d. h. die Sicherstellung einer qualifizierten und unabhängigen Interessenvertretung Minderjähriger in unterschiedlichen Aufgabenfeldern. Dazu würde auch die ideelle und materielle Unterstützung von auf diesem Arbeitsfeld tätigen freien Trägern gehören. Besonderer Prüfung bedürfte die Option, Vormundschafts- und Betreuungsaufgaben in einer Behörde zusammenzuführen.
Um von vornherein Bürokratisierungstendenzen und einer Verflachung des Leistungsniveaus entgegenzuwirken, haben sich insbesondere die nachfolgenden strukturellen Maßnahmen bewährt: Kollegialitäts- oder „Vieraugenprinzip“; externe Supervision; Teamentscheidungen; die obligatorische Einbeziehung freier Träger in die Gesamtstruktur auf allen Ebenen; zwingende Mitgliedschaften in einer solchen Struktur für alle, die Aufgaben übernehmen wollen; zeitlich befristete, jedoch erneuerbare Mitgliedschaften; periodisch wechselnde Leitungsfunktionen. „Mit Beratungs-, Supervisions- und Vernetzungssystemen zur Kompetenzerhöhung und -erweiterung würden zugleich moderne Formen der unterstützenden (Selbst- und Fremd-)Kontrolle geschaffen, die als effiziente Ergänzung zur weithin rein formalen Aufsicht der insoweit völlig überforderten Vormundschaftsgerichte dringend erforderlich wären“ (Zenz, in: Zitelmann, Schweppe, Zenz 2002: 194). Damit könnte zugleich eine derzeit überhaupt nicht existente Instanz für ein Beschwerdemanagement eingerichtet werden.
Entscheidungen gegen Mitglieder (wie z. B. Ausschluss oder Entpflichtung von einem Fall) dieser neu zu schaffenden Struktur müssten vor dem Familiengericht überprüfbar sein. Diese „Interessenvertretungsbehörde“ sollte über eigene qualifizierte Vormünder, Pfleger etc. verfügen, jedoch bemüht sein, diese eigenen Kapazitäten nicht vorrangig zum Einsatz zu bringen, vielmehr grundsätzlich nur im Ausnahmefall als „Ausfallbürge“ mit einer Auffangzuständigkeit zur Verfügung zu stehen. Dies könnte zu einem fairen Wettbewerb (Hansbauer, Mutke, Oelerich 2002: 355) der unterschiedlichsten Träger der Interessenwahrnehmung für Minderjährige führen, weg von den heute monopolartigen bürokratischen Strukturen, um endlich wieder eine weitgehende Übereinstimmung zwischen gesetzlichem Leitbild und Lebenswirklichkeit herzustellen.
Die Modebegriffe „Momentum“ oder „Zeitfenster“ werden gerne aufgegriffen: Könnte die derzeitige Aufmerksamkeit für Fälle wie Kevin, welche viele Versäumnisse im Bereich des Kinderschutzes grell beleuchtet hat, nicht das „Momentum“, d. h. der politisch günstige Zeitpunkt für die überfällige Reform der Vormundschaft sein?! Oder anders gefragt: Welches „Zeitfenster“ gibt es für diese Reform, bevor es für weitere schutzlose Mündel zu spät ist?
Resümee: Anforderungen an den Gesetzgeber
Zu Vorrang und Förderung der Einzelvormundschaft
– Der ursprünglich gesetzlich fixierte Vorrang der Einzelvormundschaft wurde zum 1.7.2005 (2. Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 21.4.2005, BGBl 2005 I) dahingehend abgeschwächt, dass nur noch ein „ehrenamtlicher“ Einzelvormund der Amtsvormundschaft vorgeht (§ 1791a und § 1791b BGB), nicht also ein (vergütungsberechtigter) Berufsvormund. Diese Bevorzugung der Amtsvormundschaft schreibt die oben genannten Defizite fest. Sie sollte unbedingt rückgängig gemacht werden.
– Das Betreuungsrecht sieht dagegen bis heute eine klare Hierarchie vor, die die „Behördenbetreuung“ an letzte Stelle rückt. Ihr geht die Vereinsbetreuung vor, dieser die (ehrenamtliche oder berufliche) Einzelbetreuung (§§ 1897, 1900 BGB). Diese Regelung könnte Modell für die Minderjährigenvormundschaft sein, auch im Hinblick auf den Vorrang des (als Person bestellten) Behördenbetreuers vor der Behörde als Betreuer.
– Zu prüfen wäre ein an bestimmte Bedingungen geknüpfter gesetzlicher Vorrang von (Dauer-) Pflegeeltern als Vormünder oder Personensorgerechtspfleger (ca. 30 Prozent der Mündel leben in Pflegefamilien, davon sind nach neuesten Erhebungen ca. 90 Prozent Dauerpflegeverhältnisse, vgl. dazu: www.dji.de, Projekt Pflegekinderhilfe 2009).
– Familiengerichte sollten verpflichtet werden, die Benennung von Einzelvormündern bzw. die Begründung einer Fehlanzeige und entsprechender Rekrutierungsbemühungen durch die Jugendämter einzufordern – als Voraussetzung für die Einsetzung eines Amtsvormundes.
– Der Begriff der „Eignung“ des Vormunds, die das Familiengericht nach § 1779 Abs. 2 BGB zu prüfen hat, ist zu konkretisieren durch Kriterien wie etwa „Fallbelastung“ und „Qualifikation“.
Zur inhaltlichen Gestaltung der Vormundschaft
Der pauschale Verweis der Vormundschaft auf die Grundsätze der „Elterlichen Sorge“ reicht heute nicht mehr aus. Beteiligungsrechte und Grundrechtsgarantien für Mündel und Kontrollen zu ihrer Einhaltung müssen spezifisch geregelt werden, insbesondere wenn die Vormundschaft durch Ämter, Vereine und Berufsvormünder wahrgenommen wird und die Mündel in Institutionen leben. Hilfreich kann hier der Blick auf die 1992 erfolgte Reform der damaligen „Erwachsenen-Vormundschaft“ sein. Bei ihrer Umwandlung in die rechtliche „Betreuung“ sind die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen dem Betreuer und der von ihm betreuten (volljährigen) Person mit großer Sorgfalt neu geregelt worden. Im Folgenden wird daher jeweils auf entsprechende Regelungen im Betreuungsrecht hingewiesen, die Orientierungshilfen geben können, auch wenn sie nicht eins zu eins in der Minderjährigen-Vormundschaft umsetzbar sind. Es geht insbesondere um:
– Beteiligungsrechte des Mündels im Verfahren betreffend Auswahl und Wechsel des Vormunds (Betreuung: § 1897 Abs. 4 BGB)
– die Beachtlichkeit von Wohl und Wille des Mündels, das Recht zu eigener Lebensgestaltung im Rahmen seiner Fähigkeiten, unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit für den Vormund sowie der erzieherischen Verantwortung (Betreuung: § 1901 Abs. 2 und 3 BGB)
– die Beteiligung des Mündels an Entscheidungen des Vormunds: Besprechung vor und nach Entscheidungen (Betreuung: § 1901 Abs. 3 Satz 3)
– die Verpflichtung des Vormunds zur Förderung des Mündels, auch durch jeweils erforderliche und geeignete Erziehungshilfen (Betreuung: § 1901 Abs. 4 BGB)
– die gerichtliche Genehmigung für Risiko-Heilbehandlungen, z. B. mit Psychopharmaka (Betreuung: § 1904 BGB), und für freiheitsentziehende bzw. unterbringungsähnliche Maßnahmen (Betreuung: § 1906 BGB)
– Beschwerdemöglichkeiten des Mündels
– eine Spezifizierung der Berichtspflichten des Vormunds an das Familiengericht gemäß §§ 1837, 1839 BGB – evtl. mit Gegenzeichnung der Berichte durch das Mündel/die Erzieher/die Pflegeeltern
Zur Vermeidung von Interessenkonflikten
– Bei der Auswahl des Vormunds sollte bereits auf die Vermeidung von Interessenkonflikten geachtet werden (Betreuung: § 1897 Abs. 3 und 5 BGB). – Die Unabhängigkeit der Amtsvormundschaft bei der Vertretung der Kindesinteressen – auch gegenüber dem Jugendamt – muss gewährleistet werden. Zu prüfen wäre eine Verselbstständigung der Amtsvormundschaft vergleichbar der Betreuung in der Betreuungsbehörde. Zu bedenken wäre – auch im Blick auf Synergie-Effekte – die Zusammenfassung aller individuellen Interessenvertretungsaufgaben (Betreuung, Vormundschaft, Verfahrensbeistandschaft) in einer Behörde.
Prof. Dr. Ludwig Salgo ist Hochschullehrer am Institut für Wirtschafts- und Zivilrecht der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main und am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt/Main.
Prof. Dr. Dr. h.c. Gisela Zenz ist pensionierte Hochschullehrerin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main.
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