25 Jun fK 3/09 Haug-Schnabel
„Viel Aufklärung über den Sinn des freien Spiels ist nötig“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Dr. Joachim Bensel und PD Dr. Gabriele Haug-Schnabel, Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen, Kandern
Maywald: Das Thema „Frühe Bildung“ hat es auf einen vorderen Platz in der politischen Agenda gebracht. Gefragt sind vor allem Konzepte des immer früheren Lernens. Welche Rolle kommt dabei dem Spiel zu?
Haug-Schnabel: Vom Spiel ist in diesem Zusammenhang selten zu hören, höchstens davon, dass es unter Rechtfertigungsdruck kommt, ob es von pädagogischem Wert und somit von Nutzen ist. Dem neu erwachten politischen Gestaltungswillen sollte mit Skepsis begegnet werden, denn noch ist die Frage nicht geklärt, wem die Bildungsoffensive für Kinder im Vorschulalter letztlich nützen soll: den Kindern, um ihre sozialkognitiven Kompetenzen zu fördern und soziale Ungleichheiten am Lebensstart auszugleichen, den Eltern, um ihre Entscheidung für eine Familiengründung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit zu erleichtern oder dem Staat, da er auf wichtige Arbeitskräfte, Planer und Organisatoren nicht mehrere Jahre verzichten kann und außerdem Kinder schon früher und besser auf alle Anforderungen, die wir an die nächste Generation stellen, vorbereiten möchte. Viel Aufklärung über den Sinn des freien Spiels ist nötig, auch um Erzieherinnen Argumente zu liefern, warum Englisch, Französisch, japanisch Töpfern und chinesisch Trommeln nicht den Kindergartenalltag prägen müssen. Wenn das freie Spiel immer weiter zurückgedrängt wird, um Frühförderprogrammen mit Stundenplancharakter zum Zweck der Schulvorbereitung Platz zu machen, ist der eigenständige Wert der Frühpädagogik nicht verstanden. Wer nur auf möglichst homogene und möglichst frühe Schuleinsteiger hofft, verfolgt ein weder sinnvolles noch funktionierendes Ziel.
Maywald: Viele Pädagoginnen und Pädagogen sehen das kindliche Spiel vor allem als Mittel zum Lernen. Wird ein solches Verständnis der Bedeutung des Spielens gerecht?
Bensel: Wenn damit allein gezieltes schulrelevantes Lernen gemeint ist, mit Sicherheit nicht. Beim selbstvergessenen und selbst gewählten Spiel um des Vergnügens willen passiert viel nachhaltig Wichtiges. Ein Beispiel aus unserer Forschung: „Wie kommt ein Kind in eine schon bestehende Spielgruppe?“ Hierfür kann man ein Kind nicht schulen, diese Strategie erspielt es sich eigeninitiativ. Motivierte Kinder erkennen, dass sie sich in die bereits agierende Gruppe „hineinspielen“ müssen. Das gelingt, wenn sie hoch konzentriert das laufende Spiel beobachten und sich auf Spielinhalt und Spieltempo einstimmen. Durch einen passenden Minibeitrag signalisieren sie, am Spielablauf nichts ändern sondern nur mitspielen zu wollen. Das klappt, ihre aufmerksame Wahrnehmung und ihr intensives Hineindenken zeichnet sie als geeignete Mitspieler aus. Die so gewonnene Sozialkompetenz ist ein wichtiger Lernerfolg.
Maywald: Früher gehörte es zum Alltag in Familien, dass Eltern ihre Kinder aufforderten: „Geht mal raus spielen.“ Heute findet Spielen mehr und mehr in Institutionen wie zum Beispiel KiTas, Indoor Playgrounds oder Abenteuerspielplätzen und damit unter Anleitung oder zumindest Beobachtung von Erwachsenen statt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Haug-Schnabel: Natürlich hat sich die Lebensumwelt der Kinder geändert, höchst selten können wir sie „Bullerbü-artig“ losziehen lassen. Aber hinter dem veränderten Angebot steht auch die bange Frage verunsicherte Eltern „Biete ich genug Entwicklungsrelevantes?“ Und so wird Vieles, auch das Spiel „outgesourct“: Durchgeplante Aktivitäten, deren Terminstress in Kauf genommen wird, um gefürchtete Leerzeiten, in denen man einfach sich – auch mal in Ruhe – anbieten müsste, zu vermeiden. Wird man nach einem festen Programm berieselt, beschäftigt und bespaßt, stirbt schnell jede Spielbegeisterung und damit phantasievolles, die Motivation haltendes Spiel. Stehen wirklich Freiraum und freie Zeit zur Selbstgestaltung zur Verfügung, kann auch in einer künstlich gestalteten Umgebung Spielerisches entstehen. Dass viel Lohnendes einfach so und ohne Anleitung erspielt werden kann, zeigte bereits die Ethologin Heide Sbrzesny, die Anfang der 1970er Jahre bei den Kindern der !Ko-Buschleute in der Kalahari Verhaltensbeobachtungen durchführte. In dieser Muße-intensiven traditionalen Gesellschaft überraschte das höchst vielfältige Spiel der Kinder. Nach heutigen Bewertungskriterien waren motorische, sprachliche, musische, kognitive, sozio-emotionale, künstlerische sowie mathematisch-naturwissenschaftliche Elemente vertreten. Bei uns mehr außerfamiliäre Angebote zu schaffen, in denen Kinder geschützt aber unbeobachtet frei agieren und experimentieren können, ist eine lohnenswerte Aufgabe.
Maywald: Spiele sind gekennzeichnet durch ein Nebeneinander strenger (Spiel-)Regeln einerseits und kreativer Freiräume andererseits. Wie passt beides zusammen?
Haug-Schnabel: Sehr gut, denn beides gehört zusammen. Am deutlichsten wird dies beim „Rough-and-Tumble Play“, der spielerischen Aggression, bei der Angriff und Verteidigung gespielt werden, Täter und Opfer sogar immer wieder die Rollen wechseln, weil es nicht um Sieg, sondern um möglichst langen Spielgenuss geht. Bei diesem eher riskanten Spielthema müssen klare Regeln existieren, die jedes Kleinkind übrigens schon beim „Kämpfen“ mit dem körperlich weit überlegenen Elternteil erleben und lernen sollte: beiden, Angreifer wie Verteidiger, muss das Spiel Spaß machen. Das erkennt man am Lachen, an Zeichen der Verbundenheit, aber auch daran, dass dem „Feind“ Hilfestellung gegeben wird oder der Stärkere sich selbst handicapt, damit gemeinsam weitergespielt werden kann. Wenn ein Mitkämpfer Angst bekommt und Stoppsignale sendet, muss der spielerische Kampf sofort beendet werden, denn sonst wird es Ernst. Werden die Regeln beachtet, kann Raufen zu intensivem Spiel führen.
Maywald: Bei Kindergeburtstagen ist es heute vielfach üblich, dass jedes eingeladene Kind etwas geschenkt bekommt. Mit der wachsenden Flut von Spielzeugen sinkt zugleich der Wert einzelner Spielgegenstände. Wie viel Spielzeug braucht ein Kind?
Bensel: Eigentlich sollte das Eingeladensein an diesem besonderen Tag Geschenk genug sein. Wie viel Spielzeug braucht ein Kind? Eher wenig, eher Zeug zum Spielen als Spielzeug! Vielseitig bespielbares, manipulierbares, zweckfreies Material, das der Fantasie und Eigengestaltung Raum lässt. Wir haben spielzeugfreie Projektzeiten in Südtiroler und Wiener Kindergärten begleitet. Aus Plastikflaschen werden Puppen und Musikinstrumente, ein eingedellter Ball zur Kostbarkeit, um mit ihm Wasser zu schöpfen, der letzte Rest von Riesenkartons wird zu Memory-Kartenpärchen verarbeitet, die sozialen Interaktionen nehmen zu und jedes Kind erlebt sich als Gewinner.
Maywald: Jedes Kind klagt manchmal über Langeweile und weiß nicht, was es spielen soll. Vielen Eltern bereitet dies Sorgen und sie machen dem Kind ein Angebot nach dem anderen, oft vergeblich. Was raten Sie Eltern in solchen Situationen?
Bensel: Langeweile ist keine Erfindung unserer Zeit, Langeweile ist ein normales und hilfreiches Gefühl, das uns merken lässt, wenn die momentane Tätigkeit keine neuen Reize mehr bietet und dazu auffordert, nach erneut Anregendem zu suchen. Oft schließt sich an ein intensives Spiel eine Phase des ungerichteten Suchens an. Kinder laufen dann ziellos umher, nehmen viele Dinge unschlüssig in die Hand und warten gelangweilt auf einen neuen Impuls. Wer sich selbst vom Gefühl der Langeweile befreien kann, erlebt Selbstwirksamkeit. Für Erwachsene gibt es einen dezenten Trick, indem man aufzählt, was das Kind machen könnte: malen, ein bisschen tanzen, in den Garten gehen, die Sophie anrufen… „Halt!“, ruft das Kind, „ich weiß schon, was ich mache. Ich schreibe Oma einen Brief und höre dabei eine Kassette!“
Maywald: Manche Kinder entwickeln eine dauerhafte Spielunlust und ihr Spiel verarmt. Wie können Spielstörungen erkannt werden und welche Hilfen sind möglich?
Haug-Schnabel: Kinderspiel, Neugier und Kreativität pur können sich nur in einer entspannten spielerischen Atmosphäre entfalten, nicht bei ständig gesteigerter Angst als Folge frühkindlicher Bindungsunsicherheit. Wird Spielbegeisterung seltener und kommt immer mehr Spielunlust auf, muss bedacht werden, dass es nur noch wenige Spielräume für Kinder gibt, die frei von Beobachtung und Kontrolle sind, so dass spielende Kinder immer mit Maßregelung und Interventionen rechnen müssen oder gar mit guten Ratschlägen, wie etwas schneller, besser, fehlerfrei und vor allem sauberer geht. So wenig wie möglich in kindliches Tun einzugreifen, ist ungeheuer wichtig, jedes Eingreifen durchbricht und stört die dem Kind eigene Vorgehensweise. Es geht damit die Chance verloren, dass das Kind die Lösung selbst findet und das Ergebnis als eigene Leistung und Kompetenzsteigerung abbuchen kann, was automatisch zum nächsten Spiel lockt.
Maywald: Fernsehen für die Kleinen, Computer-Spiele bereits im Kindergarten: die elektronischen Medien mit ihren für Kinder faszinierenden Angeboten machen den traditionellen Spielen Konkurrenz. Welche Orientierungen können hier gelten?
Bensel: Nicht zwangsläufig werden für Kinder Fernsehen und Computerspiele zu einer echten Konkurrenz zum „richtigen“ Spielen. Das hängt viel eher davon ab, wie attraktiv der alternative Spielgenuss ist, wie viele Möglichkeiten, vielfältig mit anderen Kindern zu spielen, existieren und wie leicht der Zugang zu anderen Kindern und Spielwelten im Freien ist. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Fernsehen, Computerspielen und Internet kann nur im sozialen Miteinander mit den Eltern oder mit den Erzieherinnen in der Kita gelernt werden. Zu einer modernen Pädagogik gehört auch der richtige Umgang mit den neuen Medien. Auch der Vorbildcharakter der Erwachsenen spielt eine große Rolle. Es geht um ein dosiertes und altersentsprechendes Angebot einer neuen Kulturtechnik, die gewinnbringend eingesetzt aber auch missbraucht werden kann. Wirklich verlockend und dominierend werden die Medienangebote, wenn sie ohne Aufwand dauernd zur Verfügung stehen. Müssen sie mit echtem Kinderspiel und gemeinsamen Familienaktivitäten oder Aktionen mit Freunden konkurrieren, gewinnen sie nicht automatisch.
Maywald: Beim Thema „Pistolenspiel“ prallen oft sehr unterschiedliche Ansichten aufeinander. Während die einen das kindliche Spiel mit selbst gebastelten Waffen als harmlosen oder sogar notwendigen Ausdruck kindlicher Phantasie ansehen, betrachten andere diese besonders bei Jungen beliebten Spiele als Vorstufe zu gefährlichem Gewalthandeln. Was ist Ihre Meinung?
Haug-Schnabel: Es gibt keine Kultur ohne Kampfspiele und gerade diese haben oft eindeutig eine Aggressionen regulierende Funktion. Es wird nur so getan, als ob gekämpft, erstochen oder erschossen würde. Das Zauberwort heißt „Als-ob“. Die Wahrnehmung der eigenen Aggressionen, der eigenen zerstörerischen Möglichkeiten – übrigens bei jedem Kind, auch bei Mädchen immer vorhanden – ist für eine normale Entwicklung hilfreich, vorausgesetzt, die Aggressionen und destruktiven Potentiale verbleiben im „Als-ob-Raum“. Sie werden in Spielszenen durchspielt, in der Phantasie durchlebt oder in selbst erfundene Geschichten eingebaut, also als Gefühlsregungen zur Kenntnis genommen und dadurch bearbeitet. Und zwar so bearbeitet, dass sie weit weniger bedrohlich erlebt werden, weil es Worte dafür gibt. Im „Als-ob-Raum“ kann man probedenken und probehandeln. Das sind ungefährliche Vorstufen des realen Tuns: ausprobieren, ohne mit den Konsequenzen konfrontiert zu werden. Es handelt sich um einen gesunden Umgang mit dem eigenen Innenleben und seinen Turbulenzen. Durch fiktive Spielszenarien ergibt sich die Möglichkeit, an der Alltagswirklichkeit wie auch an emotional beanspruchenden Themen andere Kinder teilzuhaben, sich Zusammenhänge verständlich zu machen, Erfahrungen auszutauschen und von einander zu lernen.
Maywald: Wenn Eltern gefragt werden, was ihnen am meisten für ihre Kinder fehlt, lautet die Antwort sehr häufig: Zeit. Was müsste sich ändern, damit Eltern mehr zeitliche Spielräume für ihre Kinder gewinnen?
Bensel: Kaum ein Volk hat so viel Freizeit wie wir Deutschen, doch scheinen wir deren Kostbarkeit noch nicht zu unserem eigenen Nutzen und zum Nutzen unserer Kinder einzusetzen. Es geht um Prioritäten setzen, gerade in der Familienzeit mit kleinen Kindern. Viele selbst gemachte Sachzwänge, zum Beispiel im Haushalt, halten davon ab, gemeinsame Familienzeit zu erleben und zu genießen. Und das, obwohl wir wissen, dass die Effekte der Qualität des Familiensettings auf die Bildung und Entwicklung eines Kindes zwei bis vier Mal so groß sind wie die Effekte der Qualität einer außerfamiliären Betreuung. Gemeinsame Mahlzeiten, Kochen, Tischdecken, Gäste bewirten, Vorlesen, Spielen, Haushaltsführung und Wochenendgestaltung sind familiäre Bildungsepisoden von beeindruckender Nachhaltigkeit und hohem Genusswert.
Maywald: Nach Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder ein Recht auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung. Können alle Kinder in Deutschland dieses Recht auch tatsächlich ausüben oder gibt es hier Defizite?
Haug-Schnabel: Eigentlich müssten alle Kinder in Deutschland dieses Recht ausleben können, aber die Praxis kann anders aussehen: Durch viele organisierte Freizeitaktivitäten, die allesamt bewusst fördern sollen, wird der zeitliche Freiraum immer weniger. Der selbst bestimmte Aktionsradius wird kleiner, die Lebenswelten an einem Tag immer verinselter und ohne die Möglichkeit, dass ein Kind sie von sich aus erreichen kann. Wenn ein Angebot das andere jagt, kann kein genussvolles und fruchtbares Vertiefen stattfinden, das wäre aber die Voraussetzung, um Zusammenhänge zu verstehen und sich die Welt in seinem Tempo und gemäß seinem Interesse anzueignen. Manche Eltern denken, dass, wenn viel angeboten wird, auch mehr hängen bleibt und der wuchernde Bildungsmarkt bestätigt sie in dieser Meinung.
Maywald: Wenn Sie einmal ein oder zwei Generationen zurückblicken, konnten Kinder früher besser spielen?
Haug-Schnabel: Ich bezweifle generell, dass früher alles besser gewesen sein soll. Doch ich denke, dass es den Eltern heute mehr an der Zuversicht in kindliche Entwicklungsverläufe fehlt. Das Misstrauen gegenüber „normalen“ Kindergärten und „normalen“ Schulen ist groß, leider nicht, weil die Pädagogik zu Recht hinterfragt wird, sondern weil die Angst dominiert, das Kind würde dort zu viel Zeit verspielen. Freies spontanes Spiel mit oder ohne Spielzeug wird zu oft durch „von außen“ gesteuertes Erleben ersetzt. Die neue Erkenntnis, dass Kinder nicht belehrbar sind, sondern sich selbst bilden, macht Angst statt Hoffnung.
Maywald: Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit das Spiel einen angemessenen Platz im Alltag von Kindern in Familie, Kita und Schule einnehmen kann?
Bensel: Den Kindern mehr zutrauen, die Angst vor einer verpassten Frühförderung besiegen. Es braucht ein Umdenken, denn nichts spricht für die Notwendigkeit geplanter Förderbetriebsamkeit, nichts weist darauf hin, dass nur gezielte Aktivitäten zu erwünschten neuronalen Vernetzungen führen. Gerald Hüther zeigt, dass die so wichtige Ausbildung des Frontalhirns nur möglich wird, wenn man Räume und Gelegenheiten schafft, wo Kinder sich selbst erproben können und möglichst viele und möglichst unterschiedliche andere Menschen mit ihren vielfältigen Fähigkeiten und Fertigkeiten kennen und schätzen lernen. Der Verhaltensbiologe Bernhard Hassenstein beschreibt, dass das Kleinkind seine besten Lehrer in sich selbst hat. Es ist hoffnungslos, seine angeborenen Lernstrategien und die dazu gehörigen Motivationen durch von außen aufgeprägte Lehrpläne ersetzen zu wollen. Diese können im Kleinkindalter nur stören, indem sie die zur Natur des Kindes gehörigen, weit sinnvolleren Lernstrategien verdrängen. Und diese zeigen sich in einem Spiel in anregenden Umgebungen, ohne Vorgaben und Zeitdruck, ohne Leistungsdruck und Bewegungseinschränkung.
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