fK 6/11 Kobelt Neuhaus

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kindertageseinrichtungen exklusiv inklusiv

Praxis zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Von Daniela Kobelt Neuhaus

Entlang des Buches „Jesus Betz“ von Bernard & Roca, erschienen 2002 im Gerstenberg Verlag, zeichnet die Autorin nach, wie viele Stolpersteine und Barrieren Menschen mit Behinderung auf dem Weg zu einer selbstverständlichen Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Alltag begegnen. Die Autorin versteht Inklusion als Vision, an der sich auch und vor allem professionelle Pädagog(inn)en orientieren sollen, warnt jedoch vor totalitären Inklusionsansprüchen und zeigt auf, dass „erfolgreiches und glückliches Leben“ keiner Norm zugeordnet werden kann.

Inklusionstheoretisch gesehen wäre es wunderbar, jeder Mensch könnte in eine Welt hineingeboren werden, die ihn wertschätzend und freudig empfängt und die alles bereithält, damit er sein Potential entfalten kann. Und es wäre wünschenswert, dass er im Dialog mit seiner Umgebung wirksam Einfluss nehmen kann auf die eigene und die Entwicklung der Gesellschaft. Leider ist unbestritten, dass diese Voraussetzungen nicht gegeben sind und auch nicht schlagartig geschaffen werden können.

Inklusion fordert die selbstverständliche Teilhabe und Teilnahme aller Menschen, unbesehen ihrer Herkunft, ihrer kulturellen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer mitgebrachten Kompetenzen. Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention am 26. März 2009 ist in Deutschland insbesondere der Blick auf die Barrieren für Menschen mit Behinderung gelenkt worden. Über die Schädigung ihres Körpers, ihres Geistes oder ihrer Seele hinaus begegnen sie in ihrer Um- und Mitwelt Hürden, die aus vielfältigen Gründen entstanden sind oder errichtet wurden und die sie an einer optimalen Entwicklung und Entfaltung hindern. Diese Barrieren gilt es zu identifizieren und schrittweise zu beseitigen. Dabei geht es nicht nur um strukturelle oder institutionelle Rahmenbedingungen, die nicht passen. Auch in persönlichen Beziehungen und Kommunikationsprozessen finden sich Barrieren, die ausgrenzend und behindernd wirken. Davon betroffen sind vor allem Menschen, die nicht den Erwartungen einer Mehrheit entsprechen und die Gefühle der Fremdheit auslösen. Dazu gehören auch Kinder mit Behinderungen und ihre Familien.

„Geburt gelungen, aber ihr Kind ist behindert“
Einen solchen oder ähnlichen Satz hören Frauen bis heute, die – wie die Mutter von Jesus Betz – ein Kind mit einer Schädigung zur Welt bringen. Fräulein Betz nannte ihr Kind Jesus, weil es am Heiligabend zur Welt kam und weil sie ihr Kind als Geschenk sah. Etwas Eigenes, etwas zum lieb haben – aber leider auch etwas, das zu vielen Sorgen Anlass gab. Die fehlenden Beine und Arme des Kindes implizierten nicht nur die pflegerische, sondern auch die soziale Abhängigkeit von der Mitwelt. „Ein Klotz am Bein“, sagte Fräulein Betz, die Mutter, und wurde gleichzeitig nicht müde, seine Fähigkeiten und Kompetenzen herauszustreichen. Sie meldete ihn im Kirchenchor von Nantucket an und ließ seine Stimme ausbilden.

Kinder mit Behinderung spüren – sobald diese erkannt ist, aber manchmal auch schon davor – dass etwas nicht stimmt. Sie spüren das Entsetzen der Ärzte und Krankenschwestern, die sorgenvollen Blicke der Eltern, die auf ihnen ruhen. Sie fühlen sich trotzdem geborgen, wenn es den ersten Bezugspersonen gelingt, sie als Kleinkind und Kind wertschätzend anzunehmen und an eine Zukunft für ihr Kind zu glauben. Gerade dies jedoch fällt Eltern schwer, die erfahren, dass ihr Kind eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung mitbringt und damit auch Behinderung erfährt. Elterliche Sorgen spiegeln sich in allen ihren Handlungen mit dem Kind. Insbesondere körperlich sichtbare oder die Kommunikation beeinträchtigende Behinderungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit führen schon in der frühesten Kindheit, auch in der Kommunikation mit der Verwandtschaft oder mit den Nachbarn, zu verkrampften Beziehungen, zu Erklärungsbedürfnis, zu Mitleid oder manchmal auch einfach zu Befremdung. Auch dies entgeht einem Kind nicht, das sozusagen zwischen den Fronten steht, falls die Eltern überhaupt in der Lage sind, solche auszuhalten oder aufzubrechen. Eltern sind oft überfordert oder auch verschreckt. Die immensen Fortschritte der pränatalen Medizin und die frühen Erkennungsmöglichkeiten von einigen Behinderungen führen dazu, dass Eltern sich rechtfertigen müssen, überhaupt ein geschädigtes Kind auf die Welt zu bringen, das künftig nur dem Steuerzahler zur Last fallen wird. Auch wenn nur ein Bruchteil aller Schädigungen schon vorgeburtlich festgestellt werden kann und objektiv gesehen viele Behinderungen erst im Verlauf der frühen Kindheit erkennbar sind, fühlen sich einige Eltern unwohl damit, ein Kind mit Behinderung zu haben. Sie versuchen alles zu tun, damit ihr Kind sich der normierten Erwartung gemäß entwickeln kann.

Damit Barrieren in den Köpfen der Menschen und in den Strukturen beseitigt werden können, bedarf es auch heute noch des besonderen Engagements von einzelnen Personen, die Inklusion wollen. Jesus Betz sagt: „’Die Beine in die Hand nehmen’, ‚Die Hände in den Schoß legen’, diese Redensarten habe ich immer gehasst“ (Bernard, Roca 2002, S. 5) Er weist darauf hin, wie stark die Gesellschaft vom Bild der Normalität geprägt ist und wie wenig sensibel. Nachdem der Pfarrer die Nutzlosigkeit des Jungen, der trotz seines Namens noch nicht einmal an das Kreuz genagelt werden könne, weil ihm dazu die Gliedmaßen fehlten, bestätigt hatte, gelang es der Mutter, für ihr Kind einen Platz als Ausguck auf einem Walfänger zu finden. Die Mutter war tief verletzt und weinte. Aber sie widersetzte sich erfolgreich den Anfeindungen und den Aussonderungstendenzen der Gesellschaft. Sie glaubte an ihren Sohn und daran, dass es Aufgaben gibt, die ihr Sohn erfüllen kann. Man muss diese nur finden. Dabei wurde sie sehr kreativ in ihrer Suche. Ihr Sohn, Jesus Betz, sah sie weinen, begriff aber ihr Zutrauen und ergriff die Chancen. Er schreibt darüber, dass er sich glücklich und selbstwirksam fühlt.

Schon in den 1970er und 1980er Jahren sind es vor allem die Eltern gewesen, die sich für ihre Kinder mit Behinderung stark gemacht haben. Diese Bewegung hat insbesondere im Elementarbereich Früchte getragen. Wie Bremen und Hessen unterstützen inzwischen auch andere Bundesländer wenigstens im Elementarbereich eine mehr oder weniger selbstverständliche Aufnahme von Kindern mit Behinderung in allen Tageseinrichtungen für Kinder. Dabei werden bevorzugt integrative Gruppen gebildet, weil sie suggerieren, man könnte dort durch angemessenes Fachpersonal allen Kindern gerecht werden. In der Praxis kommen aber auch in integrativen Gruppen so verschiedene Kinder zusammen, dass das Fachwissen um die besonderen Bedürfnisse und Ressourcen der einzelnen Kinder und die adäquaten pädagogischen Handlungen mit jedem neuen Kind neu entwickelt, überprüft oder verändert werden müssen.

So ist in einem Jahr ein Kind mit körperlicher neben Kindern mit geistiger Schädigung in der Gruppe und im nächsten Jahr kommen möglicherweise Kinder mit Sinnesschädigung oder Kinder mit schwerer mehrfacher Schädigung dazu. Letztlich sind die Folgen von Schädigungen so unterschiedlich, dass es kaum möglich ist, für alle Eventualitäten die richtigen Pädagog(inn)en oder Therapeut(inn)en vorzuhalten. In jedem Fall ist es ratsam, auch externe Expert(inn)en dazu zu ziehen oder an einem runden Tisch mit einem interdisziplinären Team zu beraten, wie die Selbstbildung des Kindes am besten unterstützt werden kann. Es reicht nicht, additiv Verbesserungen eines veralteten Systems einzufordern, sondern es bedarf einer systemischen Neuordnung der Pädagogik, soll der Inklusionsgedanke wirklich umgesetzt werden.

Inklusion bedeutet eine tiefgreifende Reform gesellschaftlicher Vorstellungen und des Bildungssystems. Die Herausforderungen an interdisziplinäre Fachkräfte im inklusiven Elementarbereich verbergen sich hinter den folgenden drei Punkten, die als logische Konsequenz aus der UN-Behindertenrechtskonvention abzuleiten sind: (1) Anderseins als moralisches Prinzip wahrnehmen und anerkennen, (2) im System allgegenwärtige Barrieren abbauen, (3) das Lernen selbstverständlich am Ort des Geschehens begleiten.

Anderseins als moralisches Prinzip wahrnehmen und anerkennen
Wie kann es gelingen, jedem Menschen ausgehend von seinen Ressourcen und Bedürfnissen ein gelingendes Aufwachsen und in der subjektiven Bewertung eine erfolgreiche persönliche und gesellschaftliche Karriere zu ermöglichen? Bislang bringen Kinder mit einer anerkannten Behinderung in ihrem Rucksäckchen zusätzliche finanzielle Ressourcen in die Einrichtung. Damit soll dafür gesorgt werden, dass sie ein angemessenes und förderliches Bildungs- und Erziehungsangebot erhalten. Über die Anerkennung einerseits und die Angemessenheit und die Passgenauigkeit der Förderung andererseits entscheiden wesentlich die Geldgeber und die Institutionen. Mit dieser Individualförderung ist Schwarz-Weiß-Denken vorprogrammiert. Die Feststellung eines besonderen Förderbedarfs und damit die Zuteilung von finanziellen Ressourcen wird durch den § 39 BSHG geregelt. Für die Zuerkennung eines erhöhten Bedarfs an zusätzlicher sozialpädagogischer Hilfe ist vielerorts nicht allein die Zuordnung zum Personenkreis der Behinderten ausschlaggebend, sondern es muss auch ein aus der Behinderung folgender, tatsächlicher Bedarf an zusätzlichem sozialpädagogischem Personal festgestellt werden. Ausschlaggebend, weil messbar, ist in der Regel der pflegerische Mehraufwand, nicht aber die inklusive und präventive Pädagogik für alle Kinder in der Gruppe, die verhindert, dass aus Schädigungen Behinderungen werden. In der Tat ist es so, dass zusätzliche pflegerische Maßnahmen oft unabdingbar notwendig sind, um einem Kind überhaupt den Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe zu ermöglichen. Darüber hinaus bedarf Inklusion in Anbetracht der Vielfalt an Kindern und Familien, die in einer Kindertageseinrichtung zu einer Lerngemeinschaft werden, einfach mehr Ansprechpartner als die bisherigen Fachkräfteschlüssel hergeben. Sonst ist es kaum zu vermeiden, dass der Einfachheit halber die Kinder mit Behinderung wieder zusammengezogen werden und in den Einrichtungen wieder von i-Kindern (= Integrations-Kindern) und anderen Kindern gesprochen wird. „I“ ist übrigens bei den meisten Menschen in Deutschland mit „bäh“ gleichgesetzt. Daher sollte dieser Begriff überhaupt nicht mehr verwendet werden.

Auch Jesus Betz wird im gleichnamigen Bilderbuch in die Monsterecke zurückzitiert, als er sich in die schöne Suma Katra verliebt und sich ihr zu nähern versucht. Dabei fühlt er sich stark und weiß um seine Stimmgewalt.

Individualförderung und Verbesserung von Leistung reichen nicht aus, um sich zugehörig zu fühlen oder gar den Sonderstatus zu verlieren. Wird Zielgleichheit von Leistungen als Maßstab gesetzt, gelingt Inklusion nicht. Genauso wenig gelingt sie, wenn jährlich und teilweise halbjährlich mittels enormem bürokratischen Aufwand für Eltern und Einrichtungen dargelegt werden muss, dass die Förderung weiter fließen soll. Aus Sicht der Geldgeber, die überall nach Sparquellen suchen, ist die Überprüfung einer bedarfsgerechten Mittelverwendung sicher angemessen. Aber letztlich treibt sie Stilblüten, wenn zum Beispiel einem Kind mit Down-Syndrom das Rucksäckchen abgesprochen wird, weil es im Vergleich mit gleichaltrigen Kindern keinen aktuellen besonderen Förderbedarf habe. Dies, obwohl im SGB IX auch die präventive Sorge vorgesehen ist.

Die Akzeptanz des Anderseins als moralisches Prinzip kann nicht in einem Setting umgesetzt werden, in welchem Anderssein unterschiedliche Wertigkeit zugesprochen wird. Das Prinzip kann nur greifen, wenn das System so verändert wird, dass potentiell das System aller Einrichtungen so gut ausgestattet ist, dass jedes Kind selbstverständlich in jeder Einrichtung aufgenommen und adäquat gefördert werden kann. Eine Lösung für diese Ausgangslage wäre die Schaffung von Pools, die Unterstützung in Form von Personen, Wissen und Können bereithalten und je nach Bedarf die Pädagoginnen und Pädagogen in den Einrichtungen so unterstützen, dass sie in der Lage sind, jedes Kind angemessen zu empfangen und zu begleiten.

Im System allgegenwärtige Barrieren abbauen
In Verbindung mit Inklusion werden meist die strukturellen Barrieren als erstes genannt. Dabei geht es um fehlende Toiletten für Rollstuhlfahrer, die für drei Viertel aller Behinderten gar nicht notwendig sind oder um eine zweite Etage, die ohne Lift erreicht werden muss. Barrierefreiheit lässt sich zunächst mit den einfachen Fragen des Qualitätsmanagements PDCA überprüfen und entwickeln: Plan: Erkennen, was ist und entwickeln eines barrierefreien Handlungs-Konzeptes Do: Ausprobieren, ob das Geplante „passt“ (auf das Kind, auf seine Eltern, auf seine/ihre Bedürfnisse in dieser Situation und inwiefern es das Kind und die Familie stärkt und ihrer Entwicklung stützt. Dazu sind auch ungewöhnliche Veränderungen nötig wie zum Beispiel der Bau eines Podestes für ein Liegekind, damit es auf Augenhöhe mit den anderen Kindern spielen und lernen kann. Check: Reflexion/Überprüfung der Entwicklung Act: Durchführung und „Normalität“ herstellen im Angebot für dieses Kind, in dieser Situation, unter diesen Umständen

Wenn es um Inklusion geht, sind es weit häufiger die Barrieren im Kopf der Menschen, die den Prozess verhindern, als strukturelle Rahmenbedingungen. Mitarbeiter(innen) in inklusiven Settings brauchen neue Qualitäten und Kompetenzen, die wesentlich aus einer inklusiven Haltung der grundsätzlichen Wertschätzung und Anerkennung gespeist werden und die sie in ihrer Ausbildung eher selten erwerben konnten.

Über eine herkömmliche Qualifikation zur Erzieherin hinaus benötigen sie vertiefte Kompetenzen in Analyse und Beobachtung, in interdisziplinärer und vorurteilsbewusster Kommunikation und Kooperation. Sie benötigen einen neuen Blick auf der Erwachsenenebene für die Zusammenarbeit mit Eltern, die aufgrund der Schädigung und Behinderung ihrer Kinder bereits vielfache Schwierigkeiten überwinden mussten und noch mehr vor sich haben. Wissen um sozialräumliche Netzwerke und um deren Aufbau sollte in inklusiven Einrichtungen vorhanden sein. Angesichts der Vielfalt der Kinder und ihrer Bedürfnisse und Ressourcen ist auf jeden Fall Improvisations- und Reflexionskompetenz notwendig, um den immer wieder neuen Herausforderungen begegnen zu können. Und nicht zuletzt brauchen die Fachkräfte im Elementarbereich ein aktuelles pädagogisches Know-how wie auch Faktenwissen über die gültigen rechtlichen Grundlagen im Bildungsbereich und über die Möglichkeiten der Finanzierung von besonderen Angeboten.

Es gilt, die eigenen professionellen Handlungsziele und die dahinter liegenden Hypothesen stets an der Realität des gemeinsamen Lernens von Kindern zu überprüfen. Typische Fragen dazu sind: (1) Habe ich nicht doch einen heimlichen Lehrplan für dieses Kind (und seine Familie) im Kopf? (2) Kann ich es zulassen, mich auf das Tempo, die Interessen und die Kommunikations- und Bildungsangebote des Kindes einzulassen? (3) Schaffe ich es, ausgehend von besonderen Bedürfnissen interessante Lernfelder zu eröffnen, die viele Kinder interessieren? (4) Welche Brücken muss ich bauen, welche Türen öffnen?

So aufgelistet ist nachvollziehbar, dass viele Fachkräfte sich fragen, was sie denn noch alles tun sollen. In der Tat erinnert die Forderung stark an die Eier legende Wollmichsau. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass die Forderungen vor dem Hintergrund eines alten Systems gestellt werden. Es wird versucht durch „mehr“ Wissen und „mehr“ Können nachzubessern. Das Phänomen ist unter dem Motto „viel hilft viel“ hinlänglich bekannt, aber bereits in der Medizin und in der Pädagogik mehrfach als ineffektiv entlarvt worden.

Das Lernen selbstverständlich am Ort des Geschehens begleiten
Um wirklich inklusiv arbeiten zu können, müssen alte pädagogische Ansätze und Grundannahmen neu überprüft, Einrichtungen geöffnet und die klassischen Kita-Teams durch ein System von kooperierenden Spezialist(inn)en und Expert(inn)en ergänzt und/oder teilweise ersetzt werden. Immer wieder hört man das Argument, Inklusion in diesem Sinne würde zu teuer werden. Dass Inklusion etwas kostet, kann ich nicht bestreiten. Aber zunächst könnten eine Umstrukturierung bisheriger Systeme und eine Auflösung starrer und segregierender Regeln bestehende Ressourcen ausschöpfen, wenn zum Beispiel immer weniger Extra-Gruppen notwendig würden. Bislang gibt es gerade in integrativen Settings die Extraturner, die Sprachförderkinder, die Vorschulkinder, die Forscherkinder und andere Fördergruppen. Sie richten sich in der Regel an Kinder mit Nachholbedarf oder besonderem Vorbereitungsbedarf und fassen die Kinder defizitorientiert zusammen.

Hintergrund dieser besondernden Gruppen ist unter anderem die Angst, Kinder ohne oder Kinder mit Behinderung könnten gemeinsam nicht genügend lernen. Es ist unerklärlich, warum sich hartnäckig das Vorurteil hält, in homogenen Gruppen würden Kinder besser lernen, obwohl einige Studien dazu andere Aussagen machen (vgl. Klemm, 2010). Adriano Milani Comparetti, ein italienischer Kinderneurologe und -arzt vermutet einen emotionalen Hintergrund, der zur Ausgrenzung führt. Er „geht davon aus, dass die Begegnung mit einem behinderten Kind Angst macht. Gegen diese Angst wird der Versuch einer omnipotenten Verteidigung aufgebaut, die es leichter macht, sie zu ertragen. Die Behinderung wird entweder gar nicht erst wahrgenommen (‚Position der Verleugnung’) oder um jeden Preis bekämpft (‚schizo-paranoide Position’). Auf diese Weise soll das ‚Böse’ ausgetrieben werden“ (Milani Comparetti 1996). Aus diesem Blickwinkel heraus ist es nicht erstaunlich, wenn mir Mitarbeiterinnen einer Behinderteneinrichtung versichern, dass bei ihnen in der Einrichtung Behinderung keine Rolle spiele.

Fazit
Inklusion erfordert von allen Verantwortlichen eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Haltung und mit behindernden Strukturen. Dazu gehört unter anderem die Versäulung der politischen Zuständigkeiten, die ein ganzheitliches Lernen und sich Bilden bisher kaum zulassen. Inklusives Lernen gelingt da, wo Gesundheitswesen mit dem Bildungs- und Erziehungswesen zusammen gedacht werden kann und wo nicht die System- und Finanzstrukturen, sondern die Menschen im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Inklusion wird nur dort zur Chance, wo die Differenz sehr wohl wahrgenommen wird, das Verbindende aber trägt. Das Verbindende wäre zum Beispiel das Wohlergehen und die Nicht-Aussonderung aller Kinder, ein System, das sich den Bedarfen der Menschen anpasst und nicht umgekehrt, versucht, die Kinder in eine bestehende Struktur einzupassen.

Die Resilienzforschung (Wustmann, 2008) hat gezeigt, dass es nicht objektive und allgemeingültige Kriterien sind, die Menschen das Gefühl geben, glücklich, erfolgreich und selbstwirksam zu sein. Es ist wesentlich eine subjektive Bewertung des eigenen Lebens, die in der Beziehung zur nächsten Um- und Mitwelt entsteht, welche das persönliche Glück ausmacht. Eine künstliche Trennung von „fähigen“ und „unfähigen“ Menschen ist immer mit einer Bewertung und potentiellen Entwertung von Menschen gekoppelt, so gut sie auch gemeint ist. Selbst wenn im Elementarbereich bundesweit bereits Grundlagen zur gemeinsamen Bildung und Erziehung von Kindern mit und Kindern ohne Behinderung im Alter von drei bis sechs Jahren geschaffen wurden, gilt es gerade im Zuge des Ausbaus der Betreuung für Kinder unter drei Jahren intensiv auch über die flächendeckende adäquate Begleitung der Jüngsten nachzudenken. Und noch viel dringender ist der Ausbau von inklusivem Denken und Handeln nach oben. Noch arbeiten Grund- und Regelschulen sowie weiterführende Schulen je höher der Abschluss desto weniger integrativ. Es reicht nicht, den Begriff der Integration nun durch den Begriff der Inklusion zu ersetzen, wie einige Politiker es tun. Inklusion wäre erst dann erreicht, wenn alle Ebenen der Gesellschaft der Verschiedenheit individuell gerecht begegnen, wenn das System von Unterschiedlichkeit ausgeht und diese als Normalität betrachtet und wenn gleichzeitig die Solidarität zwischen den Verschiedenen immer wieder neu geschaffen wird und die Teilhabe an der Gesellschaft nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern auch für Menschen mit Migrationshintergrund, für Männer und Frauen usw. selbstverständlich ist. Behinderung ist dann nur ein Aspekt der Verschiedenheit. So gesehen sind wir von Inklusion noch ziemlich weit entfernt.

Daniela Kobelt Neuhaus ist Pädagogin und Mitglied im Vorstand der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie in Bensheim.

Literatur
Bernard, F., Roca, F. (2002): Jesus Betz. Verlag Gerstenberg.

Klemm, K. (2010): Gemeinsam lernen. Inklusion leben. Status Quo und Herausforderungen inklusiver Bildung in Deutschland. Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-5EE3C06D-B5EA6E45/bst/xcms_bst_dms_32811_32812_2.pdf (Abruf 15.11.2011).

Milani Comparetti, A. (1996): Von der „Medizin der Krankheit“ zu einer „Medizin der Gesundheit“. http://bidok.uibk.ac.at/library/comparetti-milani_medizin.html (Abruf 20.11.2011), entnommen aus: Janssen, E.; Lüpke, H. von (1986): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 16 -27.

Wustmann, C. (2008): Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz.

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