24 Jun fK 6/09 Resch
In unserem Blickfeld muss die Qualität der Tagesbetreuung stehen
Begrüßung und Einführung in die Jahrestagung der Deutschen Liga für das Kind „Für die Jüngsten das Beste. Gute Qualität in Krippe und Kindertagespflege“ am 16./17.10.2009 in Berlin
von Franz Resch
Wir leben in einer Welt der Unüberschaubarkeit. Wir hegen Hoffnungen eines vereinten Europas, das von den Rändern her allerdings durch bewaffnete Konflikte eingeengt wird. Die Welt wird täglich an Krisenherden reicher, obwohl oder gerade weil wir einen Zenit an Machbarkeit, beispielsweise in Computertechnologie, Biotechnologie und Nanotechnologie erreicht haben. Wirtschaftliche Erfolge sind durch eine globale Krise gefährdet und technische Errungenschaften werfen auch Schatten sozialer Missstände. Wenn mit Staatshilfen Banken gerettet werden und diese jetzt wieder Gewinne machen, während in den Folgen der Wirtschaftskrise Arbeitslosigkeit und Armut in der Bevölkerung zunehmen, entsteht eine Schere zwischen Arm und Reich, die uns Sorgen bereiten muss. Immer wieder wird ein Werteverlust der spätmodernen Gegenwart beklagt. Gewalt in der Schule, bewaffnete Kids, Respektlosigkeit, Drogenabusus, Haltlosigkeit und Vergnügungssucht werden allerorten unseren Kindern und Jugendlichen beschieden. Soziologen beklagen einen zunehmenden Zynismus, Desillusionierung und Mangel an gegenseitigem Vertrauen sowie eine innere Leere des modernen Subjekts. Es wird festgestellt, dass die Gesetze des Marktes – mit Egoismus, Konkurrenzdenken und Konsumhaltung – auch in das Mikrosystem der Familien und der Freundschaftsbeziehungen Einzug gehalten haben.
Immer wieder wird von Familiendramen mit Tötungsdelikten berichtet, Nachrichten von sexuellem Missbrauch und schweren Vernachlässigungen von Kindern und Jugendlichen bringen diese Missstände ans Licht der Öffentlichkeit. Besondere Ereignisse wie beispielsweise ein Amoklauf eines Jugendlichen – der dann eine Vielzahl von Trittbretttätern auf den Plan ruft – zeigen, wie sehr die Grenzen der Gewalt tief in unser Alltagsleben verschoben sind. Im bürgerlichen Alltag hat sich eine diffuse Angst breitgemacht. Die Dichte und Intensität der medialen Berichterstattung über weltweit verstreute Kriege, Terroranschläge, Kaperungen, Wirtschaftkämpfe und zivile Unglücke erzeugen eher ein Gefühl der globalen Bedrohung als der globalen Gemeinsamkeit.
Laufen unsere Kinder und Jugendlichen vor dem Hintergrund von Computerspielsucht, virtuellen Weltfluchten, narzisstischer Selbstdarstellung im Internet und angesichts einer Fülle von realen, globalen Beunruhigungen aus dem Ruder der Entwicklung? Pädagogen, Soziologen, Psychologen und Ärzte suchen nach Erklärungsmodellen, aber dort wo die Ursachengefüge komplex sind, gestaltet sich diese Suche schwierig. Triviale Lösungen bieten sich nicht an. Kurzschlüssige Erklärungen – auch wenn sie vermeintlich in die Tiefe der Seelen vordringen – müssen argwöhnisch an der Wirklichkeit gemessen werden. Tatsache ist, dass an all unseren gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedrohungen nicht die Tagesbetreuung als solche die Schuld trägt. Wer aus deutscher Perspektive allein in der Tagesbetreuung den Grund für das Heraufdämmern eines Weltuntergangs sieht, hat die europäische Perspektive längst verloren.
Was kann unsere Gesellschaft tun, um den Problementwicklungen gegenzusteuern? Die Frage ist: Beginnen die Probleme nicht schon in frühestem Alter? Wo liegt die Schuld? Tatsache ist, dass die emotionale Bildung, das innere Verstehen von Gefühlen, die Beherrschung von Trieben und das Vertrauen in ein Du, das jeder moralischen Entwicklung vorausgeht, ganz früh beginnen. Es ist nicht egal, wie wir mit den jüngsten Mitgliedern unserer Gesellschaft umgehen. Das Kind hat Grundbedürfnisse und Grundrechte von Geburt an. Diese Grundbedürfnisse und Grundrechte müssen wir respektieren, wenn es um das Leben in der Familie und wenn es um das Leben in ergänzender Tagesbetreuung geht. Wir erkennen die wachsende Bedeutung früher und qualitativ hochwertiger Tagesbetreuung für Kinder aufgrund gesellschaftlicher Umbrüche: Höhere Bildungsansprüche, Rückgang der Geschwisterzahl, so dass die Kind-Kind-Beziehungen in Tagesbetreuung gefördert werden, zählen dazu. Die Bedeutung früher Integration von Kindern unterschiedlicher, sozialer, kultureller und religiöser Herkunft darf nicht unterschätzt werden. Auch die Anforderungen an Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Flexibilisierung des Arbeitslebens bilden Gründe für die Entscheidung von Eltern, Kinder einer Tagesbetreuung anzuvertrauen. Zunehmend mehr Eltern entscheiden sich für eine die Familie ergänzende Tagesbetreuung ihres Kindes. Parteien übergreifend hat die Politik auf die steigende Nachfrage mit dem Ausbau der frühen Tagesbetreuung reagiert. Ab dem 1.8.2013 besteht für jedes Kind ab Vollendung des ersten Lebensjahres ein Rechtsanspruch auf einen Tagesbetreuungsplatz.
In unserem Blickfeld muss die Qualität der Tagesbetreuung stehen. Die Anforderungen an frühe Tagesbetreuung steigen zu Recht immer mehr. Zugleich wachsen die Strukturen jedoch nicht mit. Auch wenn der quantitative Ausbau auf einen guten Weg gebracht ist, ist bei der Qualität (in Orientierungs-, Struktur- und Prozessqualität) ein großer Mangel vieler Orten festzustellen. Viele Eltern sind verunsichert und wissen nicht, ob sie das Beste für ihr Kind tun, wenn sie es einer Krippe, Kita oder Kindertagespflegestelle anvertrauen. Die Deutsche Liga für das Kind befürwortet den von der Politik beschlossenen und von einer breiten Mehrheit der Eltern erwünschten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Voraussetzung dafür ist, dass die Betreuung den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder in dieser besonders verletzlichen Altersgruppe gerecht wird und fachlichen Mindestanforderungen genügt. Die Liga setzt sich daher mit Nachdruck für eine Aktion zur Steigerung der Qualität in Krippen und in der Kindertagespflege ein. Der politische Wille der Bund, Ländern und Gemeinden ist dafür ebenso wichtig wie die fachliche Entschlossenheit bei Trägern, Fachverbänden und den Fachkräften bzw. Tagespflegepersonen vor Ort. Nicht zuletzt kommt es darauf an, dass die Eltern selbst sich für eine bestmögliche Qualität früher Tagesbetreuung stark machen.
Prof. Dr. Franz Resch ist Präsident der Deutschen Liga für das Kind.
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