fK 6/08 Suess

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Vorwort zur deutschen Übersetzung

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag des Erstautors beim Spinoza Symposium aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde an L. Alan Sroufe und der Würdigung des Buches „The Development of the Person” von Sroufe, Egeland, Carlson, & Collins (2005) an der Universität Leiden, Niederlande, im Juni 2005. Der vorliegende Beitrag wurde zusammen mit den Symposium-Beiträgen von Sroufe (2005), IJzendoorn (2005) und Vaughn (2005) im Dezember-Heft der Zeitschrift „Attachment and Human Development“ erstmals veröffentlicht. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag in deutscher Übersetzung abdrucken zu dürfen.

Das Buch von Sroufe et al. (2005) berichtet über eine der bedeutendsten Langzeitstudien zur Persönlichkeits-Entwicklung von Kindern aus einer Hoch-Risiko-Stichprobe. Von 30 Jahren Entwicklung liegen für immerhin 180 dieser Kinder vollständige Datensätze von Geburt an vor. Die Studie gibt nicht nur Aufschluss über die Vorläufer von Fehlanpassung, sondern insbesondere auch zur Entwicklung von Resilienz, d. h. einer guten Entwicklung trotz Widrigkeiten. Sie gilt auch als eine der bedeutendsten Studien zur Bindungsentwicklung, die „außerordentlich einflussreich bei der Entstehung der Disziplin ´Entwicklungspsychopathologie´“(Ciccetti, 2005: Buch-Cover) war. Daniel Stern schrieb: „Auf dieses Buch haben Entwicklungs- und klinische Psychologen mehr als 25 Jahre gewartet. (…) Es fasst nicht nur eine jahrzehntelange, programmatische Studie zusammen, sondern ist ebenso ein Startpunkt für die nächste Generation von Entwicklungsforschung mit klinischer Relevanz” (amazon.com). Weil sie informativ für die Praxis und die Jugendhilfepolitik ist, haben wir uns entschlossen, über sie hier zu berichten.

Klinische Implikationen der Minnesota Längsschnittstudie zur Persönlichkeitsentwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter

von Gerhard J. Suess und June Sroufe

Die Minnesota Längsschnittstudie an Eltern und Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter kann in zweierlei Hinsicht hilfreich sein, die Kluft zwischen Forschung und klinischer Anwendung zu überbrücken: sie liefert erstens einen passenden theoretischen Rahmen und zweitens eine Menge empirischer Erkenntnisse. Herausragend unter diesen Erkenntnissen sind: (a) der durchgängige Einfluss früher Beziehungserfahrungen über die Jahre hinweg, sogar wenn der Einfluss nachfolgender Erfahrungen und späterer Umstände kontrolliert wurde; (b) dass Erfahrungen aufeinander aufbauen und fortwährend, zusammen mit dem gegenwärtigen Kontext, Einfluss nehmen; (c) Die herausgehobene Rolle von Erwachsenen-Partner-Beziehungen; (d) die zunehmend aktive Rolle der Personen selbst in der Gestaltung ihrer eigenen Entwicklung, und (e) das Zusammenspiel von Erfahrung, Repräsentation und laufender Anpassung. Diese Ergebnisse und die ihnen zugrunde liegende theoretische Struktur verlangen nach komplexen, umfassenden Interventionen, die früh einsetzen und die Veränderung der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zum Fokus haben. Gleichzeitig werden zusätzliche Komponenten, einschließlich Paartherapie und Bemühungen, die inneren Konstruktionen der Kindlichen Erfahrungswelt zu verändern, eindeutig empfohlen. Wir müssen uns den Kräften zuwenden, die Kinder auf fehl angepassten Entwicklungspfaden halten, wenn sie einmal etabliert sind, ebenso wie wir die Kräfte verstehen müssen, die diese Entwicklungsverläufe angebahnt haben.

In dem Buch von Sroufe, Egeland, Carlson & Collins (2005) mit dem Titel „The Development of the Person” sowie in etwas kürzerer Form in dem Beitrag von Sroufe (2005) werden die Ergebnisse der derzeit noch laufenden und weitergeführten Minnesota Längsschnittstudie zu Risiken und Anpassung von der Geburt bis zum Erwachsenenalter zusammenfassend beschrieben. Diese Studie bietet nicht nur eine beträchtliche Datenbasis zu normaler und individueller Entwicklung, sie liefert auch den entsprechenden theoretischen Rahmen zum Verständnis des Wesens von Kindesentwicklung. Da es eines der Hauptziele dieser Studie war, die Grundlage zur Förderung gesunder Persönlichkeitsentwicklung zu liefern, sind in ihr zahlreiche klare Schlussfolgerungen für die Praxis enthalten. In diesem Artikel werden wir ihre Implikationen für die klinische Arbeit und die Jugendhilfe im Allgemeinen herausarbeiten. Bereits die Tatsache, dass das Aufwachsen in Armut ausführlich untersucht wurde, erweckt das Interesse eines jeden, der Hilfen für problembelastete Kinder und ihre Familien zu verantworten hat. Darüber hinaus wird das Buch von Sroufe u. a. (2005) aufgrund der Klarheit seiner theoretischen Formulierungen und seiner reichhaltigen Erkenntnisse zu Einflussfaktoren auf den Entwicklungsverlauf für Praktiker zu einer hilfreichen Ressource.

Unsere Erörterungen gruppieren sich um drei Hauptthemen: (a) Überbrückung der Kluft zwischen Theorie und Praxis; (b) empirische Validierung von klinischen Schlüsselkonzepten und (c) das Konzept von Entwicklungspfaden in der individuellen Entwicklung.

Die Praxis braucht eine gute Theorie: Überbrückung der Kluft
Trotz des wachsenden Interesses „an der Verbindung von Wissenschaft mit Anwendung”, sieht Siegel (1997, S. 1115) mehrere Schwierigkeiten, die Wissensbasis der Sozialwissenschaften in praktisches Handeln zu übersetzen. Einer der von ihm angeführten Gründe besagt, dass „Forscher oder Praktiker womöglich keinen Anlass sehen, gegenseitig ihre jeweiligen Veröffentlichungen zu lesen oder gar darüber miteinander zu sprechen, sogar dann, wenn sie in derselben intellektuellen Gruppe sind” (S. 1114). Seither gab es mehrere Versuche, die Beziehungen zwischen Praxis und Grundlagenforschung zu verbessern; so haben Grundlagenforscher ihre Daten auf Konferenzen für Praktiker vorgestellt und ihre Arbeiten in Büchern für die Zielgruppe der Praktiker veröffentlicht (z. B. Vaughn et al., 2001; Grossmann, 2001).

Aber auch auf dem Gebiet der Klinischen Praxis und der Jugendhilfe wird Forschung immer noch weitgehend als bedeutsam für Hochschule und nicht so informativ für die Praxis betrachtet. Darin drückt sich wohl der „state of the art“ der klinischen und Jugendhilfe-Praxis genauso aus wie die klinische Relevanz der akademischen Beiträge. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht nur für Praktiker sondern auch für die Wissenschaft von Vorteil sein würde, wenn sich Praxis und Theorie aussöhnen würden – ganz im Sinne Lewin´s, der feststellte „dass nichts so praktisch ist, wie eine gute Theorie“ (zitiert nach Bowlby, 1988).

Das Buch „The Development of the Person” (Sroufe et al., 2005) unterstützt unsere Versuche, Praxis und Theorie zusammen zu bringen, in mehrfacher Weise. Seine Auseinandersetzung mit theoretischen und klinisch relevanten Themen, insbesondere sein Fokus auf der Entwicklung unterschiedlicher Personen unter Hoch-Risiko-Bedingungen verleiht ihm enorme praktische Relevanz. Es ist bemerkenswert, dass Seite an Seite, vereint in einem Buch, Forschungsthemen genauso wie reichhaltige Fallbeschreibungen ausführlich dargestellt werden, einschließlich einer prospektiven Untersuchung der Auswirkungen sexuellen Missbrauchs und der Wiedererlangung der Erinnerung daran (Sroufe et al, 2005, S. 269-270). Dies fördert in besonderer Weise den Brückenschlag bezogen auf die von Siegel (1997) identifizierte kommunikative Kluft. Forscher und klinisch Tätige können sich von ein und demselben Buch angezogen fühlen. Und da diese zwei erwähnten unterschiedlichen Themen nicht getrennt bleiben, sondern durch die in dem Buch behandelten theoretischen Konzepte miteinander verbunden werden, stellt dies eine weitere Hilfe dar, Theorie, Forschung und Praxis miteinander zu verbinden. So werden Praktiker und Wissenschaftler zusammen gebracht: Das Lesen gemeinsamer Literatur fördert die Beschäftigung mit gemeinsamen wissenschaftlichen Fragen, was wiederum gemeinsame Forschungsinteressen fördert und schließlich zur Entwicklung eines neuen professionellen Profils, dem so genannten Wissenschafts-Praktiker (science-practitioner) beiträgt (Siegel, 1997; Cicchetti & Toth, 1997; Suess et al., 2001).

Darüber hinaus beschäftigt sich die Minnesota Studie nicht nur mit normaler Entwicklung, sondern auch mit Fehlanpassung einschließlich seiner Vorläufer und seiner Folgen. Ein spezieller Fokus liegt im Entdecken von Regeln, die sowohl psychopathologische als auch normale Entwicklung steuern. Auf diese Weise wurde die Minnesota Studie zu einer bedeutsamen Quelle für die Entstehung der neuen Disziplin „Entwicklungspsychopathologie” (Sroufe & Rutter, 1984; Cicchetti & Cohen, 1995). Innerhalb dieses Rahmens können Praktiker in dem Buch „The Development of the Person” viele theoretische Überlegungen zu bedeutsamen Prozessen finden, die allgemein zu Psychopathologie führen, als auch Beschreibungen von Entwicklungspfaden, die zu konkreten Formen von Psychopathologie führen, wie z. B. Selbstverletzendes Verhalten (SIB), Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Depression und Angststörungen – all dies hat das Potential, klinische Arbeit zu fördern.

Jeder klinisch Tätige wird in seiner Arbeit von seinen grundlegenden Annahmen darüber geleitet, wie sich Fehlanpassung entwickelt und wie diese verändert werden kann – manchmal ohne dies bewusst zur Kenntnis zu nehmen, manchmal basierend auf fragwürdigen Erkenntnissen. Die meisten klinisch Tätigen stimmen jedoch John Bowlby (1988) zu, wenn er feststellt, dass „Ohne eine (…) valide Theorie zur Psychopathologie therapeutische Techniken dazu tendieren, stumpf und von unsicherem Nutzen zu sein” (S. 37). Praktiker suchen deshalb nach einem besseren Verständnis von Psychopathologie.

Die Längsschnittstudien, die in den letzten 30 Jahren begonnen wurden, bieten viel versprechende Ansätze zu dieser Frage. Eine der bedeutendsten Längsschnittstudien für Praktiker ist die Minnesota Studie , da sie „in gleicher Weise an jenen Personen interessiert ist, die, nachdem sie sich von normalen Entwicklungspfaden entfernt haben, schließlich wieder ihre normale Entwicklung fortsetzen und angemessene Anpassung erreichen, wie an jenen, die den Stressoren widerstehen, die gewöhnlich zu Entwicklungsabweichung führen ….. solch vergleichende Studien liefern bedeutsame Hinweise für Prävention und ?” (Sroufe, 1989, S. 13).

Empirische Überprüfung klinisch bedeutsamer Konzepte
Der theoretische Hintergrund der Minnesota Studie war zwar immer Bowlby´s Bindungstheorie (1982/1969, 1973, 1980), sie ist jedoch ebenso bedeutenden Fragen auf dem Gebiet der allgemeinen Entwicklungspsychologie und der Persönlichkeitspsychologie nachgegangen. In unseren folgenden Ausführungen werden wir die fünf bedeutsamsten Aussagen behandeln, die durch die Minnesota Studie nahe gelegt werden, und werden für jede die jeweiligen Schlussfolgerungen für die Praxis anschließen. In den Überschriften werden die zentralen Studien-Aussagen unterstrichen und die Implikationen kursiv dahinter angeführt.

(1) Wie Kinder von ihren Eltern behandelt werden, ist ganz klar von Bedeutung, und zwar schon sehr früh im Leben: Beginne mit der Intervention früh; unterstütze die Eltern-Kind-Beziehung
Als die Minnesota Studie in den 1970er Jahren begann, argumentierten prominente Wissenschaftler, dass es nichts dergleichen wie eine Persönlichkeit gäbe (Mischel, 1968); dass vielmehr gegenwärtige Situationen Verhalten und Entwicklung bestimmten. Deshalb ergab sich auch kein besonderer Bedarf an Frühen Hilfen, da den frühen Jahren in der Entwicklung keine besondere Bedeutung zukam. Folgerichtig konnten die frühen Jahre in der klinischen Tätigkeit auch weitgehend ignoriert werden, und die Eltern-Säuglings-Psychotherapie spielte mit wenigen Ausnahmen keine bedeutende Rolle (z. B. Fraiberg et al., 1975).

Nur langsam erhielten die frühen Jahre im zurückliegenden Jahrzehnt mehr Aufmerksamkeit in der klinischen Praxis. Und es ist immer noch ein wachsender Bereich, da wir nun über eine ständig wachsende Ansammlung empirischer Belege zur Bedeutung der frühen Jahre verfügen. Die Minnesota Studie liefert Datenmaterial, das in eindrucksvoller Weise die komplexe Bedeutung der frühen Jahre belegt. Sie stellen das jeweilige Kind auf einen Entwicklungspfad, der sich als zunehmend selbst stabilisierend erweist. Auf Kindesentwicklung wirken natürlich viele unterschiedliche Einflüsse ein, aber da Eltern nicht nur eine bestimmte Qualität an Fürsorge, sondern auch andere Einflüsse auf Kindesentwicklung bereit stellen, lässt sich oft eine große Kohärenz unter den komplexen, auf Kindesentwicklung einwirkenden Einflussfaktoren beobachten. Trotzdem konnte Veränderung im gesamten Studienverlauf beobachtet werden. Unter anderem deshalb, weil Übergänge neue Herausforderungen und Möglichkeiten mit sich bringen und „auf diese Weise besondere Gelegenheiten für grundlegende Veränderung schaffen“ (Sroufe et al, 2005, S. 240).

Frühe Hilfen werden schon deshalb nahe gelegt, da Veränderung durch vorausgehende Entwicklung eingeschränkt wird und deshalb „leichter möglich ist, bevor ein Entwicklungspfad fest eingefahren ist“. Und da es in der Tat auf die Eltern ankommt, wie die Ergebnisse der Minnesota Studie selbst nach Berücksichtigung aller anderen relevanten Faktoren zeigten, sollte der Fokus der Intervention auf der frühzeitigen Unterstützung der Elter-Kind-Beziehung liegen.

Wir müssen natürlich mehr leisten, als nur die Bedeutung Früher Hilfen zu beteuern (Siegel, 1997). Effektive Interventions-Strategien und Techniken müssen entwickelt werden, und zwar durch aktive Praxisentwicklung (z. B., Lieberman, 1992; Marvin et al., 2002/2003; Egeland & Erickson, 2004; Stern, 2004; Sameroff & MacKenzie, 2003 ). Darüber hinaus müssen solche Interventionen in Bezug auf ihre Informationsbasis und ihre Effektivität evaluiert werden (Egeland et al., 2000; Bakermans-Kranenburg, vanIJzendoorn and Juffer, 2003).

(2) Die gesamte Geschichte der Erziehung, die zurückliegende Anpassung und gegenwärtige Erfahrung sowie Unterstützung haben Einfluss auf Entwicklung: Bedarf an komplexer Intervention
Trotz der Bedeutung früher Fürsorge zeigte die Minnesota Studie deutlich, dass die Gesamtheit der von einer Person erfahrenen elterlichen Zuwendung der beste Prädiktor für spätere Entwicklung ist, und dass sich das kindliche Verhalten verbessert, wenn die Zuwendung sich verbessert. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass zahlreiche Faktoren zur Veränderung der Betreuungsqualität beitragen. Obwohl die Eltern-Kind-Beziehung ein bedeutsamer Faktor in der Entwicklung ist, muss eine große Anzahl von bedeutenden Beziehungserfahrungen (Gleichaltrige, Geschwister, Lehrer und andere Erwachsene) betrachtet werden, um den Entwicklungsprozess zu verstehen (Sroufe et al, 2005, S.150).

Mit zunehmendem Alter wird die kindliche Anpassung ihrerseits eine aktive Kraft in der Entwicklung. Und wie immer ist auch der gegenwärtige Kontext von großer Bedeutung. Anpassung ist immer „ein Produkt von Geschichte und gegenwärtigen Umständen”. Das erfordert eher komplexe Interventionen als isolierte Interventionsstrategien. An jedem Punkt der Entwicklung ist es die Aufgabe von Interventionsstrategien, eben jene Faktoren zu identifizieren und zu verändern, die „die Person auf einem fehl angepassten Entwicklungspfad festhalten”, jedoch ebenso, die Person darin zu unterstützen, „auf einen funktionsfähigeren Pfad zurückzukehren” (s. Sroufe, 2003, S. 241).

Soziale Unterstützung war einer der Faktoren, mit denen man Veränderung während der gesamten Längsschnittstudie erklären konnte. Dies ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam für die Intervention. Zunächst schützt es Eltern davor, dass man ihnen die Fehlanpassung ihrer Kinder zum Vorwurf macht, was sogar unter Fachkräften oft eine erste Reaktion auf das Hervorheben der Bedeutung früher elterlicher Zuwendung ist. Die Ergebnisse der Minnesota Studie zeigen, dass die Qualität der Fürsorge, die die Eltern ihrerseits als Kinder erfahren haben, ebenfalls von großer Bedeutung war. Diese Ergebnisse unterstreichen auch die Verantwortung der Gesellschaft, Unterstützungsangebote für Eltern bereitzuhalten, besonders für hoch belastete Eltern. Dies alles zu bedenken, hilft Interventions-Fachkräften, eine partnerschaftliche Haltung aufzubauen, welche in der Tat nicht die Eltern für schuldig erklärt und uns dabei hilft, auch Eltern zu ermutigen, sich nicht selbst oder ihre zurückliegenden Erfahrungen dafür verantwortlich zu machen, ihr Leben nicht besser in den Griff zu bekommen.

Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen innerhalb und außerhalb einer einzelnen Person. Ohne zusätzliche Erkenntnisse zum Wesen ihrer wechselseitigen Beziehung sind Praktiker gut beraten, komplexe Interventionsansätze anzuwenden, die nicht nur individuelle und/oder Beziehungsthemen (vergangene oder gegenwärtige) aufgreifen, sondern auch das weite Feld sozialer Unterstützung, um eine gute elterliche Sorge zu ermöglichen.

Eltern dabei zu helfen, sich Unterstützung zu organisieren, wenn sie sie brauchen, und zu erkennen, wann immer sie angebotene Hilfe aus alter Gewohnheit zurückweisen, ist eine entscheidende Intervention auf der intrapersonellen und der zwischenmenschlichen Ebene. Gleichzeitig beeinträchtigen Defizite im Gemeinwesen oder ungleicher Zugang zu ihren Ressourcen den Interventionserfolg. Auf welche Weise auch immer diese unterschiedlichen Ebenen angesprochen werden, integrativ in einer Intervention oder in sich ergänzenden unterschiedlichen Interventionen, die Ergebnisse der Minnesota Studie unterstreichen ihre Bedeutung für die Einleitung von Veränderung hin zu besserer Anpassung in herausfordernden und riskanten Kontexten.

Wahrscheinlich führt Intervention auf der Interaktionsebene bei einem Eltern-Kind-Paar zu einem kaskadenförmigen Prozess, der vielerlei Fähigkeiten für den Aufbau eines besseren sozialen Unterstützungsnetzwerkes fördert, welches seinerseits als Puffer gegen Risiken dient. Dies allerdings bedarf weiterer Erforschung durch detaillierte Studien (Bakermans-Kranenburg, van IJzendoorn and Juffer, 2003; Egeland et al., 2000; Sroufe et al., 2005, p 279).

(3) Die Erwachsenen-Partnerbeziehung ist von Bedeutung: Hinzufügen von Paartherapie-Elementen zu Frühen Hilfen
Die Unterstützung durch Familie und Freunde erwies sich in der Minnesota Studie als wichtiger Kontextfaktor für Eltern in der Erziehung ihrer Kinder (Sroufe et al, 2005, S. 146). Gleichzeitig sind diese besonderen Fähigkeiten, die zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung dieser Beziehungen unabdingbar sind, ihrerseits ein Ergebnis im Entwicklungsprozess. Sie sind abhängig von früheren Beziehungserfahrungen mit Gleichaltrigen und mit der eigenen Bindungsgeschichte, wobei die Bindungseffekte so manches Mal durch die Gleichaltrigenerfahrungen vermittelt sind (Mediationseffekte). „Bindung bereitet den Weg für erfolgreiche Beziehungen zu Gleichaltrigen, und diese Beziehungen wiederum bereiten dann die Bühne für zufrieden stellende romantische Beziehungen im Erwachsenenalter” (S. 205).

Erwachsene Partnerbeziehungen erwiesen sich in der Minnesota Studie als besonders bedeutsam, da sie sowohl Risikofaktoren als auch Schutzfaktoren für die Entwicklung darstellten. Die schützende Wirkung erwachsener Partnerschaften zeigte sich am eindrucksvollsten bei der Untersuchung von Müttern mit Misshandlungsvergangenheit. Bei all denjenigen, die den Teufelskreis von Misshandlung durchbrachen und ihre eigenen Kinder nicht misshandelten, stellten unabhängige Beobachter unterstützende, stabile erwachsene Partnerbeziehungen fest (Sroufe et al., 2005, p. 96). Des Weiteren hatten Mütter, wenn ihre Kinder mit unsicherer Bindungsvergangenheit keine Verhaltensprobleme zeigten – was normalerweise bei dieser Art von Bindungserfahrung zu finden ist – eine stabile, effektive Beziehung zu einem erwachsenen Partner. Gleichzeitig sind Erwachsenen-Partnerbeziehungen ein erstklassiges Potential für die Veränderung innerer Arbeitsmodelle von Bindung, da sie zu einer nachträglichen Überprüfung früh erworbener Beziehungsrepräsentationen führen können.

Ausbeuterische oder instabile Anwesenheit von Männern in der Familie können auch zu einem hauptsächlichen Risikofaktor werden. Wenn Kinder Zeuge von Partnergewalt werden, konnten spätere Verhaltensprobleme bei diesen Kindern nachweislich vorhergesagt werden, selbst wenn die Einflüsse direkter Misshandlungserfahrungen, Stress und anderer Faktoren statistisch kontrolliert wurden (S. 190 ff). Doch auch auf weniger dramatische Weise kann sich das Kommen und Gehen der Männer im Leben von Müttern störend auf das Familienleben auswirken und einen weiteren Risikofaktor für die Entwicklung der Kinder darstellen, wie die Ergebnisse der Minnesota-Studie gezeigt haben (S. 191).

Die Qualität von Erwachsenen-Partnerbeziehungen war ebenfalls verbunden mit Parentifizierung und Verwischung der intergenerationalen Grenzen, ein weiterer schädlicher Risikofaktor in der Kindesentwicklung: „Zum Beispiel ließ die Unzufriedenheit einer Frau mit ihrer Partnerbeziehung höhere Werte von Grenzverwischung zwischen ihr und ihrem Sohn im Altern von 42 Monaten vorhersagen” (S. 146). Interessanterweise veränderte sich das gesamte Familiensystem, so dass nicht nur die Misshandlungsvergangenheit einer Mutter, sondern auch die emotionale Distanz zu ihrem erwachsenen Partner nicht nur den Jungen beeinträchtigt hat, sondern auch noch ein zweites Kind, wenn es ein Mädchen war, und zwar über eine feindselige Mutter-Tochter-Beziehung (Sroufe & Fleeson, 1988).

Beziehungen im Jugendalter ließen sich ebenfalls durch frühe Erfahrungen vorhersagen, einschließlich der Themen, die die Eltern-Kind-Grenzen betreffen (Sroufe et al., 2005, Kap. 10). Zum Beispiel fiel eine Gruppe Jugendlicher durch ihr riskantes Sexualverhalten auf. Diese riskanten Sexualverhaltensweisen standen in Wechselbeziehung zu einer Geschichte negativer Fürsorgequalität, geringer Gleichaltrigen-Kompetenz, Verhaltensproblemen und Familienstress im Grundschulalter (S. 194), Verwischung der Eltern-Kind-Grenzen im Alter von 13 Jahren und – besonders bei Mädchen – mit Verletzungen der Geschlechtergrenzen in der mittleren Kindheit. Letzteres ließ „frühe und häufigere ungeschützte Sexualkontakte bei Mädchen und Promiskuität bei Jungen” vorhersagen (S. 195), jedoch nicht die Fähigkeit zu größerer Nähe in Beziehungen oder allgemein soziale Kompetenz. Riskantes Sexualverhalten wiederum spielt eine bedeutende Rolle im „Teufelskreis von Benachteiligung über Generationen hinweg” (S.194): Es erhöht nicht nur das Risiko früher Schwangerschaften, sondern weist auch Zusammenhänge zu anderem Problemverhalten auf, z. B. Drogen- und Alkoholprobleme, Konflikte mit Partner, mit dem sie „gehen“, und Schulausschluss. Insbesondere bei Interventionen mit jugendlichen Müttern muss das Thema Erwachsenen-Partnerbeziehungen und Sexualität behandelt werden, selbst dann, wenn der Fokus auf der Unterstützung der frühen Kind-Eltern-Beziehung liegt (Cowan, Powell & Cowan, 1997).

Das Hinzufügen von Paartherapie-Elementen zu Frühen Hilfen muss in integrativer Form geschehen und nicht nur in einer additiven Weise, da ansonsten die Gefahr besteht, die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion aus dem Auge zu verlieren. Wir können uns nicht in mehreren Sitzungen ausschließlich Partnerschaftsthemen widmen und dann wieder zum Thema Kind zurückkehren, da Kinder aufgrund ihrer rasanten Entwicklung in den ersten Lebensjahren keine Zeit haben. Wir würden in der Behandlung unterschiedlicher Bereiche innerhalb der Intervention eher für eine Strategie vergleichbar dem Ansatz von Selma Fraiberg (1980) plädieren: „wir wechseln zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Eltern und dem Baby, aber wir kehren immer wieder zum Baby zurück“ (S. 61). Das Hinzufügen von Paartherapie-Elementen heißt nicht notwendigerweise, immer die Väter in die Intervention einzubeziehen, besonders wenn sie eher ein Risiko als eine potentielle Unterstützung bedeuten. Die Partnerschaftsfragen können auch bei den Hausbesuchen bei allein erziehenden Müttern zum Thema gemacht werden sowie in den Treffen der Müttergruppen, wie dies im STEEP-Interventionsprogramm von Egeland und Erickson (2004) getan wird.

(4) Die sich entwickelnde Person wird eine zunehmend homeorhetische Kraft in der Entwicklung: Intervention darauf ausrichten, Entwicklungskonstruktionen zu verändern
Bis jetzt haben wir uns nur mit den Implikationen des Buches „The Development of the Person” für den allgemeinen Rahmen von Intervention beschäftigt, z. B. welche unterschiedlichen Punkte und Themenbereiche behandelt werden müssen und ihre jeweilige Bedeutung, so wie sie aus den empirischen Ergebnissen der Minnesota Studie abgeleitet werden können. Im folgenden Abschnitt werden wir uns mehr damit auseinandersetzen, wie dies getan werden soll – wir werden uns also mit den Prozessen auseinandersetzen, die angesprochen werden müssen, um den Studienergebnissen gerecht zu werden.

Mit fortschreitender Entwicklung bewegt sich das Selbst Schritt für Schritt von einer vollständig dyadischen Organisation hin zu einer zunehmend kohärenten und selbst-organisierten Organisationsform (Suess, Grossmann & Sroufe, 1992). Während zu Anfang die Abstimmung in der Beziehung am besten über eine Veränderung des elterlichen Verhaltens erreicht werden kann, das zu einer Verbesserung in der Eltern-Kind-Beziehung und nachfolgender kindlichen Anpassung führt, werden die eigenen Beiträge des Kindes für die Gestaltung von Beziehungen zunehmend offenkundig und müssen zunehmend in der Intervention „angesprochen“ werden. Dies ist ein erneutes Argument für eine frühe und beziehungsbasierte Intervention. Später in der Entwicklung kann der wachsende Beitrag des Kindes einer Veränderung entgegenwirken. „Wir glauben, dass sich eine organisierte Persönlichkeit im Kindergartenalter herausbildet und dass dieser Prozess die Verinnerlichung und das Vorantragen der Organisation innerhalb früher primärer Fürsorge-Beziehungen widerspiegelt” (Sroufe et al, 2005, S. 141). Von dieser Zeit an besitzt der Beitrag der eigenen Anpassung des Kindes eine neue Qualität für die Mitgestaltung von Entwicklung, da die Anpassung innerhalb des Familiensystems die Bühne für das Peer-System bereitet, ein weiterer wichtiger Entwicklungskontext (Sroufe, Egeland & Carlson, 1999). „Sie suchen Gelegenheiten, erfassen, interpretieren und reagieren darauf in unterschiedlicher Weise, abhängig von vorangehenden Integrationen von Erfahrung” (Sroufe et al., 2005, S. 150). Und auf diese Weise zeigen sich so genannte homeorethische Kräfte – Kräfte, die dazu beitragen, sie auf ihren einmaligen Entwicklungspfaden zu halten.

Ab dem Kindergartenalter gestalten Kinder ihre eigenen Erfahrungsgrundlagen in zunehmender Weise mit und verringern damit die Wahrscheinlichkeit, mit korrigierenden Erfahrungen konfrontiert zu werden. Wenn zwei Kinder in ein und denselben Kindergarten kommen, kann es sein, dass sie in Wirklichkeit zwei unterschiedliche Erfahrungswelten betreten: das eine Kind könnte protektive Faktoren zu seiner Entwicklung hinzufügen, wohingegen das andere zusätzliche Risiken hinzufügt. Die Person der Erzieherin wird bedeutungsvoll für die Intervention; und zwar durch ihre eigenen Reaktionen auf die Kindergartenkinder und durch ihre Art der Beaufsichtigung der Peer-Interaktionen.

Trägt das Handeln der Erzieherin zu einer Verfestigung oder zu einer Korrektur individueller Anpassung bei? Wie die Minnesota Studie gezeigt hat, lösen Kinder mit unterschiedlichem Bindungshintergrund unterschiedliche Reaktionen und Gefühle bei Kindergarten-Erzieherinnen aus (Sroufe et al, 2005, S 143). Während Kinder mit sicherem Bindungshintergrund von ihren Erzieherinnen respektvoll, alters- und sach-angemessen behandelt wurden, erwarteten Erzieherinnen von Kindern mit unsicher-ambivalentem Bindungshintergrund sehr wenig angemessenes Verhalten; diese erhielten mehr Fürsorge von den Erzieherinnen als für die Förderung ihrer wachsenden Unabhängigkeit gut war, was ihre Unreife festigte. Im Gegensatz dazu erwies sich, wann immer eine Erzieherin ein Kind aus der Gruppe entfernen wollte, weil es einem anderen Kind etwas sehr Schmerzhaftes zugefügt hatte, der Hintergrund des Kindes als unsicher-vermeidend. Erzieherinnen erwarteten von Kindern mit unsicher-vermeidendem Hintergrund wenig Regel-konformes Verhalten und behielten sie immer im Auge. „Die Geschichte der Zurückweisung, die diese Kinder erfahren hatten, wurde zu einem bestimmten Grad durch unsere Erzieherinnen wiederholt, obwohl sie unglaublich mitfühlende Personen waren” (Sroufe et al, 2005, S. 145).

Die Implikationen dieser Ergebnisse fordern uns heraus, da der Kindergarten gewöhnlich nicht als ein Feld für Interventionen angesehen wird; aber Erzieherinnen können eine bedeutende Quelle für Veränderung sein, wie die Minnesota Studie gezeigt hat. Ob dies in der Praxis umgesetzt werden kann, hängt nicht nur von der Ausbildung und dem Hintergrund der Erzieherin ab, sondern auch von der Gruppengröße und der Anzahl der „schwierigen“ Kinder in der Gruppe. Erzieherinnen sollten auf jeden Fall über die beschriebenen konsolidierenden und korrigierenden Prozesse informiert werden. Sie müssen ermutigt werden, ihre eigenen Gefühle gegenüber unterschiedlichen Kindern und natürlich auch die möglichen Einflüsse aus ihrer eigenen persönlichen Entwicklungsgeschichte zu reflektieren. Dies sollte auf Teambesprechungen und Supervision ausgedehnt werden. In ihrer Aus- und Weiterbildung sollten Erzieherinnen mehr über die unterschiedlichen Formen von Fehlanpassung und die ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsprozesse sowie über den Beitrag homeorhetischer Faktoren – einschließlich ihrer eigenen Persönlichkeit – lernen; und sie sollten sich weniger (wenn überhaupt) mit dem Erkennen von unterschiedlichen Kategorien problematischen Verhaltens (e. g. ADHS) befassen. Neben dem Beachten eigener Gefühle und Reaktionen gegenüber verschiedenen Kindern kann eine wichtige Aufgabe von Erzieherinnen in der Beaufsichtigung von Peer-Interaktionen liegen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Feindseligkeit und die Wahrnehmung sozialer Konflikte. Wenn Kinder Zurückweisung innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung erfahren haben, wie dies bei Kindern mit vermeidender Bindungsvergangenheit der Fall ist, dann tragen sie negative Erwartungen gegenüber der Gleichaltrigenwelt mit sich. Sie rechnen viel eher mit Feindseligkeit und in Konfliktsituationen tragen sie zur Verwirrung anderer bei, wenn sie ohne ersichtlichen Grund sehr aggressiv und verletzend handeln. Tatsächlich betrachten sie andere viel häufiger als bedrohlich und sogar feindselig und unterstellen häufig fälschlicherweise negative Absichten in alltäglichen Konfliktsituationen mit anderen Peers (Suess, Grossmann & Sroufe, 1992). „Ihre Zuschreibungen ließen sie auf andere reagieren, als ob diese ihnen übel wollen, und das Ergebnis scheint zu sein, dass sie letztendlich von anderen Kindern und Erzieherinnenn zurückgewiesen werden (Sroufe & Fleeson, 1988)” (Suess, Grossmann & Sroufe, 1992, S. 61).

Im Kindergarten und in der Vorschule haben Erzieherinnen und Lehrer noch eine realistische Chance, diesen sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu stoppen; später wird dies zunehmend schwieriger. Ab dem Grundschulalter wird Aggression zu einem der stabilsten Verhaltensmuster. Es kann nicht unser Ziel sein, das Kind als feindselig zu bezeichnen und ihm einen kognitiven Defekt zu unterstellen, sondern nur, dem Kind dabei zu helfen, eine realistischere und wohlwollendere Weltsicht zu entwickeln sowie einigermaßen akkurate Zuschreibungen in sozialen Situationen vorzunehmen. Da Konfliktsituationen im Kindergarten und in der Vorschule häufig vorkommen, haben Erzieherinnen viele Gelegenheiten, die Wahrnehmung und die Zuschreibungen eines Kindes zu korrigieren. Die Schlussfolgerungen lauten für jede Art von Intervention: Verändere, wie Kinder die soziale Welt wahrnehmen, und die Art, mit der sie Zuschreibungen vornehmen; verändere auch, wie sie ihre Erwartungen auf vielfältige Art mit sich tragen, so dass sie Wirklichkeit werden; mit anderen Worten: Verändere, wie Kinder ihre eigene Entwicklung konstruieren. Dies kann entweder in natürlichen Lebenssituationen erfolgen oder in einem therapeutischen Setting durch Spiel und Geschichtenergänzungsmethoden (Bretherton et al., 2001; J. Sroufe, 2003).

(5) Erfahrung, Repräsentation und fortlaufende Anpassung sind eine nicht-trennbare Triade: Dieses Zusammenspiel muss uneingeschränkt in einer transaktionalen Vorgehensweise adressiert werden
Es herrscht immer noch eine Kontroverse im Feld, ob Interventionen primär auf die Interaktions- oder die Repräsentationsebene ausgerichtet sein sollen. Einige Studien konnten eine Überlegenheit von interaktionalen über repräsentationale Ansätzen zeigen (z. B. Meta-Analyse, durchgeführt von Bakermans-Kranenburg, van IJzendoorn und Juffer, 2003). Wir glauben, dass es, solange unsere Interventionsversuche weiter in Entwicklung begriffen sind, verfrüht ist, dies auf der Grundlage der existierenden Interventionsstudien zu entscheiden. Unser Verständnis davon, wie wir die Bindungstheorie in der Praxis anwenden können, verbessert sich rapide.

Ein bedeutender Teil der Entwicklung und Verbesserung unserer Interventionsstrategien sollte darin bestehen, das Wissen über Entwicklungsprozesse, welche die Anpassung und Fehlanpassung steuern, umfassend in Interventions-Abläufe zu übersetzen. Und dies sollte natürlich Hand in Hand mit Evaluationsstudien und in enger Kooperation mit den im Feld tätigen Praktikern erfolgen. Keiner würde Siegel (1997) widersprechen, wenn er feststellt: „Im Idealfall müssten alle klinisch Tätigen mehr über ein Problem lernen, mit dem sie konfrontiert sind, und nach der passenden Datenbank suchen, um für ihr Problem die verfügbare Information zu finden” (S. 1116). Die Bindungstheorie und -forschung – nunmehr weithin akzeptiert – beschreibt Repräsentation und Erwartungen als Verknüpfung von vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen, und deshalb als Beitrag zur Homeorhesis in der Entwicklung. Innere Arbeitsmodelle tragen zur Vorhersage künftiger Anpassung bei, indem sie die aktive Rolle einer Person im Prozess der Konstruktion von Entwicklung darstellen.

Die Ergebnisse der Minnesota Studie weisen ebenfalls auf eine Verknüpfung von Repräsentation und Erfahrung hin. „Im Wechsel scheint Erfahrung Veränderungen in der Repräsentation vorherzusagen, und Repräsentation den Rahmen für nachfolgende Erfahrung zu bereiten” (Sroufe et al, 2005, S. 234). Theorie und empirische Daten weisen auf ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen Erfahrung, Repräsentation und laufender Anpassung hin – ein Prozess, in dem sich Person und Umwelt gegenseitig transformieren. „So können frühere Anpassungsmuster durch grundlegende Änderungen der Umwelt transformiert werden, und gleichzeitig haben Umgebungseigenschaften eine unterschiedliche Bedeutung für unterschiedliche Personen” (S. 229).

Wenn also Erfahrung, Repräsentation und die laufende Anpassung eine nicht-trennbare Triade darstellen, worauf die Minnesota Studie hinweist (S. 231), liegen die Schlussfolgerungen für die Praxis darin, ihr Zusammenspiel im Interventionsprozess anzusprechen. Und das bedeutet mehr, als nur die Repräsentations- und die Interaktionsebene in einer Intervention anzusprechen, so wie es oben beschrieben ist. Es bedeutet eher, den transaktionalen Prozess, in dem sich diese unterschiedlichen Ebenen gegenseitig transformieren, anzusprechen. Und dies wiederum ist mehr, als lediglich vergangene und gegenwärtige Erfahrungen, Erwartungen und Zuschreibungen/Bewertungen (dies schließt immer Kognition und Emotion ein – ein anderes nicht-trennbares Paar) nebeneinander zu stellen, insbesondere wenn es in einer linearen Art erfolgt, z. B. wenn vergangene und gegenwärtige Erfahrungen in unterschiedlichen Sitzungen behandelt werden. Es sollte eher in einer transaktionalen Art erfolgen, indem man sich bei jedem therapeutisch relevanten Thema zwischen den unterschiedlichen Teilen der Triade hin und her bewegt.

Ein Beispiel liefert das STEEP-Interventionsprogramm in verdichteter Form in dem STEEP-Slogan „Looking back moving forward” (Erickson & Kurz-Riemer, 1999). Beim Betrachten von Videoaufnahmen mit Interaktionen zwischen Müttern und ihren Kindern können bei den Müttern vergangene Erfahrungen wieder auftauchen; das zeigt sich darin, wie die Eltern auf einen Video-Ausschnitt reagieren, z. B. wie sie das Betrachtete bewerten und welche Gefühle bei Ihnen beim Betrachten die Oberhand gewinnen. Schließlich kann diese Video-Intervention dazu führen, dass sie besser erkennen, was sie für die Entwicklung unterstützender Beziehungen benötigen. Sie werden ermutigt, für sich zu prüfen, wie Erfahrungen in der Vergangenheit gegenwärtige Interaktionen mit dem Kind und anderen relevanten Beziehungspartnern – einschließlich der Person der Beraterin/Therapeutin – beeinflussen.

In der Tat ist die therapeutische Beziehung ein bedeutsamer Ort, um das sich wechselseitig transformierende Zusammenspiel von Erfahrung, Repräsentation und laufender Anpassung anzusprechen. Der Therapeut könnte sich einem Sog ausgesetzt fühlen und durch sein Verhalten die unsicheren Modelle des Klienten bestätigen, so wie dies für die Erzieher und Kindergartenkinder im vorhergehenden Abschnitt beschrieben wurde. Dieser Sogwirkung zu widerstehen und eine korrigierende emotionale Erfahrung zu ermöglichen, stellt eine wichtige Aufgabe innerhalb der Intervention dar und hängt nicht nur vom inneren Bindungsmodell des Klienten, sondern auch von dem des Therapeuten ab (Bernier & Dozier, 2002). Eine der wichtigsten Aufgaben innerhalb einer bindungsbasierten Intervention ist es, die Beziehung zum Klienten zu reflektieren sowie die richtige Balance zwischen herausfordernd-sein und Halt-geben zu finden, so dass der Klient sich sicher fühlen kann und ermutigt wird, seine rigiden inneren Arbeitsmodelle zu bewerten und bei Bedarf zu ändern (Dozier, Cue & Barnett, 1994; Bowlby, 1988).

Einblicke in Entwicklungspfade durch das Buch „The Development of the Person”
Indem sie 180 Kinder und ihre Familien – mit vorläufigen Daten zur zweiten Generation von Kindern – längsschnittlich untersuchte, liefert die Minnesota Studie einen beeindruckenden Überblick über Entwicklungspfade. Obwohl statistische Analysen ein hervorstechendes Merkmal dieses Buches sind, findet der Leser auch Beschreibungen von individuellen Entwicklungsverläufen; mit am beeindruckendsten ist die prospektive Falldarstellung der Folgen von sexuellem Missbrauch auf die Gedächtnisentwicklung und Verdrängung (Sroufe et al, 2005, S. 269-270). Alles in allem ist dieses Buch höchst informativ für die Jugendhilfe, insbesondere weil die Autoren bei der Untersuchung dieser Kinder sich nicht nur fragen „Entwickeln sie sich gut?”, sondern auch „Auf welche Weise wird dies erreicht?” (S.136). Und sie fragten nach den Kräften, die diese Kinder auf ihrem Weg hielten.

Wenn Veränderung vorkam, fand man hierfür in sich verändernden Kontexten Erklärungen. Deshalb gewinnen wir nicht nur Einblicke in normale Variationen von Entwicklung, sondern ebenso in pathologische Entwicklungsverläufe, wie z. B. die Entwicklung der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Verhaltensauffälligkeiten, Depression und Angst, und ebenso in die Konsequenzen schwer gestörter elterlicher Sorge, einschließlich Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch. Pathologische Zustände nehmen in einer gesetzmäßigen und schlüssigen Weise zu und ab. All dies ist sehr informativ für die klinische Praxis und für die Jugendhilfepolitik.

So sind zum Beispiel die Ergebnisse, die die Abnahme von Bindungssicherheit über die ersten Jahre hindurch betreffen, von großem praktischen Wert. Wenn sich Bindungsqualitäten im zweiten Lebensjahr von sicher zu unsicher veränderten, war dies mit niedrigen Werten mütterlicher Freude, Glück und Genießens während des Stillens (bzw. Flasche füttern) im Sechsmonats-Alter des Babys verbunden. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass elterliche Fertigkeiten (Tempo und zeitliche Abstimmung), so wie sie in der Ainsworth´schen Feinfühligkeitsskala erfasst werden, für die Entwicklung von Bindung verantwortlich sind, während die affektiven Komponenten elterlichen Verhaltens für die Aufrechterhaltung adaptiver Beziehungen verantwortlich sind (Sroufe et al, 2005, S. 103). Eine Schlussfolgerung daraus für die Praxis Früher Hilfen lautet: „Unterstütze Freude bereitende Elternschaft“, ein wichtiges Element des STEEP-Programm, so wie dies auch im Programmtitel „Schritte hin zu einer Freude bereitenden, effektiven Elternschaft“ deutlich wird.

Insgesamt wird der Einfluss sozialer Unterstützung im gesamten Buch in eindrucksvoller Weise belegt, mit klaren Anforderungen an die Jugendhilfeplolitik und die Jugendhilfeträger. Und wiederum, da die Nutzung sozialer Unterstützungssysteme und noch mehr der Aufbau persönlicher und unterstützender Beziehungsnetzwerke selbst eine Entwicklungskonstruktion ist, reicht das alleinige Angebot einer entsprechenden Infrastruktur nicht aus. Hoch belastete Familien müssen innerhalb von Vertrauensbeziehungen darin unterstützt werden, diese Angebote zu nutzen. Dies wiederum erfordert mehr beziehungsbasierte Jugendhilfeangebote. Außerdem waren die dramatischen Konsequenzen von Kindesmisshandlung (am höchsten für sexuellen Kindesmissbrauch) in dieser Studie frappierend, sogar dann noch, wenn sie im Vergleich mit allen anderen bekannten Risiken betrachtet wurden. Für die Jugendhilfepolitik heißt dies, dass die Verhinderung von Kindesmisshandlung und sexuellem Kindesmissbrauch ebenso wie Hilfen für misshandelte und missbrauchte Kinder allererste Priorität haben sollten.

Eine andere informative Diskussion bezieht sich auf Schulabbruch. Die Daten zeigen, dass Schulabbruch ein Prozess ist, der schon mit dreieinhalb Jahren beginnt, also bereits bevor die Schule beginnt (Sroufe et al, 2005, S. 288). Manche Kinder haben kaum Chancen in der Schule, bevor sie überhaupt damit beginnen. Und wie die Daten der Minnesota Studie zeigen, spielen psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle. Neben der Qualität früher Erziehung und elterlichen Engagements in Klasse 6, ging Schulabbruch mit Verhaltensauffälligkeiten in Klasse 6 einher. Dies spiegelt die Entfremdung von der Schule und das Scheitern wider, mit Mitschülern und Lehrern zurechtzukommen. Bemerkenswert ist, dass jene Kinder, die die Schule abbrachen, keinen speziellen Lehrer hatten, dem sie sich nahe fühlten oder den sie auf ihrer Seite wähnten (S. 209 ff). Diese Daten unterstreichen, dass Schulabbruch dadurch zu verhindern ist, dass Entwicklungsanpassung in den Jahren vor dem Schulbeginn gefördert wird. Sich auf Schul- und leistungsbezogene Themen zu konzentrieren, reicht nicht aus, da psychosoziale Faktoren eine herausgehobene Rolle spielen. Und wiederum sind die beziehungsbasierten Strategien, einschließlich der Förderung der Lehrer-Schüler-Beziehungen, am Erfolg versprechendsten.

Schlussbemerkungen
Das Buch „The Development of the Person” hat den klinischen Implikationen ein eigenes Kapitel gewidmet, das inhaltlich nicht mit dem vorliegenden Beitrag identisch ist. Sroufe et al. (2005) schreiben darin: „Wir verstehen es so, dass wir in diesem Kapitel lediglich damit begonnen haben, die klinischen Implikationen unserer Studie zu skizzieren. Wir hoffen auf eine künftige Ausdehnung dieser Überlegungen in Zusammenarbeit mit denen, die mehr mit klinischer Arbeit befasst sind” (S. 286). Aus diesem Grunde empfehlen wird, dass Praktiker nicht nur dieses Kapitel, sondern vielmehr das ganze Buch lesen, um die klinischen Implikationen der beschriebenen Minnesota Studie in vollem Umfang und sorgfältig ausarbeiten zu können. Einige Einsichten dürften nicht neu für das Feld sein, da sie bereits verfolgte Ideen bestätigen. Einige sind vielleicht schon in Interventionsansätzen integriert, wie z. B. im Interventionsprogramm „circle of security” (Marvin et al., 2002) oder in STEEP (Egeland & Erickson, 2004) und anderen bindungsbasierten Programmen. STEEP stützt sich in besonderem Maße nicht nur auf den theoretischen Rahmen der Bindungstheorie, sondern ebenfalls auf die umfangreiche Forschung der Minnesota Studie, da STEEP in diesem Kontext 1987 entwickelt, implementiert und evaluiert wurde (Egeland & Erickson, 2004). Das Programm wurde seither verbessert und wird gegenwärtig unter Einbeziehung unterschiedlicher Regionen in Deutschland (Hamburg, Frankfurt, Offenburg und Potsdam/Berlin) erneut evaluiert (Suess, Bohlen & Mali, 2008; Kissgen & Suess, 2005; Suess & Kissgen, 2005; Suess & Kissgen, in press; Suess & Hantel-Quitmann, 2004) (überarbeiteter Satz: 2008).

Wir sind fest vom Nutzen Evidenz-basierter Intervention überzeugt. Neben der Untermauerung bereits betriebener Praxis mit empirischen Belegen, sollten Praktiker laufend auf empirische Daten im Hinblick auf eine informierte und verbesserte Praxis zurückgreifen. Neben Informationen zum Wesen normaler und abnormaler Entwicklung, Kontinuität und Veränderung eingeschlossen, stellt das „Minnesota Parent-Child Project” zusammen mit anderer Bindungsforschung klinisch relevante und valide Methoden bereit, die die Intervention und ihre Evaluation verbessern kann: z. B. die „Tool Problem-Solving Task“ im Zweijahres- und frühen Kindergartenalter, die Konzepte der „Supportive Presence“ (Sroufe et al, 2005, S. 326ff) und der „Generational Boundary Dissolution“ (S. 114), oder der Geschichtenergänzungsaufgabe (ASCT) bei Vier- bis Achtjährigen (Bretherton et al., 2001) bzw. das Erwachsenenbindungsinterview (AAI) (George, Kaplan & Main, 1985).

Die Zuversicht, dass neue Technologien auf dem Gebiet der Jugendhilfe in den kommenden Jahren entwickelt und bestehende verbessert werden, ist begründet. Erstens warten Praxis-relevante Daten darauf, in die Praxis übersetzt zu werden, unter ihnen Ergebnisse der Arbeit von Sroufe et al. (2005). Zweitens stellt die Minnesota Studie und das Buch „The Development of the Person” einen Schlusspunkt und einen Anfang dar, da die Studie weiter geführt wird. Ersteres betreffend, hat die Minnesota Studie Praktiker bereits mit einem guten theoretischen Rahmen versorgt, ganz im Sinne Kurt Lewin´s und John Bowlby´s Forderung. Mit Bezug auf Letzterem, setzt sie die Untersuchung normaler und abnormaler Entwicklung und seiner Entwicklungsprozesse fort, „um das Zusammenspiel von wirklicher Erfahrung (frühe und spätere) und wie diese Erfahrung integriert und repräsentiert wird, besser zu verstehen“ (S. 301). Und nicht zuletzt wird diese Studie andere Forschungsaktivitäten in den Grundlagen- und angewandten Wissenschaften anregen und hoffentlich auch ihre Integration fördern.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich. Der auf diesem Beitrag basierende Vortrag „Frühe Bindungen und ihre Störungen“ wurde am 11.10.2008 in Leipzig von Prof. Gerhard Suess gehalten. Vom Abdruck eines Fotos der Co-Autorin wurde daher abgesehen.

Prof. Dr. Gerhard J. Suessist Hochschullehrer an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Department Soziale Arbeit) in Hamburg.

Dr. June Sroufe ist niedergelassene Psychotherapeutin in Minneapolis (Minnesota, USA).

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