30 Jun fK 6/08 Simoni
Kommunikation und Erwerb sozialer Kompetenz unter Kleinkindern
von Heidi Simoni
Der Mensch wird am Du zum Ich
(Martin Buber)
Was Kinder für ihre Entwicklung brauchen, ist gut belegt und hinreichend bekannt: Sie brauchen Sicherheit und Anregung, je nach Temperament und Entwicklungsphase in unterschiedlicher Mischung. Sicherheit erfahren Kinder in allererster Linie durch „Drei-v-Bezugspersonen“, also durch vertraute, verlässliche und verfügbare Erwachsene. Zu einem anregenden Umfeld gehört bereits in der frühen Kindheit die Möglichkeit zum Kontakt mit andern Kindern. Fruchtbar werden kann dieser allerdings nur, wenn die Kinder ebenfalls miteinander vertraut werden können. Die eingangs zitierte Aussage von Martin Buber zum Kern früher Entwicklungsprozesse könnte man so ergänzen: Der Mensch erwirbt seine Identität und seine Kompetenzen durch die Fürsorge und den Austausch mit Drei-v-Bezugspersonen und durch frühe Begegnungen mit andern Kindern.
Ab wann sind Kinder für Kinder bedeutsam?
Bereits Säuglinge interessieren sich nicht nur für ihre Hauptbezugspersonen, sondern auch für andere Kinder (Fogel, 1979). In kleinen Gruppen und unter geeigneten Bedingungen lassen Kinder bereits in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres Vorlieben für bestimmte Kinder sowie Anfänge von Gruppenstrukturen erkennen (Howes, 1996; Rauh, 1984). Bezüglich der Präferenzen für bestimmte andere Kinder lässt sich ab dem ersten Lebensjahr eine beachtliche Konstanz nachweisen (Howes, 1996). Außerdem zeigen schon einjährige Kinder individuell unterschiedliches Verhalten gegenüber bestimmten altersgleichen Kindern (van Lieshout et al., S. 1993).
Bei sechsmonatigen Kindern kann nachgewiesen werden, dass sie sich häufiger berühren, wenn keine Gegenstände zur Verfügung stehen. Außerdem beeinflussen sie sich in ihrem Verhalten gegenseitig (Hay, Nash & Pedersen, 1983). Wenn das berührte Kind die Berührung erwidert, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das erste Kind seine Handlung wiederholt. Das Verhaltensrepertoire von Kontakt stiftenden Verhaltensweisen, welches Kleinkinder gezielt und vorsichtig einsetzen, umfasst neben der Berührung noch weitere Ausdrucksformen: Mimik, Gestik und Körperhaltung, Laute, Lächeln, Imitation, parallele Tätigkeit, Angebot von Gegenständen u. a. Obwohl Berührungen unter Kleinkindern häufig an den Haaren oder im Gesicht erfolgen und die Kinder auch gelegentlich durch die Berührung das Gleichgewicht verlieren, reagieren sie sehr selten mit Protest.
Trotz teilweise kontroverser Einschätzungen spricht vieles für eine förderliche Wirkung früher sozialer Erfahrungen unter Kindern (Überblick bei Krappmann, 1993; vgl. zur Bedeutung früher Kind-Kind-Interaktionen: Wüstenberg und Schneider, 2001). Bereits 1980 fasst Vandell empirische Erkenntnisse über die Bedeutung von Mutter-Kind- oder Kind-Kind-Kontakten so zusammen: Interaktionen von Kleinkindern mit Erwachsenen oder mit Kindern ermöglichen sowohl ähnliche wie unterschiedliche Erfahrungen. Die überlappende wie die eigenständige Bedeutung tragen zur Entwicklung und Sozialisierung des kleinen Kindes Wichtiges bei (Vandell, 1980, S. 360).
Während Piaget (1977) und Youniss (1994) die Bedeutung von Kindern vorwiegend in symmetrischen Kontakten mit ausgeglichenem Kompetenzverhältnis hervorheben, sind für Vygotsky (1973) symmetrische und asymmetrische Kontakte zwischen Peers wichtig. Förderliche Erfahrungen ergeben sich also sowohl zwischen Kindern mit geringem Altersunterschied, die im Hinblick auf Kompetenzen auf ähnlichem Entwicklungsstand sind, als auch zwischen Kindern, bei denen es ein gegenseitig anregendes Kompetenzgefälle gibt.
Damit Kinder bedeutsam füreinander werden und sich im Austausch miteinander entwickeln können, müssen sie als Erstes Gelegenheit für regelmäßige Kontakte erhalten. Dies ist unter aktuellen Lebensumständen nicht selbstverständlich gegeben. Zum einen wachsen viele Kinder in Familien oder Nachbarschaften mit nur wenigen Kindern auf. Zum andern werden bereits Kleinkinder zwar immer häufiger institutionell betreut, der Ermöglichung von frühen Beziehungserfahrungen wird aber gegenüber andern Zielen eher wenig Beachtung geschenkt. Kinder – insbesondere kleine Kinder – sind heute in großem Masse darauf angewiesen, dass Erwachsene die Bedeutung anderer Kinder wahrnehmen und altersadäquat Kotakte ermöglichen.
Soziale Kompetenz bei kleinen Kindern
Eine gute soziale Kompetenz ist für das Wohlergehen eines Kindes unbestritten. Kinder, die Schwierigkeiten haben, mit anderen in Kontakt zu treten, einem gemeinsamen Spiel nachzugehen oder sich Gehör und Respekt zu verschaffen, laufen Gefahr, von den anderen Kindern übergangen oder abgelehnt zu werden. Sie sind als Außenseiter(innen) nicht nur in ihrer weiteren sozialen Entwicklung gefährdet. Auch die individuelle kognitive und emotionale Entwicklung erleidet Einschränkungen. Wenn die Außenwelt in erster Linie eine Belastungsquelle darstellt, kann sie weder zur Regulierung des eigenen Befindens noch als anregendes Milieu genutzt werden.
Probleme können aber auch entstehen, wenn Eltern oder pädagogische Fachkräfte die soziale Kompetenz von Kindern falsch einschätzen. Das Überschätzen kann leicht zu Überforderung führen, nämlich etwa durch zu hohe Ansprüche in Bezug auf erwünschte soziale Verhaltensweisen. Ebenso wichtig ist es, die Kompetenzen der Kinder nicht zu unterschätzen. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn vorschnell eingegriffen wird, obwohl die Kinder die Situation auf ihre Art untereinander meistern könnten. Damit wird den Kindern die Möglichkeit genommen, eigene Lösungen zu erproben, aus den Erfahrungen zu lernen und Kompetenzen aufzubauen.
Die Fähigkeit, sich anderen gegenüber in einer positiven Art zu verhalten, das heißt, Mitgefühl zu zeigen, zu helfen, zu trösten oder Rücksicht zu nehmen, kann als ein zentraler Aspekt sozialer Kompetenz gelten. Soziale Kompetenz umfasst aber auch Fähigkeiten, die eigenen Interessen gegenüber anderen zu vertreten, sich durchzusetzen, Rücksicht zu nehmen und die eigenen Emotionen zu regulieren. Wissen über sich und andere oder darüber, wann man besser verzichten oder Kompromisse eingehen sollte, sind Bestandteile sozialer Kompetenz.
Einleuchtend ist, dass soziale Kompetenz nicht plötzlich im Kindergarten- oder Schulalter vorhanden oder nicht vorhanden ist, sondern ab Geburt erworben wird. Wenn wir bei kleinen Kindern über soziale Kompetenz sprechen oder diese untersuchen wollen, müssen wir aber von einer Definition ausgehen, die den Fähigkeiten des kleinen Kindes Rechnung trägt und nicht die willentliche Verhaltenssteuerung oder die Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme in den Vordergrund rückt. Dies ist einem Verständnis von sozialer Kompetenz gegeben, die diese als Fähigkeit zu sozial gerichtetem Verhalten beschreibt, das (1) dem Entwicklungsstand entspricht, also die vorhandenen Fähigkeiten nutzt, (2) die persönlichen Beziehungen fördert und pflegt und (3) niemandem Schaden zufügt (Schneider 1993, S. 19). Für kleine Kinder stehen entsprechend ihren Möglichkeiten, sich mit sich und der Welt auseinanderzusetzen, die Verhaltensebene und frühe Formen der Regulierung im Vordergrund. Sie erproben, üben und erwerben Verhaltensweisen und einfache Strategien, um Kontakt zu knüpfen und ihre Bedürfnisse im Austausch mit andern zu befriedigen.
MMI-Studie zum Erwerb sozialer Kompetenz
Das Marie Meierhofer Institut für das Kind hat in einer Untersuchung zum Erwerb sozialer Kompetenz 28 Kinder (17 Mädchen, 11 Jungen) ab dem achten bis zum 25. Lebensmonat im freien Spiel mit anderen Kindern (im Alter zwischen sechs Monaten und sechs Jahren) neun Mal beobachtet (Simoni et al. 2008). Während die Kinder ihrerseits jederzeit die Möglichkeit hatten, sich an die Erwachsenen zu wenden, sollten sich diese „so wenig wie möglich und so viel wie nötig“ in das Geschehen zwischen den Kindern einmischen. 239 Filme à 30 Minuten sind systematisch ausgewertet und anschließend im Hinblick auf prosoziales Verhalten (Kappeler, in Vorbereitung) und frühes Konfliktverhalten (Licht 2007, Licht et al. 2008) vertieft analysiert worden. Die folgenden Ausführungen basieren auf den Arbeiten von Licht und Kappeler.
Kleinkinder in prosozialen Situationen
Bekannte Theorien zur Entwicklung von prosozialem Verhalten gehen davon aus, dass sich dieses Verhalten in den ersten zwei Lebensjahren entwickelt (z. B. Hoffman, 1982). Diese Annahmen werden durch verschiedene Studien gestützt: So konnten etwa Warneken und Tomasello (2006) zeigen, dass schon 18 Monate alte Kinder anderen helfen, ein Ziel zu erreichen.
Ergebnisse bisheriger Untersuchungen zeigen ferner, dass Empfängermerkmale das prosoziale Verhalten stark beeinflussen. Demnach wird prosoziales Verhalten eher an jüngere Kinder und an Kinder desselben Geschlechts gerichtet. Auch andere Faktoren wie die Vertrautheit des Gegenübers spielen eine wichtige Rolle: Kinder richten ihr prosoziales Verhalten eher an vertraute Personen und in einem geringerem Maß an fremde. Allerdings weist Caplan (1993) darauf hin, dass kognitive Fähigkeiten, welche es erlauben, potentielle Empfänger einzuschränken, erst mit fortschreitender Entwicklung und Sozialisationserfahrung erworben werden. Kleine Kinder scheinen dagegen über die Sympathie und die Vertrautheit hinaus noch wenig Unterschiede bei der „Vergabe“ von prosozialem Verhalten zu machen. Obwohl die Wurzeln des prosozialen Verhaltens in den ersten zwei Lebensjahren liegen, fehlen systematische Kenntnisse über Formenvielfalt und Entwicklungsverlauf des frühen prosozialen Verhaltens unter Kindern bisher weitgehend.
Frühes prosoziales Verhalten unter Kinder
Um den Möglichkeiten kleiner Kinder gerecht zu werden, wurde in der Untersuchung am Marie Meierhofer-Institut für das Kind prosoziales Verhalten wie folgt definiert: Prosoziales Verhalten beinhaltet Handlungen, die das Wohlergehen der anderen Person aufrechterhalten oder erhöhen sollen. Bewusst konzentriert sich diese Definition in Anlehnung an die Lerntheorie (vgl. Gelfand & Hartmann, 1982) auf beobachtbare Verhaltensweisen und klammert aus, was eine Person zum Helfen bewegt. Es macht bei Kleinkindern keinen Sinn, zwischen selbstlosem und eigennützigem Verhalten zu unterscheiden und nur ersteres als prosozial zu benennen. Eine freiere Definition erleichtert es, Vorläufer prosozialer Verhaltensweisen aufzuspüren.
Insgesamt wurden in der Studie über alle neun Beobachtungszeitpunkte zwischen dem neunten und 25. Lebensmonat 950 Szenen identifiziert, die prosoziales Verhalten beinhalteten bzw. Gelegenheiten für solches darstellten (z. B. Weinen anderer Kindern). Für die vertiefte Analyse dieser Sequenzen wurde nach folgenden sechs Formen unterschieden: (1) Anbieten von Objekten zur ständigen oder temporären Nutzung, (2) Assistieren/Helfen ohne Notlage der anderen Person, (3) Trösten/Helfen in einer Notlage, (4) Wiedergutmachung eines verursachten Leids, (5) Zuneigung zeigen ohne sichtbare emotionale Bedürftigkeit der andern Person, (6) prosoziales Verhalten gegenüber Objekten wie Puppen oder Stofftieren.
Den Analysen lag zum einen die Frage zugrunde, ob die verschiedenen Formen prosozialen Verhaltens als Teile eines einheitlichen Konstruktes oder als voneinander unabhängige Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Motiven gelten können. Zum anderen wurde untersucht, ab wann welche prosozialen Verhaltensweisen im zweiten Lebensjahr unter Kindern beobachtbar sind.
Es zeigte sich, dass die Korrelationen zwischen den einzelnen Formen prosoziales Verhaltens mit zwei Ausnahmen sehr niedrig waren. Einzig das Üben prosozialen Verhaltens an unbelebten Objekten (Stofftieren oder Puppen) einerseits und Zuneigung zeigen bzw. Trösten andererseits waren überzufällig häufig in derselben Beobachtungseinheit zu finden. Das Ergebnis stützt die These, dass es sich bei den verschiedenen Formen von prosozialem Verhalten nicht um Teile des prosozialen Verhaltens handelt, sondern um unterschiedliche Verhaltensweisen, die unterschiedliche Anforderungen stellen und unterschiedlich motiviert sind.
Das Anbieten von Objekten war als früheste Form prosozialen Verhaltens bereits ab acht Monaten beobachtbar. Zuneigung zeigte sich als nächstes im Alter von zehn Monaten, gefolgt von Assistieren mit zwölf Monaten. Wiedergutmachung war erstmals mit 14 Monaten beobachtbar. Als letzte Formen traten ab 16 Monaten das Trösten und das prosoziale Verhalten gegenüber Objekten auf. Ab diesem Alter können somit alle sechs untersuchten Verhaltensweisen beobachtet werden, obwohl sie sich bezüglich der Häufigkeit der Manifestation deutlich unterscheiden.
Das Anbieten von Objekten, das mit Abstand am häufigsten gezeigte prosoziale Verhalten, nimmt zuerst stark zu und geht ab dem Alter von 16 Monaten wieder zurück. Einzig das „Assistieren“ zeigt eine klare Zunahme im Verlauf der Entwicklung, während bei den restlichen vier Formen weder eine klare Zunahme noch Abnahme festzustellen ist.
Die Analysen legen den Schluss nahe, dass der Zeitpunkt des Auftretens von den sozio-kognitiven, emotionalen und selbstregulatorischen Anforderungen der jeweiligen Verhaltensweisen bestimmt wird. Das Anbieten von Objekten setzt lediglich eine Ziel-Mittel-Verbindung voraussetzt, die mit acht Monaten bereits erfüllt ist. Beim Assistieren, also dem Helfen ohne Notlage des Gegenübers, dürfte bei den Kleinsten das Bedürfnis, (auch) tätig zu sein, im Vordergrund stehen, während bei den Zweijährigen das Kooperieren und die Annahme eines Unterstützungsbedarfs wichtiger werden dürfte. Beim Trösten und der Wiedergutmachung müssen Signale der Situation entsprechend gedeutet werden. Erst wenn das gelingt, kann das Kind erkennen, dass es sich um eine Situation handelt, in der die andere Person sich in einer Notlage befindet und Hilfe benötigt. Anders als beim Assistieren sind beim Trösten und bei der Wiedergutmachung die negativen Emotionen der leidenden Person Ausgangspunkt des Verhaltens. Dies erleichtert im Vergleich zu einer emotional neutralen Situation zwar das Erkennen des Handlungsbedarfs, bedingt aber, dass das Kind sich von anderen als psychisch getrennt erleben und mit eigenen negativen Gefühle bereits in einem gewissen Maß umgehen kann. Es benötigt also Fähigkeiten, sein Befinden selber zu regulieren. Prosoziales Verhalten wie Trösten oder Zuneigung zeigen, die ganz bestimmte sozial-emotionale Fähigkeiten erfordern, scheinen Kleinkinder typischerweise auch spielerisch, etwa im Umgang mit Puppen oder Stofftieren zu üben.
Kleinkinder in konfliktiven Situationen
In seiner einfachsten Form setzt Konfliktverhalten wenig voraus und tritt unter Kleinkindern sehr früh in der Entwicklung auf: Hat ein Säugling ein Objekt in der Hand, nach dem ein anderes Baby greift, liegt bereits ein Konflikt vor. Meist werden aber nur diejenigen Interaktionen als Konflikt verstanden, in welchen eine gegenseitige Abwehr auf der Verhaltensebene zum Ausdruck kommt (Shantz, 1987). Doch zunächst stellt sich die Frage, woran Konflikte sich überhaupt entzünden oder anders ausgedrückt: Wofür lassen sich Kleinkinder in einen Konflikt involvieren? Sind Kinder unter zwei Jahren überhaupt fähig zu streiten? Geht es ihnen bei Konflikten überhaupt ums Gegenüber oder ausschließlich um ein akutes Bedürfnis, das mit einem Gegenstand verknüpft ist? Hay and Ross (1982) gaben in ihrer bahnbrechenden Studie eine Antwort: Bereits bei den Kleinsten ist der soziale Charakter von Konflikten offensichtlich: Auch bei objektbezogenen Konflikten handeln die Ein- und Zweijährigen meistens sozial und kommunikativ.
Das Besondere am sozialen Verhalten im Konfliktfall ist jedoch, dass der Auslöser meist nicht sozialer Natur ist. Während sonst in sozialen Interaktionen das primäre Ziel mit dem Konfliktpartner verbunden ist (z. B. prosoziales Verhalten, soziales Spielverhalten, Zuneigung zeigen), ist dies beim Konflikt nicht zwangsläufig der Fall. Meistens trifft sogar das Gegenteil zu: Nicht Kooperation und Einvernehmen sondern Verhinderung und Abgrenzung sind die wesenhaften sozialen Komponenten der Konfliktinteraktion. Zusätzlich zu diesem doppelten – sozialen und nicht-sozialen – Charakter stellt ein Konflikt eine komplexe Aufgabe für ein Kind dar. Es möchte ein Ziel erreichen, wird jedoch daran gehindert. Das Hindernis ist überdies eine Person. Dies bedeutet, dass das Kind nicht nur Widerstand erfährt wie bei einem rein physikalischen Hindernis, sondern dass sein Gegenüber auf Handlungen seinerseits reagiert und sich somit eine Dynamik entwickelt. Der gegenseitige Widerstand kann in Form von Aggression auftreten, aber auch in vielen andern Formen, wie beispielsweise als Protest, durch Bitten, indem eine Drittperson hinzugeholt wird oder auch dadurch, dass der Gegner direkt an seinem Ziel gehindert wird. (vgl. Shantz, 1987). Aggressives Verhalten ist deshalb weder ein notwendiger noch ein regelmäßiger Bestandteil von Konflikten.
Am häufigsten werden Konflikte unter Kleinstkinder als Besitzverteidigung (Brenner & Mueller, 1982; Caplan et al., 1991; Eckerman et al., 1979; Viernickel, 2000), als Manifestationen von Eifersucht (Viernickel, 2000), als Platz in der Hierarchie (z. B. Frankel & Arbel, 1980; La Freniere & Charlesworth, 1983) oder des aufkeimenden Ich-Bewusstseins (Bronson, 1975) interpretiert. Diese Erklärungen sind wenig plausibel, weil sie eine Ich-Andere-Unterscheidung voraussetzen, wie sie erst ab ca. 18 Monaten angenommen werden kann. Alle Basisbedürfnisse hingegen wie Hunger, Durst und Neugier (Berlyne, 1960; Piaget, 1954) kommen sehr früh als Motive für Konflikte in Frage. Es liegt nahe, dass Fehlinterpretationen von Konflikten für das häufige Misslingen pädagogischer Interventionen bei Konflikten mitverantwortlich ist (vgl. Dittrich et al., 2001).
Konfliktmotive von Kleinkindern
Um der Entwicklung von Konfliktmotiven auf die Spur zu kommen, sind in der Untersuchung des MMI’s Verhaltenssequenzen von drei der neun Erhebungszeitpunkte berücksichtigt worden: (1) Beobachtungen im neunten Lebensmonat, wenn Objektpermanenz und Lokomotionsfähigkeit den Handlungsspielraum erweitern; (2) Beobachtungen im 15. Lebensmonat, wenn Kinder motorisch in der Lage sind, sich in verschiedene Situationen zu begeben und diese wieder verlassen können; (3) Beobachtungen im 23. Lebensmonat, wenn Vorstellungsfähigkeit, Ich-Andere-Unterscheidung und der Spracherwerb zentrale Entwicklungsthemen sind. In den beobachteten Konfliktszenen wurde nach Hinweisen und entsprechenden Erklärungen für die Motivation der Zielkinder „sich durchzusetzen“ gesucht. Berücksichtigt worden sind das Verhalten des Zielkindes, sein mimischer, vokaler und verbaler Ausdruck, das dem Konflikt vorausgegangene und folgende Ereignis, das Ergebnis des Konfliktes und die entsprechende Reaktion des Zielkindes sowie das Verhalten des Konfliktpartners.
Insgesamt konnten zu den drei gewählten Analysezeitpunkten 99 „eindeutige“ Konfliktszenen identifiziert werden. 22 der 27 Zielkinder waren mindestens einmal beteiligt. Im neunten Lebensmonat sind es zehn Zielkinder in 14 Konflikten, im 15. Lebensmonat sind es zehn Kinder in 26 Konflikten und im 23. Lebensmonat sind es 17 Kinder in 59 Konflikten. Im Folgenden werden Motive besprochen, die mehrmals beobachtet werden konnten. Bei den Beobachtungen im neunten Lebensmonat ließen sich zwei Gründe, Widerstand zu leisten, wiederholt identifizieren:
Unterbrochene Handlung: Das Zielkind ist mit einem Objekt (bzw. einer Person oder einem Territorium) beschäftigt. Ein anderes Kind versucht, ihm dieses wegzunehmen. Es hindert dadurch das Zielkind daran, seine Aktivität fortzusetzen. Das Zielkind fokussiert darauf, das Objekt wieder zu erhalten bzw. bei sich zu behalten oder verteidigt seinen Platz. Folgende Gründe sprechen dagegen, dies als Besitzkonflikt zu interpretieren: Zum einen setzt das Besitz-Verständnis Ich-Andere-Unterscheidung voraus, welche erst im Alter von ca. 18 Monaten zu erwarten ist. Zum anderen zeigten die Kinder während des Konfliktes weder Ärger gegenüber dem Partner, noch Kränkung, noch andere soziale Emotionen. Hingegen kam klar zum Ausdruck, dass sie das Objekt wieder erlangen wollten, um ihre unterbrochene Aktivität fortzusetzen. Sobald sie das Objekt wieder hatten, spielten sie damit sofort weiter. In keinem Fall wollte das Zielkind das Objekt behalten, ohne damit zu spielen. Hatte das Kind sein Interesse an der unterbrochenen Aktivität verloren, war der Konflikt beendet; weder der Partner noch der Gegenstand haben das Zielkind weiter interessiert.
Neugier/Exploration: Das Zielkind zeigt Interesse an einem Gegenstand, mit dem sich ein anderes Kind beschäftigt und versucht, ihm diesen wegzunehmen. Trotz des Widerstands setzt das Kind seine Bemühung fort, bis es das Objekt erlangt oder der Konflikt auf andere Weise (etwa Ablenkung der Aufmerksamkeit) beendet wird. Solche Konflikte werden häufig als Besitzkonflikte interpretiert, weil ein identisches Spielzeug, welches auf dem Boden liegt, das Interesse des Zielkindes nicht zu wecken vermag und es folglich um den Besitz und nicht um das Objekt an sich gehen würde. Eine altersgerechtere Hypothese könnte lauten, dass ein Gegenstand, der gerade von einem anderen Kind bewegt wird, ganz besonders die Neugier zu wecken vermag. Während sowohl Besitzbedürfnis als auch Eifersucht höhere kognitive Fähigkeiten voraussetzen, ist Exploration eine Basismotivation, welche von Geburt an vorhanden ist.
Bei der Beobachtung der Kinder im 15. Lebensmonat konnte außer „Unterbrochene Handlung“ und „Neugier/Exploration“ ein weiteres motivationales Thema öfters gefunden werden:
Erweckte Bedürfnisse: Das Zielkind beobachtet ein anderes Kind beim Trinken oder Essen und unterbricht seine aktuelle Beschäftigung, starrt das andere Kind an, konzentriert sich dann auf das Objekt (z. B. Trinkflasche) und versucht es wegzunehmen. Auch in diesen Fällen zeigten sich keine Hinweise auf Besitz- oder Eifersuchtskonflikte. Das Zielkind ließ das Streitobjekt sofort los, sobald es sein Bedürfnis gestillt oder ein anderes, äquivalentes Objekt erhalten hatte. Das Zielkind war wieder zufrieden, sobald sein physisches Bedürfnis gestillt war.
Im Verhalten der Kinder im 23. Lebensmonat konnten zusätzlich zu den erwähnten Themen zwei weitere mehrmals beobachtet werden:
Besitz: Das Zielkind zeigt sein Bedürfnis, freie Verfügung über einen Gegenstand zu haben. Die Interpretation wird gestützt durch den Gebrauch des Wortes „mein” und eine Gestik, die auf die Bindung zwischen Kind und Objekt verweist (z. B. Umarmen des Objekts). Außerdem war das Zielkind am Ende des Konfliktes manchmal alleine schon durch das Be- oder Erhalten des Objekts zufrieden, ohne dass es damit spielen oder hantieren wollte. Dies war zwar selten beobachtbar, kam jedoch in keinem einzigen Konflikt der früheren Analysezeitpunkte vor.
Hierarchie: Diese Motivation wurde in Konflikten vermutet, bei denen sich das Zielkind zufrieden gab, wenn es über den Gebrauch des Objektes entscheiden konnte – ungeachtet dessen, wer mit dem Objekt spielte. Es schien weder um das Spielen mit dem Objekt noch um das Behalten desselben zu gehen, sondern vielmehr um die Entscheidung über dessen Verwendung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Motive für Konflikte identifiziert werden können, die zeigen, dass Besitz (noch) nicht das Hauptthema bei Konflikten von Kleinkindern ist. Zusätzlich lässt sich ein Entwicklungsverlauf während des zweiten Lebensjahres beobachten. Im untersuchten Altersspektrum traten in erster Linie Themen auf, die mit dem Bedürfnis nach Exploration verbunden sind. Erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres lassen sich Konflikte beobachten, in denen es um Besitz oder Dominanz geht. Es stellt sich also die Frage, ob das Bedürfnis nach Exploration heute als Quelle für Konflikte nicht stark unterschätzt wird. Aussagen wie „Lass es, sie hat es zuerst gehabt“ sollten womöglich Platz machen für Aussagen wie „Lass sie bitte diese Runde fertig machen, dann bist du dran“. So kann die Neugier und Explorationslust kleiner Kinder anerkannt werden, ohne damit einen Appell zu verbinden, der die Fähigkeiten von Kindern unter zwei Jahren überfordert und sie entsprechend frustriert.
Resümee
Systematische Beobachtungen illustrieren, dass sich das soziale Verhalten unter Kleinkindern erst unter Berücksichtigung entwicklungsabhängiger Möglichkeiten und entwicklungsadäquater Motive plausibel verstehen lässt. Diese Erkenntnisse dürften nicht zuletzt pädagogisch relevant sein, weil sie Missverständnisse zwischen Kindern und Erwachsenen vorbeugen helfen. Die berichteten Ergebnisse unterstreichen zum einen die Reichhaltigkeit und Eigenständigkeit früher Erfahrungen unter Kindern. Es darf davon ausgegangen werden, dass Kinder durch andere Kinder bereits in den ersten beiden Lebensjahren in beträchtlichem Maß sozial-emotional-kognitiv gefordert sind. Zum andern legen die Ergebnisse nahe, dass der Stellenwert von Übung und Erfahrung ab dem frühen Kindesalter nicht unterschätzt werden sollte. Dafür brauchen Kleinkinder aber entsprechende Gelegenheiten, also anregende Orte und andere Kinder, die ihnen so vertraut werden können, dass sie sicher genug fühlen, um ihre Kompetenzen auszuloten und zu erweitern.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. phil. Heidi Simoni ist Fachpsychologin für Psychotherapie und Leiterin des Marie Meierhofer-Instituts für das Kind in Zürich.
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