30 Jun fK 6/08 Salisch
Kleine Menschen mit großen Gefühlen
Entwicklung der emotionalen Kommunikation in der frühen Kindheit
von Maria von Salisch
Junge Kinder sind anders als Erwachsene. Wenn sie Angst oder Kummer haben, brauchen sie sofort körperlichen Trost bei anderen Menschen, wenn sie aufgeregt sind, laufen sie durch die Gegend und wenn sie begeistert sind, stoßen sie schrille Schreie aus. Schon winzige Neugeborene sind in der Lage, im Vergleich zu ihrer Körpergröße ein gewaltiges Stimmvolumen entwickeln. Sie sind, mit anderen Worten, kleine Menschen mit großen Leidenschaften. Offenbar bleibt dies nicht so.
Während Kleinkinder ihre Gefühle (und andere körperliche Zustände) noch ziemlich ungefiltert ausdrücken, so sind die Gefühlsbekundungen von Kindergartenkindern im Vergleich schon viel verhaltener: Wutanfälle werden seltener, ebenso lautstarker Jubel oder Abscheu. Doch was genau verändert sich in den ersten Lebensjahren? Wie entwickelt sich die emotionale Kommunikation in der frühen Kindheit? Wie erwerben Kleinkinder die Fähigkeit, den Ausdruck (und vielleicht auch das Erleben) ihrer Emotionen zu beeinflussen? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt ein Blick auf ein Modell, das beschreibt, wie Emotionen entstehen und wie sie reguliert werden:Das Modell von James Gross zur Entstehung von Emotionen.
In dem integrativen Prozessmodell von James Gross (1998), das die Formulierungen der strukturalistischen (z. B. Ekman, 1988) und der funktionalistischen Emotionstheoretiker (z. B. Lazarus, 1991) integriert, werden Emotionen als eine Abfolge von Reaktionen verstanden, die dann einsetzen, wenn das Kind vorausgehende Bedingungen wahrnimmt, die für seine Bedürfnisse oder Ziele relevant sind (siehe Abbildung 1). Die voraus laufenden Bedingungen – früher Emotionsauslöser genannt – sind vielfältig: sie speisen sich aus Körperempfindungen und Erinnerungen ebenso wie aus der Situation, in der sich das Kind gerade befindet. Emotionen können daher ebenso durch internale wie durch externale Faktoren hervorgerufen werden.
Als nächstes werden die vorangehenden Bedingungen bewertet. Erfolgt die Bewertung innerhalb eines Sekundenbruchteils, so sind höhere Hirnfunktionen wahrscheinlich nicht beteiligt (LeDoux, 2001). Mit dem Alter häufiger wird die gründliche Bewertung, die länger dauert und den Neocortex einbezieht. Dies geschieht vor allem bei komplexeren Sachverhalten. Je nachdem, zu welcher Bewertung Kinder kommen, erleben sie unterschiedliche Gefühle. Verschiedene Kinder bewerten die gleiche Situation unterschiedlich. Ein Beispiel: während ein Kind die Gegenwart einer fremden Person als Angst einflößend einschätzt, reagiert ein anderes auf die gleiche Situation mit verhaltener Neugier. Oder noch extremer: während die meisten Kleinstkinder die Unterbrechung einer attraktiven Bilderserie, die sie selbst durch ihre Armbewegungen hervorgerufen haben, mit wildem Herumfuchteln und einem ärgerlichen Gesicht beantworten, so reagiert eine Minderheit auf die gleiche frustrierende Situation mit weniger Aktivität und einem traurigem Gesichtsausdruck (Lewis, Alessandri & Sullivan, 1990). Meist bewegen sich die Einschätzungen aber im Rahmen von Varianten, die sich zu prototypischen Emotionen zusammenfassen lassen. Während ein Kind auf eine Ärger erregende Situation zum Beispiel mit Jähzorn reagiert, empfindet ein anderes zum Beispiel stille Ressentiments, also unterschiedliche Emotionsqualitäten, die aber beide Varianten des „Emotionsprototyps“ Ärger sind (von Salisch, 2000).
Weil nicht alle Menschen in gleicher Weise reagieren, spricht das Modell von emotionalen Reaktionstendenzen und zwar im subjektiven Erleben, im Ausdrucksverhalten und in den körperlichen Begleitsystemen wie Herzschlag oder Atmung. Diese drei Antworttendenzen sind eng miteinander verbunden und laufen unbeobachtbar im Innern der Person ab, oft auf vorgegebenen neurologischen oder physiologischen Bahnen. Erst die manifesten Reaktionen sind für uns sichtbar, allerdings immer nur durch den Filter der Modulation. Welche Gefühle Menschen empfinden, können sie durch Worte und später durch Bilder, Musikstücke, Gedichte oder auf anderem künstlerischen Wege übermitteln. Physiologische Reaktionen lassen sich an einem beschleunigten Herzschlag oder an Veränderungen der Körpertemperatur ablesen. Das Ausdrucksprogramm wird in Gesicht, Stimme und bei jungen Kindern auch in der Grobmotorik offenbar: Kleinkinder laufen vor Angst vor einer fremden Person einfach aus dem Zimmer und schmiegen sich an ihre Bezugsperson an. Ob der Emotionsausdruck in Sprache, Ausdruck und Physiologie mit den „inneren Programmen“ übereinstimmt, ist nicht immer gegeben, weil er moduliert wird. Die Kommunikation im ersten Lebensjahr legt die Grundsteine für die Modulation im Bereich des Ausdrucksverhaltens.
Emotionale Kommunikation im ersten Lebensjahr
Die Mimik ist eines der wenigen Verhaltenssysteme, die ab der Geburt einsatzbereit sind. Auch wenn die Feinmodulation der Gesichtsbewegungen noch der Übung bedarf, so ist das Gesicht doch im Prinzip in der Lage, Gefühlszustände und andere Empfindungen des Säuglings differenziert zu übermitteln. Gab man neugeborenen Babys süße und saure Lösungen zu schmecken, so ließ sich an ihrem Gesichtsausdruck eindeutig erkennen, welche Probe sie gekostet hatten (Oster & Ekman, 1978). Erstaunlich ist, dass sogar Neugeborene schon in der Lage sind, das emotionale Ausdrucksverhalten ihrer Mitmenschen zu imitieren, allerdings nur bei optimaler Aufmerksamkeit (Field, Woodson, Greenberg & Cohen, 1982). In der Tat ist in diesen ersten Lebenswochen und -monaten der Austausch von mimischen Gefühlsbotschaften ein wesentliches Mittel der Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern. Das soziale Lächeln, das mit etwa sechs Wochen zuerst regelmäßig als Reaktion auf das Lächeln der Bezugspersonen einsetzt, erweitert diesen Austausch um eine positive Note, die die Eltern „belohnt“, wenn sie etwas „richtig“ gemacht haben.
Der nonverbale Austausch ist nach kurzer Zeit so eingespielt, dass sich Erwartungen des Säuglings an das Verhalten seiner Mutter schon ab dem zarten Alter von zwei Monaten nachweisen lassen. Denn wenn man Mütter bat, die Kommunikationsangebote ihrer Kleinstkinder mit unbewegter Miene zu quittieren, so reagierten die Babys verstört: Zunächst protestierten sie, dann versuchten sie vermehrt, ihre vertraute Kommunikationspartnerin wieder zum gewohnten Miteinander zu bewegen. Die Verstörung der Säuglinge hielt auch dann noch eine Weile an, wenn die Mutter sich wieder wie erwartet am emotionalen Austausch beteiligte (Cohn & Tronick, 1983).
Bedeutsam ist dieser intensive Austausch von Gefühlsbotschaften deshalb, weil Säuglinge eine „sensomotorische Intelligenz“ besitzen. Piaget und Inhelder (1986) prägten diesen eingängigen Begriff, der vereinfacht ausgedrückt besagt, dass Babys ihr Verständnis von ihrer Umwelt (und damit auch mittelbar von sich selbst) nicht über die Sprache gewinnen, sondern nur durch Wahrnehmungen ihrer Umwelt und eigene Handlungen in ihr, wobei Eltern und andere Bezugspersonen natürlich den wichtigsten Teil der sozialen Umwelt darstellen. Für die Entwicklung der Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, bedeutet dies, dass Säuglinge dies zunächst auf der Ebene des Verhaltens lernen und zwar genau durch den Austausch von Gefühlsbotschaften. Dies kann Eltern und ihre Sprösslinge in den ersten Lebensmonaten stundenlang beschäftigen. Babys lernen bei diesen Spielen (z. B. guck, guck) wie ihre Emotionsangebote von ihren Pflegepersonen beantwortet werden. Genauer gesagt lernen sie eine Kontingenzbeziehung auf der Verhaltensebene, etwa von der Form: wenn ich lächele, dann lächelt mein Papa zurück oder wenn ich ängstlich schaue, dann sieht mich meine Oma ängstlich an.
In der Wirklichkeit sind diese Wenn-dann-Beziehungen weniger perfekt. Als die Entwicklungspsychologinnen Carol Malatesta und Janet Haviland (1982) 60 Säuglinge von drei und sechs Monaten im Spiel mit ihrer Mutter beobachteten und alle Gefühlsäußerungen im Gesicht von Mutter und Kind genau aufschrieben, stellten die beiden Forscherinnen nämlich fest, dass nur etwa ein Viertel der nonverbalen Gefühlsantworten der Mütter kontingent auf die mimische Vorgabe des Babys erfolgte; drei Viertel der Reaktionen lagen außerhalb des Zeitfensters von einer Sekunde nach der Äußerung des Säuglings. Allerdings nahmen die Mütter in etwa einem Drittel ihrer kontingenten Antworten die Emotion ihres Babys auf, indem sie das Lächeln ihres Kleinstkindes mit einem eigenen Lächeln beantworteten. Auch auf Äußerungen von Interesse, Überraschung oder Trauer/Kummer auf Seiten ihres Babys reagierten sie weit häufiger als per Zufall zu erwarten gewesen wäre mit der gleichen Emotionskategorie (Malatesta & Haviland, 1982). Leicht vorstellbar ist nun, dass die Gefühlsantwort der Mutter ein neues Emotionssignal des Kindes stimuliert, das aus dem Ganzen ein nonverbaler Dialog zwischen den beiden wird oder eine Spirale wechselseitiger und immer intensiverer Gefühlsbekundungen.
Auch wenn man die Ergebnisse einer einzelnen Studie nicht überbewerten soll, so lässt sich aus diesen Befunden doch schließen, dass die emotionalen Reaktionen der Bezugspersonen den präverbalen Säuglingen Hinweise darüber vermitteln, welche ihrer Gefühle in welcher Intensität mit dieser Bezugsperson kommunizierbar und damit „erlaubt“ sind. Der Psychoanalytiker Daniel Stern (1992) geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die immer wieder etwas abgewandelten Emotionsdialoge auf der Ebene des Ausdrucksverhaltens eine der Quellen sind, aus denen Babys im Alter von etwa zwei bis acht Monaten ihr Kernselbst aufbauen. Sie lernen kurzum, dass der Ausdruck von Freude, Überraschung und Interesse mit vertrauten Personen geteilt werden kann, dass diese Gefühle in dieser Beziehung „erwünscht“ sind und dass man zusammen Spaß haben kann!
In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres verlagert sich der Austausch von der Ebene des Verhaltens auf die der subjektiven Erfahrungen emotionaler und anderer Art (Stern, 1992). Augenfällig wird dies am Gebrauch der Zeigegeste: Kleinstkinder versuchen durch Deuten (z. B. auf interessante Gegenstände) oder durch Vokalisation („da, da“) die Aufmerksamkeit ihrer Bezugspersonen zu gewinnen und ihr Interesse (und andere Emotionen) mit ihnen zu teilen. Der Austausch geht dabei nicht einseitig vom Kind aus, im Gegenteil: Schon vor ihrem ersten Geburtstag beginnen Kleinstkinder sich das überlegene Wissen ihrer älteren Betreuungspersonen zunutze zu machen, etwa wenn es darum geht, eine Unsicherheit erregende Situation zu beurteilen. Nähern sich Krabbelkinder zum Beispiel einem tiefen Abgrund, dann halten sie erst einmal inne und suchen im emotionalen Ausdrucksverhalten ihrer Bezugsperson nach Informationen, wie die Sache zu bewerten ist, wobei die Emotionssignale des Erwachsenen eine für das Kind verständliche Kurzschrift seiner Einschätzungen darstellen. Welche Schlüsse Kinder aus diesem rückversichernden Blick ziehen, war Gegenstand des Experiments von Sorce, Emde, Campos und Klinnert (1985) zur sozialen Bezugnahme. Denn die Kleinkinder verhielten sich unterschiedlich, je nachdem welche Emotion ihre Mutter auf ihrem Gesicht trug, während sie hinter dem tiefen Abgrund, der mit einer Plexiglasscheibe überdeckt war, stand. Lächelte die Mutter, dann krabbelten alle Einjährigen über das Plexiglas zu ihr hin. Signalisierte sie Angst, dann wandten sich alle ab. Eine ärgerliche Miene war dagegen etwas weniger wirksam, um die Krabbelkinder von der vermeintlichen Gefahr abzuhalten: 11 Prozent von ihnen bewegten sich gleichwohl auf die Mutter zu. Die soziale Bezugnahme funktionierte übrigens auch mit dem Vater und sogar mit der erwachsenen Versuchsleiterin, wenn die Eltern nicht zur Verfügung standen. Und auch mit zwei, drei oder vier Jahren schicken Kinder noch gelegentlich rückversichernde Blicke zu anderen, etwa zu ihren älteren Geschwistern, wenn eine wenig vertraute Person ihre Familie besucht. Wichtig dabei ist, dass der Emotionsausdruck der älteren Person klar und eindeutig ist. Widersprüchliche Botschaften (z. B. zwischen Gesichtsausdruck und Stimme) führten bei den Kindern zu mehr gehemmtem und unsicherem Verhalten (Barrett, 1984).
Jedes Kind und jedes Elternteil ist verschieden, jede Beziehung ist speziell. Schon von früh an sind daher Unterschiede in der emotionalen Kommunikation zwischen verschiedenen Eltern und ihren Kindern zu erwarten, die von den präverbalen Säuglingen wahrscheinlich als prozedurales Wissen abgespeichert werden. Bezugspersonen unterscheiden sich unter anderem darin:
• ob und welche Emotionssignale sie kontigent beantworten (vs. ignorieren) („wenn ich Schmerz zeige, dann wendet sich mein Papa ab“);
• mit welcher Emotionskategorie sie auf die Signale des Kindes reagieren („wenn ich lächele, lächelt meine Mama zurück“);
• mit welcher Bereitschaft sie auf Interesse und andere Gefühlssignale ihrer Krabbelkinder eingehen, um gemeinsame Emotionserlebnisse zu schaffen („wenn ich meiner Tagesmutter etwas Interessantes zeige, schauen wir es uns zusammen an“);
• ob sie dem Kind bei Unsicherheit zur sozialen Bezugnahme zur Verfügung stehen und ob ihre emotionalen Signale eindeutig sind („wenn ich nicht weiter weiß, kann ich auf meine Eltern oder älteren Geschwister schauen und ihre Botschaften sagen mir, wie die Sache zu beurteilen ist“);
• wie oft Bezugspersonen die soziale Bezugnahme einsetzen, um das Kind durch Angst zu lenken („wenn ich interessante Sachen wie Gläser oder Stereoanlagen oder die dritte Sprosse auf dem Klettergerüst erkunde, signalisiert meine Mama Angst“).
Einige dieser Unterschiede sind im Konzept der Feinfühligkeit enthalten, das Bindungstheoretiker propagieren, wobei die Säuglinge von feinfühligen Müttern (und Vätern) als Kleinkinder in der Regel eine sichere Bindungsbeziehung aufweisen (z. B. Grossmann et al., 1997). Eingesetzt wird dieses Wissen auch im zweiten Lebensjahr, wenn Eltern und ihre Kinder über Einschränkungen häufiger in Konflikt miteinander geraten. Während dieser überwiegend nonverbalen Aushandlungen ist es für die Kleinkinder zum Beispiel sehr nützlich zu wissen, wie sie am besten erreichen können, dass ihre Eltern zurücklächeln. Denn dann sind sie auch in der Lage, die „affektive Resonanz“ der Dyade wieder herzustellen (Juen & Bänninger-Huber, 2002), wenn sie etwas ausgefressen haben. Die Eltern zum Lächeln zu bewegen, hilft natürlich auch, wenn es ihnen darum geht, diese für ihre eigenen Pläne zu gewinnen. Doch damit sind wir schon bei den Kleinkindern angelangt.
Über Gefühle sprechen
Lang wurde es ersehnt, aber bis zum ersten Geburtstag dauert es meistens, bis Kleinkinder ihr erstes „richtiges“ Wort sprechen. Das Lernen der ersten fünfzig Worte ist mühsam und beschwerlich, aber dann platzt der Knoten: Ab der Mitte des zweiten Lebensjahres lernen Kleinkinder neue Worte in schnellem Tempo. Worüber sprechen Kleinkinder am liebsten? Natürlich über „brumm-brumms“ und „wau-waus“. Ein weiteres Lieblingsthema sind die Befindlichkeiten der Familienmitglieder, eben ihre Emotionen und verwandte körperliche Zustände, wie etwa Hunger, Durst oder Schläfrigkeit. Judy Dunn und ihre Mitarbeiterinnen, die den mitunter recht turbulenten Alltag von Familien mit zwei Vorschulkindern teilten, stellten fest, dass die Äußerungen des jüngeren Kindes über Befindlichkeiten sich in kurzer Zeit vervielfachten. Während das jüngere Kind im Alter von 18 Monaten in der Regel nur 0,8 Äußerungen zu Befindlichkeiten während der zweistündigen Familienbeobachtung von sich gab, so waren es sechs Monate später im Durchschnitt schon 4,7 Wortbeiträge, also fast sechsmal so viele. Welche Ursachen die Befindlichkeiten der Familienmitglieder hatten und welche Folgen sich daraus ergaben, wurde ebenfalls immer häufiger und mit immer größerer Beteiligung der Zweitgeborenen erörtert. Mit der Mutter und dem älteren Geschwisterkind über die eigenen Gefühle und andere körperliche Zustände zu sprechen, war den Kleinkindern offensichtlich ein Anliegen, denn diese Äußerungen nahmen einen immer größeren Anteil an allen verbalen Botschaften des Kindes ein (Dunn, Bretherthon & Munn, 1987).
Sein emotionales Erleben mit Worten zu belegen, ist eine zweischneidige Angelegenheit (Stern, 1992). Denn einerseits erlaubt es die Sprache, die oft etwas diffusen Gefühlsregungen auf den Punkt zu bringen und sie anderen mitzuteilen. Worte schaffen darüber hinaus einen einfacheren Zugang zum eigenen Gefühlsleben. Denn wenn man die eigenen Gefühle benennen kann, ist es leichter möglich, über vorausgehende Bedingungen und Folgen der eigenen Emotionen und ihres Ausdrucks nachzudenken und sich mit anderen darüber zu unterhalten. Dabei können sich Kinder soziale Unterstützung oder Ratschläge von ihren Gesprächspartnern abholen. Diese Gefühlsbesprechungen können entlastend wirken und Kinder bei der Regulierung ihrer Emotionen unterstützen (von Salisch, 2000).
Die Transzendenz des Augenblicks wird andererseits – und das ist der große Nachteil der Sprache – erkauft durch eine erhöhte Beeinflussung durch die Beziehungspartner, denn welche Bedeutung ein Gefühl hat, wird im Dialog mit eben diesen Personen konstruiert. Welche Worte einer Gefühlsregung zugewiesen werden, ist manchmal nicht ganz unproblematisch, denn manch emotionaler Zustand oder manche Emotionen auslösende Situation können durch Wörter belegt werden, die unterschiedliche Erwartungen oder Wertungen enthalten, wie etwa wenn Protestverhalten des Kindes von der Pflegeperson als „legitime Interessenvertretung“ oder als „Theater“ angesprochen wird. Brisant wird es dann, wenn die Etikettierungen der Bezugspersonen kaum mit dem Erleben (und dem Ausdruck) des Kindes übereinstimmen und wenn dies regelmäßig geschieht, wenn also das zurückgenommene Verhalten des Kindes in Trauer erregenden Situationen immer wieder als „müde“ bezeichnet wird. Kinder erfassen auf diese Weise, welche Gefühle in ihrer Familie wie „politisch korrekt“ zu bezeichnen sind, denn auffällig ist, dass es in manchen Familien keinen „Ärger“ gibt, sondern Kinder manchmal nur etwas „aufgeregt“ sind. Die Modulation des Erlebens im sprachlichen Ausdruck („Selbstbericht“ im Gross Modell) wird hier klar gelernt.
Diskrepanzen können auch gegenüber prozeduralen Wissensbeständen auftreten. Hat das Kleinstkind etwa auf prozeduraler Ebene gelernt, dass seine (Bindungs-)Signale von Angst und Unbehagen von seiner Hauptbezugsperson in der Regel mit Missachtung gestraft werden und sein Verlangen nach Körperkontakt immer wieder mit Zurückweisung quittiert wird, so wird es zunächst verwirrt reagieren, wenn diese auf semantischer Ebene behauptet, dass sie das Kind lieb habe und immer für es da sei (Crittenden, 1993; Grossmann & Grossmann, 2001). Fehletikettierungen dieser und anderer Art dürften das Verständnis des Kindes (und später des Erwachsenen) für seine eigene Person beeinträchtigen und Missverständnisse mit anderen Personen heraufbeschwören, die mit den besonderen sprachlichen Bezeichnungen natürlich nicht vertraut sind.
Auch wenn die Gefühlsbesprechungen im Familienkreis Kindern nicht direkt helfen, ihre Emotionen zu regulieren, so scheinen sie doch eine wichtige Rolle für das Verständnis zu spielen, das Kinder über ihr eigenes Gefühlsleben und das ihrer Mitmenschen ausbilden. Familien unterscheiden sich sehr darin, wie häufig sie Emotionen und andere Befindlichkeiten ihrer Mitglieder zum Thema machen: Judy Dunn und ihre Kolleginnen notierten zwischen null und 27 Äußerungen zu diesem Themenbereich bei ihren Alltagsbeobachtungen von einer Stunde und fünfzehn Minuten. Je häufiger das jüngere Kind im Alter von knapp drei Jahren (33 Monate) während der Beobachtungszeit in der Familie die Ursachen und Folgen von Befindlichkeiten benannte, desto besser schnitt es sieben Monate später bei einem Test der affektiven Perspektivenübernahme ab (Dunn, Brown, Slomkowski, Tesla & Youngblade, 1991). Dieser Test misst, wie gut ein Kind Gefühle am Gesichtsausdruck ablesen kann. Außerdem testet er, wie gut es sich in die Gefühlswelt einer Puppe hineinversetzen kann, genauer, wie gut es deren emotionale Reaktion in einer Situation vorhersagen kann – auch und gerade wenn diese von seiner eigenen Gefühlsreaktion abweicht. Ein Beispiel: Die Puppe Anne mag gerne Hunde (das befragte Kind nicht). Wie würde Anne reagieren, wenn ein großer aber freundlicher Hund auf sie zukäme? Hier geht es also darum, dass das Kind nicht sein eigenes Gefühl in dieser Situation (nämlich Angst) ausspricht, sondern sich in die Gefühlswelt der Puppe Anne hineinversetzt und deren Freude benennen kann.
Wurde in der Familie häufig über Ursachen und Folgen von Befindlichkeiten gesprochen, dann zeigte das Kind fortgeschrittene Leistungen beim Test zur affektiven Perspektivenübernahme einige Monate später (Dunn et al., 1991). Häufige und vielfältige Rollenspiele zwischen den Geschwistern trugen ebenfalls zu einem guten Ergebnis beim Test der affektiven Perspektivenübernahme bei (Youngblade & Dunn, 1995). Gelingt es Kindern schon in jungen Jahren, die affektive Perspektive eines Gegenübers einzunehmen, so hat dies positive Folgen, denn diese Kinder können vereinfacht gesagt sich selbst und andere genauer verstehen und die Chancen, die in der Interaktion mit anderen Kindern liegen, besser wahrnehmen. Dabei mögen sich ein fortgeschrittenes Emotionsverständnis und positive Spielerfahrungen im Sinne einer Spirale wechselseitig verstärken.
Weitere Auswertungen aus den Längsschnittstudien von Judy Dunn (siehe Abbildung 2) belegen, dass Kinder, denen die Übernahme der affektiven Perspektiven besser gelang, später die Möglichkeiten auch besser ausschöpften, die im Umgang mit Gleichaltrigen liegen, denn mit vier Jahren konnten diese Kinder mit ihrem Freund oder ihrer Freundin längere Zeit in bezogener Weise spielen, also ohne in Streit oder in Parallelspiel abzurutschen (Slomkowski & Dunn, 1996). Zwei Jahre später war ihr Emotionsverständnis besser ausgebildet, denn mit etwa sechs Jahren schafften sie etwas, womit Vorschulkinder im Allgemeinen Schwierigkeiten haben, nämlich sowohl die emotional positive als auch die negative Seite eines Ereignisses zu erkennen (Brown & Dunn, 1996). Das heißt: sie konnten besser erkennen, dass Kinder bei Ferienbeginn sowohl froh sind als auch traurig, weil sie ihre Kameraden eine Weile nicht mehr sehen. Mit etwa sieben Jahren zeigte sich ihr fortgeschrittenes Emotionsverständnis darin, dass sie sich bei moralrelevanten Regelübertretungen (z. B. einem Kind einen Schokoriegel aus der Frühstücksbox wegzunehmen), anders als die meisten Schulanfänger nicht nur auf den Vorteil (und die positiven Emotionen) des Regel brechenden Protagonisten konzentrierten, sondern auch das Leiden des „Opfers“ mit im Blick hatten. Bei Regelübertretungen im Verhalten (z. B. Schummeln bei einem Spiel) äußerten sie zudem mehr Schuldgefühle (Dunn, Brown & Maguire, 1995). Frühe und häufige Gefühlsbesprechungen im Kreise der Familie verhelfen Kindern zu einem fortgeschritteneren Emotionsverständnis und damit verbunden zu reiferen Sozialbeziehungen zu Gleichaltrigen. Sprengstoff bieten die vielfältigen Möglichkeiten der Sprache dann, wenn Etikettierung und emotionales Erleben oder wenn Worte und prozedurales Wissen zu emotionsrelevanten Sachverhalten dauerhaft nicht übereinstimmen.
Vom ersten Tage ihres Lebens an sind Menschen soziale Wesen, die sich auf ihre Familienmitglieder hin orientieren. Für den überaus unfertigen kleinen Menschen sind diese Beziehungen überlebenswichtig. Seine Beziehungen zu seinen Bezugspersonen baut er über den Austausch von Gefühlsbekundungen auf – zunächst auf der Ebene des Ausdrucksverhaltens, ab der Mitte des ersten Lebensjahres auf der Ebene der Bewertungen. Mit den Bewertungen und mehr noch mit den sprachlichen Etikettierungen nehmen die Bezugspersonen Einfluss auf die wachsende emotionale Kompetenz (von Salisch, 2002) ihrer Kinder.
Der Beitrag ist die gekürzte und überarbeite Version des Artikels „Von den Leidenschaften junger Menschen oder wie sich Ausdruck und Regulierung von Emotionen in Kindheit und Jugend verändern“, erschienen in: M. Hermer & H.G. Klinzing (Hrsg.), Nonverbale Prozesse in der Psychotherapie. Tübingen: DGVT Verlag 2004. Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Maria von Salischist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg.
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