06 Aug. fK 6/04 Schlack
Die neuen Kinderkrankheiten
Einflüsse der Lebenswelten auf Gesundheit und Entwicklung
von Hans G. Schlack
Das Krankheitsspektrum im Kindes- und Jugendalter hat sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entscheidend verändert mit einer Verschiebung von den akuten zu den chronischen Erkrankungen und von den somatischen zu den psychischen Störungen. Die „Neue Morbidität“ wird zu einem großen Teil von Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens bestimmt. Dabei spielen sozioökonomische und psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle bei Ätiologie und Pathogenese, ohne dass die genaue Wirkweise bereits in der wünschenswerten Genauigkeit bekannt ist. Es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass Lebensumstände und Gewohnheiten, welche zu Einschränkungen der physiologisch wichtigen Eigenaktivität der Kinder führen, in wesentlichem Umfang zu den Störungsbildern der Neuen Morbidität beitragen. Eine besondere Bedeutung hat offenbar die Bindungsqualität zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen im ersten Lebensjahr.
Morbidität im Wandel
Infektions- und Mangelkrankheiten, noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts die häufigsten Erkrankungen im Kindesalter und die wichtigsten Ursachen der Säuglings- und Kindersterblichkeit, können heute als weitgehend beherrschtes oder doch zumindest eingegrenztes Problem gelten. Statt dessen sind in zunehmendem Ausmaß Störungen der Entwicklung und Auffälligkeiten des Verhaltens Grund für die Inanspruchnahme kinderärztlicher Untersuchung und Behandlung. Die American Academy of Pediatrics (AAP) rief schon in den 1990er Jahren die Kinderärzte in den USA auf, sich den neuen „epidemischen“ Herausforderungen zu stellen, womit neben der Zunahme von chronischen Krankheiten und AIDS vor allem Entwicklungs- und Verhaltensstörungen gemeint waren: Lernstörungen, Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, Gewaltbereitschaft, emotionale Verwahrlosung, Alkohol- und Drogenkonsum.
Die „neue Morbidität“ im Kindesalter kann wie folgt charakterisiert werden:
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Repräsentative epidemiologische und insbesondere sozialepidemiologische Daten zur neuen Morbidität sind in Deutschland bisher spärlich. Deshalb richten sich große Erwartungen an den Nationalen Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey, der 2003 unter der Regie des Robert-Koch-Instituts begonnen wurde und dessen Datenerhebung sich über drei Jahre erstreckt.
Wenn man die Ergebnisse früherer Untersuchungen hochrechnet, kommt man zu der Annahme, dass rund ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland von diesen neuen Kinderkrankheiten in unterschiedlichen Formen, Kombinationen und Schweregraden betroffen sind. Diese Schätzung wird u.a. dadurch bestätigt, dass mehr als ein Viertel aller Kinder, die nicht im engeren Sinne behindert sind, bis zu Ihrem neunten Lebensjahr eine oder mehrere Therapien zur Entwicklungsförderung erhalten. Das sind zweifellos bestürzende Zahlen.
Es liegt nahe, die Ursachen der „neuen Kinderkrankheiten“ und ihre offensichtlich stetige Zunahme in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in den sozialen und zivilisatorischen Lebensbedingungen (so genannten Lebensweltfaktoren) zu suchen. Dafür sprechen folgende Argumente:
(1) Die Störungsbilder treten bei Kindern aus Familien, die man als sozial benachteiligt bezeichnet, erheblich gehäuft auf. Soziale Stressfaktoren, insbesondere Armut, chronische Gesundheitsstörungen und geringe Bildung haben große und nachhaltige Auswirkungen auf das „innere Klima“ der Familie und die Art des Umgangs mit dem Kind.
(2) Die gleichen Störungsbilder nehmen aber auch bei Kindern aus besser gestellten Familien deutlich zu, so dass offenbar allgemein verbreitete Lebensgewohnheiten eine ursächliche Rolle spielen.
(3) Die Zunahme psychischer und verhaltensbedingter körperlicher Störungen (z.B. Übergewicht/Fettsucht) bei gleichzeitiger Abnahme primär körperlicher Erkrankungen spricht für psychosoziale Ursachen.
(4) Eine vorwiegend genetische Bedingtheit scheidet bei so schwerwiegenden Änderungen des Krankheitsspektrums im Zeitrahmen von nur einer Generation aus.
Der Einfluss von Lebensweltfaktoren auf Gesundheit und Entwicklung
Auch wenn – wie in Deutschland – das Gesundheitswesen gut ausgebaut ist und seine Angebote allgemein zugänglich sind, werden die so genannten Gesundheitsindikatoren (Kriterien des Gesundheitszustands der Bevölkerung) erheblich von sozialen Faktoren beeinflusst. Die Sterblichkeit und die Häufigkeit vieler körperlicher Erkrankungen sind bei Kindern aus der untersten Sozialschicht durchschnittlich um mehr als das Doppelte höher als bei Kindern aus der obersten Sozialschicht (Tabelle 1). Noch wesentlich größer ist der soziale Gradient bei Gesundheits- und Entwicklungsstörungen, die zur „neuen Morbidität“ zählen (Tabelle 1 und 2). Es liegt also nahe anzunehmen, dass die neue Morbidität in einem kausalen Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung steht.
Was aber heißt „soziale Benachteiligung“? Die folgende Definition trifft meines Erachtens die Gegebenheiten am besten:
Definition der sozialen Benachteiligung von Kindern:
Ein Kind ist sozial benachteiligt, wenn seine seelischen und körperlichen Grundbedürfnisse wegen ungünstiger äußerer Lebensbedingungen nicht oder nur unzureichend befriedigt und dadurch Gesundheit und Entwicklung beeinträchtigt werden. |
Damit soll ausgedrückt werden: Soziale Benachteiligung ist mehr als nur ein niedriger sozioökonomischer Status (also geringes Einkommen und geringe Bildung), sondern ist vor allem die Folge von Mängeln der primären Sozialisation und der Interaktion des Kindes mit seinen Bezugspersonen. Soziale Benachteiligung ist deshalb kein schichtspezifisches und kein primär materiell bedingtes Phänomen. Allerdings nimmt das Risiko so verstandener sozialer Benachteiligung erfahrungsgemäß mit dem Grad sozioökonomischer und psychosozialer Stressbelastung zu. Nach dieser Definition entspricht „soziale Benachteiligung“ weitgehend dem Begriff der frühkindlichen Deprivation.
Seelische Grundbedürfnisse in früher Kindheit
Auf der Grundlage empirischer Befunde lassen sich vier essentielle seelische Gründbedürfnisse in früher Kindheit formulieren, von denen je zwei in einer polaren Beziehung zu einander stehen:
Bindung und Sicherheit | Autonomie und Eigenaktivität |
Berechenbarkeit und feste Regeln | Abwechslung und neue Reize |
Die ausgewogene Erfüllung dieser Grundbedürfnisse ist die Voraussetzung einer gesunden Entwicklung, nicht nur auf emotionaler, sondern auch auf kognitiver Ebene.
Der Zusammenhang zwischen Bindung und Sicherheit einerseits und Exploration und Eigenaktivität andererseits ist durch die moderne Bindungsforschung deutlich gemacht worden: Aktives Erkundungs- und Lernverhalten in früher Kindheit setzt eine „sichere Basis“ voraus, und umgekehrt werden diese Aktivitäten blockiert, wenn die Initiativen und Energien des Kindes vorwiegend dafür in Anspruch genommen werden, sich der Bindung versichern zu müssen.
Die Bedeutung der Eigenaktivität
Die funktionellen Entwicklungsfortschritte eines Kindes beruhen auf der Wechselwirkung der genetisch gesteuerten Organdifferenzierung einerseits und der aktiven Inanspruchnahme des dadurch verfügbaren Potenzials andererseits. Es handelt sich offensichtlich um ein allgemeines biologisches Prinzip, dessen Gültigkeit empirisch gut abgesichert ist. Ein Beispiel dafür ist die Auswertung mehrerer Entwicklungsstudien, in denen die Abhängigkeit der funktionellen Entwicklung (gemessen mit standardisierten Entwicklungstests) von bestimmten Formen und Qualitäten der Interaktion der Kinder mit ihren Bezugspersonen untersucht wurden.
Dabei erwiesen sich diejenigen Umgangsweisen als günstig für die Entwicklung, mit denen die Eigenaktivität der Kinder gefördert wird: Responsivität (zurückhaltende, auf die Signale und Initiativen des Kindes eingehende Interaktionsform), sprachliche und emotionale Verstärkung sowie das Angebot altersgemäßen, die aktive Exploration des Kindes anregenden Spielmaterials. Umgekehrt wirkten elterliche Verhaltensweisen ungünstig, welche die Eigenaktivität hemmen: Direktivität, ein Übermaß an Kontrolle und ein Zuviel an Reizen (vgl. Tabelle 3). Bemerkenswerter Weise sind diese Befunde bei Kindern mit somatischen Entwicklungsrisiken (Zustand nach Frühgeburt, Sinnesstörungen, zerebrale Bewegungsstörungen, Down-Syndrom u.a.) völlig gleichsinnig wie bei neurologisch ungestörten Kindern, woraus die essentielle Bedeutung der Eigenaktivität für die funktionelle Entwicklung offensichtlich wird.
Was bedeutet das konkret für die alltäglichen Lebensumstände von Kindern? Erkunden und Lernen aus eigenem Antrieb gehört zu den psychischen Grundbedürfnissen des Kindes von Anfang an. Dieses Grundbedürfnis äußert sich in den für die einzelnen Entwicklungsstufen typischen Formen des kindlichen Spiels, das vor allem in den ersten Lebensjahren die ernsthafte und wesentliche Form der Umwelterfahrung und des Lernens ist und alles andere als „Zeitvertreib“ bedeutet. Dieses frühe, eigenaktive Lernen bedarf der Ermutigung und der Herausforderungen; es kann durch Mangel an Anregungen ebenso blockiert werden wie durch Überbehütung, Verwöhnung und falsches Spielmaterial.
Beispiele aus dem Kinderalltag mögen das verdeutlichen. Sie hören sich trivial an, sind es aber wohl nicht, zumindest lösen sie nicht oft genug die richtigen Konsequenzen aus:
– Kinder, die aus Sorge vor Stürzen auf keinen Stuhl klettern dürfen, die zum Kindergarten regelmäßig gefahren werden und auch sonst kaum einen Schritt zu Fuß gehen, entwickeln ihre motorischen Fähigkeiten zu wenig (ganz abgesehen von der vergebenen Chance, unterwegs Umwelterfahrung zu machen).
– Kinder, mit denen wenig und nicht im Dialog gesprochen wird, bleiben im sprachlichen Denken und in der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit zurück.
– Spielsachen, die auf Knopfdruck perfekt, aber ohne Variationsmöglichkeiten funktionieren, stellen keine Herausforderung für eine altersgemäße Problemlösung und Kreativität dar.
– Vorgefertigte Bilder von Fernsehen und Videos lassen das eigene Vorstellungsvermögen z.B. von Märchenfiguren und -handlungen unterentwickelt.
– Eine ständige Reizberieselung (Fernsehen, Musik, zu viele Spielsachen) begünstigt die Ablenkbarkeit und beeinträchtigt die Selbststeuerung der gezielten Aufmerksamkeit.
Eigenmotiviertes Tun und Lernen sind die Voraussetzung für Erfolgserlebnisse, und diese sind ihrerseits die Grundlage für Selbstwert und anhaltende Lernfreude. Offenbar bleibt bei vielen Kindern dieses Grundbedürfnis aus mancherlei Gründen (vgl. Tabelle 4) so lange unbefriedigt, bis die Kinder die Lust am Lernen verlieren und sich vermehrt dem passiven Reizkonsum ergeben (ein Phänomen, das dann tatsächlich den Ausdruck „Zeitvertreib“ verdient). In der Schule werden diese Kinder dann aber mit Erwartungen und Anforderungen konfrontiert, denen sie mangels entsprechender Vorbereitung nicht gerecht werden. Schulunlust und Schulversagen, zumindest ein Zurückbleiben hinter den eigenen Möglichkeiten, sind die Folge, wovon die frustrierenden Ergebnisse der PISA-Studie ein beredtes Zeugnis geben. Wenn die Freude am Lernen erst mit Schulbeginn geweckt werden soll, kommt man sechs Jahre zu spät.
Belege aus wissenschaftlichen Studien
Die Ergebnisse der Bindungsforschung, welche die Abhängigkeit der Erkundungs- und Lernaktivität von der Qualität der Bindung gezeigt haben, sowie die erwähnte Metaanalyse über den Zusammenhang von Entwicklungsfortschritten und Interaktionsformen, welche die Eigenaktivität des Kindes fördern, wurden schon genannt.
Lernschwächen und umschriebene Entwicklungsrückstände hat man früher in erster Linie als organische Hirnfunktionsstörung („Minimale cerebrale Dysfunktion“, MCD) angesehen. Die Mannheimer Längsschnittstudie hat aber gezeigt, dass Häufigkeit und Ausprägung solcher Funktionsstörungen statistisch gesehen nicht von biologischen Risikofaktoren wie Frühgeburt oder Geburtskomplikationen, sondern vielmehr von psychischen und sozialen Belastungsfaktoren abhängen. Zweifellos spielen dabei auch angeborene Begabungsunterschiede eine Rolle, aber die psychosozialen Bedingungen entscheiden letztlich darüber, wie gut ein Kind sein Potential in Anspruch nimmt und ausnützt.
Die Problematik eines regelmäßigen und ausgedehnten Fernsehkonsums steht inzwischen außerhalb jeden Zweifels. Allein die Dauer – unabhängig von den oft sehr problematischen Inhalten – ist ein wesentlicher Belastungsfaktor. Schon vor 20 Jahren berichteten amerikanische Autoren vom Zusammenhang zwischen der Dauer des täglichen Fernsehkonsums und dem Übergewicht; dieser Befund ist inzwischen auch bei deutschen Kindern bestätigt worden. Eindeutig ist auch der Zusammenhang von der Dauer des Fernsehkonsums und einem Aufmerksamkeitsdefizit. Diese Zusammenhänge geben eine Vorstellung davon, wie mangelnde Initiative, Bequemlichkeit bei Eltern und Kindern, das Überwiegen passiven Reizkonsums und das Fehlen sinnvoller Alternativen zum Nachteil der Gesundheit des Kindes zusammen wirken.
Ausblick
Diese wissenschaftlichen Belege sind vorerst nur Mosaiksteine auf dem Weg zu einer plausiblen Arbeitshypothese, die zu einem hypothesengeleiteten Handlungskonzept führen soll. Vor rund hundert Jahren erklärte die Schwedische Autorin Ellen Key das 20. Jahrhundert zum „Jahrhundert des Kindes“. Daraus ist offensichtlich nicht viel geworden. Wenn man verhindern will, dass das 21. Jahrhundert den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern immer weniger gerecht wird, bedarf es – um im aktuellen politischen Sprachgebrauch zu bleiben – einer „Agenda 21“. Nützliche Elemente einer solchen Agenda könnten sein:
– Vermittlung besserer Kenntnisse über die psychischen Grundbedürfnisse von Kindern bei Eltern und Fachleuten;
– Eine neue Kultur der Anregung der Kinder in der Familie, vor allem über richtige und altersgemäße Formen des Spiels;
– Eine gezielte (nicht nur ökonomische) Hilfestellung für die Familien, die es nicht aus eigener Kraft schaffen.
Bei allem Engagement müssen ideologische Überfrachtungen und allzu schlichte Vereinfachungen vermieden werden. Dazu passt das Motto, das kürzlich über einer amerikanischen Publikation stand: „Auf jede komplexe Frage gibt es eine einfache Antwort. Und die ist falsch.“
Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben und sämtlicher Tabellen ist über die Geschäftsstelle erhältich.
Prof. Dr. Hans G. Schlack ist stellvertretender Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und ehemaliger Leiter des Rheinischen Kinderneurologischen Zentrums Bonn
Faktor | |
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Säuglingssterblichkeit | x 2,7 |
Kindersterblichkeit (1-14 J.) | x 2,2 |
Todesfälle durch angeborene Fehlbildungen | x 2,4 |
Todesfälle durch Unfälle | x 3,8 |
Niedriges Geburtsgewicht (< 2500 g) | x 1,4 |
Chronische Erkrankungen (0-19 J.) | x 1,3 |
Pneumonien bis 5 J. | x 2,3 |
Hyperaktivität | x 3,2 |
Dissoziales Verhalten | x 4,0 |
Ängste | x 1,7 |
Faktor | |
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Karies | x 2,5 |
Adipositas | x 3,3 |
Sprech- und Sprachstörungen | x 4,2 |
Emotionale und soziale Störungen | x 5,1 |
Psychomotorische Störungen | x 6,3 |
Lernschwächen | x 14,6 |
Günstige Interaktionsweisen | Ungünstige Interaktionsweisen |
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* Responsivität | * Direktivität |
* Verbale und emotionale Verstärkung | * Angebot adäquaten Spielzeugs |
* Einengende Kontrolle | * Überstimulation |
Zu wenig an | Zu viel an |
---|---|
* sicherer Bindung | * passivem Reizkonsum |
* responsiver Interaktion (verbal, emotional, im Spiel) |
* Reglementierung und Kontrolle |
* altersgemäßen Betätigungsmöglichkeiten | * Verwöhnung und Behütung |
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