fK 6/04 Laewen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Was heißt Bildung im frühkindlichen Alter und in Relation zu späteren Bildungsprozessen?

von Hans-Joachim Laewen

Bildung und Erziehung sind zentrale Kategorien der deutschsprachigen Pädagogik und stellen insofern eine Besonderheit der deutschen Sprache dar, als in den anderen westeuropäischen Sprachen beide Begriffe nicht in gleicher Weise getrennt behandelt werden. Ungeachtet seiner hohen Bedeutung in der pädagogischen – inzwischen auch in der politischen – Diskussion ist Bildung jedoch ein Begriff, dessen inhaltliche Bestimmung im Laufe seiner historischen Entwicklung unterschiedlich ausfiel und der auch in seiner modernen Fassung seit Wilhelm von Humboldt bis heute noch keine konsensfähige Ausdeutung erfahren hat.

Gerd Schäfer hat 1995 erstmalig über einen interdisziplinären Ansatz die frühen Bildungsprozesse auch auf die unter dreijährigen Kinder bezogen. Sofern unter dreijährige Kinder in der Bundesrepublik überhaupt Gegenstand vorschulpädagogischer Erörterungen waren und sind, wird in Anlehnung an den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch jedoch bis heute eher von Entwicklung und Entwicklungsförderung als von Bildung und Erziehung gesprochen. Da der Entwicklungsbegriff seine Bedeutung in diesem Zusammenhang eher aus der Psychologie bezieht, entsteht dadurch jedoch ein Transformationsproblem zwischen den Kategorien der unterschiedlichen Bezugssysteme, wenn Entwicklung pädagogisch gedeutet und in pädagogische Handlungskonzepte hineingenommen werden soll.

Das bedeutet für die Pädagogik der frühen Jahre konkret, dass das Verhältnis von Bildung und Erziehung zu Entwicklung und Entwicklungsförderung geklärt werden muss. Im Rahmen des Projekts „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ ist ein Arbeitsbegriff von Bildung entwickelt worden, der als Grundlage für vorschulpädagogische Handlungskonzepte dienen kann und zugleich Bestimmungen für den Erziehungsbegriff enthält. Bildung ist darin als Eigenanteil des Kindes an seiner Entwicklung gefasst und wird als Konstruktion eines Welt- und Selbstbildes auf der Grundlage der Erfahrungen des Kindes verstanden. Dieses „mitlaufende Welt- (und Selbst-) Modell“ basiert auf (dazu) kompatiblen Erfahrungen des Kindes, deren Deutung und Bewertung es dient, wobei es zugleich durch jede neue (kompatible) Erfahrung Modifizierungen erfährt. Dieser konstruierenden Aktivität des Kindes kann Erziehung in zwei Formen gegenüber treten: als indirekte Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kind durch die Gestaltung der Umwelt im weitesten Sinne, die für die Weltkonstruktionen des Kindes zur Verfügung steht und als direkte Kommunikation.

Beide Formen zeichnen sich als pädagogische u.a. dadurch aus, dass sie einer an explizit formulierten Erziehungszielen orientierten Gestaltung bedürfen, in deren Rahmen Kenntnisse und Informationen über Kinder in Interaktionen mit Kindern umgesetzt werden. Erziehung kann dabei Bildung herausfordern, ihre Prozesse unterstützen, den Kindern Themen zumuten und die Themen des Kindes beantworten. Es existieren jedoch keine unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Erziehung und Bildung, und damit müssen auch die empirisch gefundenen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Kindern und fördernden Maßnahmen als das betrachtet werden, was sie tatsächlich auch sind: als Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter Entwicklungen, nicht als in jedem Einzelfall sicher zu erwartendes Ergebnis.

In der entwicklungspsychologischen Forschung hat man es darüber hinaus eher mit Einflusskomplexen als mit einzelnen Faktoren zu tun. So hat zwischen der Qualität der Betreuung in Kinderkrippen und der sprachlichen und kognitiven Entwicklung der unter Dreijährigen die NICHD-Studie zwar konsistente Zusammenhänge, allerdings von eher geringer Stärke gefunden. Eine bessere Vorhersage der Entwicklung der Kinder war über eine Kombination aus Familieneinkommen, mütterlichem Wortschatz, der häuslichen Umgebung und der kognitiven Stimulation durch die Mutter möglich (NICHD Early Child Care Research Network et al. 2003, Child Research Net 1998). Alles deutet darauf hin, dass Entwicklungsprozesse von Kindern vom Zusammenspiel verschiedener Faktoren abhängen, die insbesondere in ihrem Zusammenwirken nicht leicht zu beeinflussen sind.

Die Leistungen in der Konstruktion eines Selbst- und Weltbildes in den ersten drei Lebensjahren, einer zweiten Realitätsebene also, die den Erfahrungen, den Wahrnehmungen und Handlungen des Kindes erst eine Bedeutung verleihen, unterscheiden sich von denen älterer Kinder nicht grundsätzlich, eher durch ihre Themen. Um diese Themen erkennen und darauf pädagogisch reagieren bzw. kulturell bedeutsame Themen an die Kinder herantragen zu können, sind im Grunde zwei Arten von Fachkenntnissen bei den Erzieherinnen von Bedeutung: Zum einen Kenntnisse über grundsätzliche Bildungsprozesse, die von allen Kindern früher oder später und auf die eine oder andere Weise durchlaufen werden, wie z. B. die motorischen Kontrollen, der Spracherwerb, die Bindungsbeziehungen, die Zweck-Mittel-Relation etc. Derartige Kenntnisse können in der Ausbildung erworben werden.

Zum anderen sind Informationen notwendig, die nur das spezielle Kind betreffen und die Themen, mit denen es aktuell befasst ist, sowie die je subjektive Weise, wie sie vom Kind bearbeitet werden. Diese Kenntnisse sind nur im direkten Kontakt mit dem Kind, durch systematische Beobachtung und ihre Reflexion zu erwerben. Um die erste Form von Fachkenntnissen anzubieten, muss die Ausbildung von Erzieherinnen modifiziert werden, für die zweite Form muss die pädagogische Praxis in den Kindertageseinrichtungen eine grundlegende Veränderung erfahren. Wie dies möglich ist, wird zur Zeit in verschiedenen Projekten erprobt.

Ich gehe davon aus, dass die Grundlagen einer Pädagogik insbesondere im Altersbereich der 0-3-Jährigen durch die folgenden Merkmale zu charakterisieren wären:

(1) Die Anerkennung der Leistungen gerade der kleinsten Kinder beim Aufbau einer zweiten Realitätsebene, die ihr jeweils subjektives Welt- und Selbstmodell enthält und, damit zusammenhängend, umfassende Kenntnisse über die anthropologischen Bildungsgrundlagen der Kinder in den ersten drei Jahren, um die insbesondere in diesem Alter naheliegende Unterschätzung der kindlichen Ressourcen zur Welt- und Selbstkonstruktion zu vermeiden

(2) Kenntnisse über die Bedeutung der Wahrnehmungsbildung (Bildung der Nah- und Fernsinne) und daraus ableitbarer Gestaltungskriterien hinsichtlich einer hinreichend komplex strukturierten Umgebung.

(3) Die unbedingte Respektierung der Bindungsbeziehungen der Kinder und das Verstehen ihrer Bedeutung als wesentlicher Grundlage für ihre aktuelle Handlungsfähigkeit und spätere Resilienz.

(4) Die Formulierung von zukunftsfähigen und legitimierbaren Erziehungszielen, an denen sich die pädagogische Arbeit orientieren kann, die Integration solcher Ziele in Methoden ihrer Umsetzung in pädagogisches, auf Bildungsstand und -interessen der Kinder bezogenes Handeln.

(5) Kenntnisse über (kultur-) typisch zu erwartende Bildungsprozesse der Kinder in den ersten drei Lebensjahren und ihrer Rahmenbedingungen (Bewegungskontrolle und -verfeinerung, Spracherwerb, symbolische Darstellungen, etc.).

(6) Die Beherrschung von vielfältigen Beobachtungs-, Dokumentations- und Auswertungsverfahren einschließlich kollegialer Beratungsmodelle zur Interpretation von Beobachtungen.

(7) Organisationsentwicklungs-Konzepte, die einen flexiblen Einsatz der personellen, materiellen und zeitlichen Ressourcen der Kindertageseinrichtung ermöglichen.

(8) Die Verfügbarkeit externer Unterstützungssysteme wie Fachberatung und flexible Fortbildungsmöglichkeiten sowie von Transferstrukturen, wie sie vom Forum Bildung vorgeschlagen wurden, durch die Verbindungen zum Stand der internationalen Forschung und zu best-practice-Modellen geschaffen werden.

Differenzierung von Bildung nach Geschlecht, Ethnie oder Schicht?

Vor dem Hintergrund des beschriebenen Verstehens von Bildung und Erziehung müssen beide Konzepte nicht gruppenspezifisch differenziert werden. Wohl aber können einzelne Themen je nach Gruppenzugehörigkeit stärker in den Vordergrund treten. Beispiel Spracherziehung: Für Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status wäre das Sprachniveau der Erzieherinnen relativ gleichgültig. Für Kinder aus Migranten- oder Unterschichtfamilien hinge viel davon ab, ob, in welchem Ausmaß und in welcher Komplexität die Erzieherin zu ihnen und mit ihnen spricht. Die eigentliche Notwendigkeit zur Differenzierung liegt auf der individuellen Ebene. Die Konstruktion des „mitlaufenden Weltmodells“ auf der Grundlage seiner Erfahrungen durch jedes einzelne Kind schließt die Subjektivität dieser Konstruktionen ein. Sie „objektivieren“ sich in der Kommunikation mit anderen Kindern und mit den Erwachsenen. Dazu müssen die subjektiven Konstruktionen aber verstanden werden, was relativ genaue Kenntnisse der Themen der Kinder voraussetzt. Die Beachtung dieser Themen verlangt eine individualisierte Pädagogik, die sich bis zu einem gewissen Grade einer gruppenspezifischen Vorgehensweise entzieht.

Dieser Differenzierung zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen folgt die pädagogische Aufgabenstellung im Grunde auch hinsichtlich der durch ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht oder Schicht markierten Gruppierungen. Die Bildungsprozesse der Kinder dürften dabei strukturell sehr vergleichbar sein, jedoch nicht unbedingt ihre Themen. Erziehung hätte deshalb sowohl auf systematisch zu erwartende Themen der Kinder aus den bestimmten Gruppen zu achten, bei Migrationshintergründen oder schichtspezifisch schwierigen Verhältnissen z.B. auf das Sprachthema, und darauf mit Themenzumutungen zu reagieren, gleichwohl aber die Unterschiedlichkeit zwischen den einzelnen Kindern zu beachten, in dem sie eine spezifische Aufmerksamkeit gegenüber den (spezifischen) Sprachäußerungen jedes einzelnen Kindes durchhält.

Voraussetzungen für Bildungsprozesse in Familien, Kindertagesstätten und Tagespflege

Bildungsprozesse von Kindern in ihren Familien zu sichern ist schwierig, da ein reduzierter öffentlicher Zugriff in diesen Bereich die Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Für „Risikofamilien“ lässt sich vermutlich am ehesten durch ein Angebot von Tagesbetreuung von hoher Qualität eine günstigere Situation für die dort aufwachsenden Kinder erreichen. Darauf verweisen alle einschlägigen Studien, zuletzt auch noch einmal nachdrücklich die bereits erwähnte NICHD-Studie. Auch die Erfahrungen mit den Early Excellence Centres (EEC) in Großbritannien lassen hoffen, dass auch eine schwierige Klientel sich in geeignet strukturierte Kindereinrichtungen mit Vorteilen für die Bildungsprozesse der Kinder einbinden lässt. Das britische Modell würde jedoch eine Umgestaltung von bloßen Kindereinrichtungen zu „One-Stop-Shops“ für die Eltern erfordern, was die administrativen Grenzen von Jugendhilfe und Sozialhilfe weithin auflösen würde.

Die Kooperation von Erzieherinnen und Eltern könnte jedoch durch geeignete Angebote der Kitas intensiviert werden. Die anschauliche Darstellung der Erziehungsarbeit in der Kita und der Reaktionen der Kinder darauf sowie die sorgfältige und den Eltern zugängliche Dokumentation der Beobachtungen der Erzieherinnen ist eher in der Lage, Interesse und Engagement der Eltern zu wecken, als alle Feste und Laternenumzüge zusammen, gegen die ansonsten nichts gesagt sein soll. Auch die Einbeziehung der Eltern der Kinder in die Formulierung der Erziehungsziele, an denen sich die Arbeit in den Einrichtungen orientiert, kann erheblich zu einer engeren Beziehung von Familie und Kindereinrichtung beitragen. In der Tagespflege sollte die fachliche Qualifikation der Tagesmütter unbedingt durch obligatorische und vorbereitende Kursangebote angehoben werden.

Erfolg und Qualität frühkindlicher BildungsprozesseGenerell kann die Qualität kindlicher Bildungsprozesse in Kindertageseinrichtungen vermutlich durch eine hohe Qualität von Aus- und Weiterbildung des Personals einerseits, Ausstattung und angemessene Konzepte andererseits günstig beeinflusst werden. Eine Begleitung durch Fachberatung und Verknüpfung der Einrichtungen über Transferstrukturen (vgl. die Empfehlungen des Forum Bildung) mit internationalen Erfahrungen mit best-practice-Modellen und Forschungsergebnissen erscheint als eine außerordentlich wünschenswerte externe Bedingung dafür. Allerdings existieren bislang weder deskriptive Modelle, die eine hinreichend aussagekräftige Beschreibung von Bildungsprozessen ermöglichen noch valide Kriterien, nach denen ihre Qualität beurteilt werden könnte. Alle QS-Maßnahmen und -instrumente beziehen sich bislang auf eine Inputsteuerung pädagogischer Prozesse und ihrer Rahmenbedingungen, in unserer Begrifflichkeit also von Erziehung. Es mangelt an Output-Beschreibungen und Kriterien zur Beurteilung von Bildungsprozessen, also der Konstruktionsprozesse der Kinder, von denen ausgewählte Ergebnisse bislang allenfalls in Form psychologisch begründeter Tests erhoben werden können.

Assessment-Verfahren, die dem alltäglichen Leben näher sind und insbesondere eine Beschreibung der Bildungsprozesse der Kinder ermöglichen würden, werden zur Zeit u.a. am Beispiel des von Carr (2001) entwickelten Konzepts der „Lerngeschichten“ untersucht (vgl. das gleichnamige Projekt des Deutschen Jugendinstituts). Neben den methodischen Problemen, die es in dieser Hinsicht zu lösen gilt, setzt eine Beurteilung des Ergebnisses von Bildungsprozessen, oder genauer des Zusammenspiels von Erziehungshandeln und Bildungsprozessen, eine Zielbestimmung voraus, zu der neben den pädagogischen Fachkräften und den Eltern auch die aktuellen Bildungs- und Erziehungspläne beitragen könnten.

In Hinblick auf eher allgemeine Zielbestimmungen haben sich in der NICHD-Studie eine höhere Schul- und Berufsbildung der Erzieherinnen, eine höhere Bereitschaft, sich auf die Wünsche und Bedürfnisse, die Fähigkeiten und Interessen der Kinder einzulassen und sich von ihnen in der Interaktion mit den Kindern leiten zu lassen, als positive Einflussfaktoren erwiesen Die positiven Effekte für die Kinder fielen höher aus, wenn ihre Mütter vergleichbar sensitiv mit ihren Kindern umgingen.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Hans-Joachim Laewen ist Diplom-Soziologe und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für angewandte Sozialisationsforschung (Infans) in Berlin

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