12 Aug fK 6/03 Triarchi-Herrmann
Mehrsprachige Erziehung
Chance oder Gefahr für die kindliche Entwicklung?
von Vassilia Triarchi-Herrmann
Nach Ausführungen mehrerer Autoren soll es auf dieser Welt ungefähr dreißig Mal so viele Sprachen wie Länder geben. Wenn diese Behauptung stimmt, dann dürfte über die Hälfte der Erdbevölkerung zwei- oder mehrsprachig sein, d.h. die Einsprachigen (Monolingualen) sollen in den meisten Erdteilen als Minderheiten leben. Vielleicht würde man diese Annahme für ein interessantes oder auch übertriebenes Gedankenspiel halten. Nicht anzuzweifeln dürfte jedoch sein, dass in der heutigen Zeit, in der die gesellschaftliche Lage in Europa durch das Zusammenleben von Menschen mit verschiedener Nationalität, Kultur, Sprache und Religion geprägt ist, die vorherrschende Monolingualität vieler Staaten in Frage gestellt ist.
Man stellt immer wieder fest, dass die Mehrsprachigkeit sich durch die zunehmende menschliche regionale Mobilität, die in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, als ein unausweichlicher Bestandteil unserer Gesellschaft entwickelt hat und weltweit längst keine Ausnahme mehr ist. Am Anfang des 21. Jahrhunderts existiert in den meisten europäischen Ländern eine gesellschaftliche Kultur- und Sprachenvielfalt und das Phänomen der Mehrsprachigkeit kann man fast in jedem Land, in jeder sozialen Schicht und in jeder Altersgruppe finden. Immer mehr Kinder aus sprachlichen Mischehen, Kinder von ausländischen Arbeitnehmern bzw. Asylanten, oder auch Kinder, die in mehrsprachigen Grenzgebieten leben, wachsen zweisprachig auf. Die mehrsprachige bzw. die zweisprachige Erziehung ist kein Privileg der Aristokratie und keine Seltenheit mehr, sondern bildet bei einem großen Teil der Bevölkerung vieler Länder die Regel.
Die Thematik der Zweisprachigkeit beschäftigt bereits seit Anfang des letzten Jahrhunderts verschiedene wissenschaftliche Disziplinen. Unzählige interessante Untersuchungen und Studien wurden durchgeführt und aus deren Befunden viele Erklärungstheorien und Erziehungsprogramme entwickelt. In diesem Beitrag wird auf eine zentrale und für die Erziehung und Bildung mehrsprachiger Kinder sehr wichtige Fragestellung eingegangen: Belastet oder fördert die Mehrsprachigkeit die kindliche Entwicklung?
Ergebnisse der Forschung
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von den Wissenschaftlern fast einheitlich die Ansicht vertreten, die Zweisprachigkeit im Kleinkindalter wäre eine große Gefahr und ein Verzögerungsfaktor nicht nur für den kindlichen Spracherwerb und die kognitive Entwicklung, sondern für die Gesamtentwicklung des Kindes, besonders für die affektive Entwicklung. In der Mehrzahl der damaligen Untersuchungen wurde bewiesen, dass das bilingual erzogene Kind keine der beiden Sprachen so gut lernt, wie wenn es sich nur auf eine Sprache beschränkt hätte und es negative Auswirkungen auf seine Kognition, seine Schulleistungen und seine Psyche gäbe. Sicherlich gab es in der Zeit auch Studien, in denen die Zweisprachigkeit als ein positiver Faktor der kindlichen Entwicklung dargelegt wurde. Diese Ansichten wurden von Linguisten, wie von Ronjat oder Leopold vertreten, die ihre eigenen Kinder zweisprachig erzogen und deren zweisprachige Sprachentwicklung in Tagebücherstudien beschrieben hatten. Ihre Erkenntnisse fanden zur dieser Zeit jedoch keine große Beachtung.
Der eigentliche Wendepunkt in der Erforschung des Einflusses der Zweisprachigkeit auf die kindliche Entwicklung trat durch eine differenzierte Längsschnittstudie über das Immersionsprogramm von St. Lambert ein, das im Jahre 1965 in Kanada bei der schulischen Erziehung von anglophonen Majoritätkindern mit dem Ziel eingeführt wurde, den Kindern die volle Beherrschung des Französischen zu ermöglichen. Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen untersucht und mit monolingualen französisch sprechenden Kindern verglichen, die eine muttersprachliche Schule besuchten. Dabei wurde festgestellt, dass die Untersuchungsgruppe, verglichen mit der Kontrollgruppe, im Entwicklungsstand in der Mutter- und in der Zweitsprache in den meisten Teilbereichen der Intelligenz, aber auch in den schulischen Leistungen und in ihrer affektiven Entwicklung höhere Testwerte erzielte.
Aus der gleichen Zeit liegen auch Untersuchungsbefunde vor, die eine Reihe negativer Konsequenzen der Zweisprachigkeit auf die Entwicklung und die schulischen Leistungen dieser Kinder beweisen. Dies sind Untersuchungen, die bei Emigrantenkindern in Schweden, in Peru, in Kanada oder in Deutschland durchgeführt sind. Es wurde z.B. im Rahmen eines sogenannten Submersionsprogramms („Schwimm-oder-ertrinkt“) bei finnischen Minoritätenkindern in Schweden festgestellt, dass sie sowohl in ihrer Muttersprache als auch in der Zweitsprache, die die einzige Unterrichtssprache bildete, einen Rückstand von mehreren Jahren aufwiesen. Auch ihre schulischen Leistungen und ihre emotionale Entwicklung waren, verglichen mit gleichaltrigen schwedischen Schülern, unter der Norm.
Man stellt also zwei Aussagen in der Bilingualismusforschung der letzten vier Jahrzehnte fest:
(1) Es liegen Befunde vor, die beweisen, dass die zweisprachigen Schüler über eine mannigfaltigere Intelligenzstruktur und mehr kognitive Flexibilität als die einsprachigen verfügen, die von kreativerer Denkfähigkeit und Erfindungsgabe bzw. Originalität begleitet wird, und sie sprachinteressierter, sprachgewandter sowie toleranter und offener als ihre gleichaltrigen Schulkameraden sind.
(2) Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die genau das Gegenteil belegen: die Kinder verfügen über einen eingeschränkten aktiven und passiven Wortschatz, weisen schwere Störungen in der Sprachstruktur auf, so dass ihre sprachliche Fähigkeit, verglichen mit gleichaltrigen monolingualen Kinder, unterentwickelt ist (Semilingualismus). Auch ihre kognitive Entwicklung zeichnet sich durch Verzögerungen aus und ihre schulischen Leistungen liegen unter dem Leistungsniveau ihrer einsprachigen Mitschüler.
Theoretische Ansätze
Wie lassen sich derartig widersprüchliche Untersuchungsbefunde erklären? Kann eine Zweisprachigkeit im früheren Kindesalter auf die kindliche Entwicklung ein Hemmnis sein, oder wird gerade durch die Zweisprachigkeit die kindliche Entwicklung sogar gefördert? Aus den bisherigen Darstellungen können beide Fragen mit „ja“ oder auch mit „nein“ beantwortet werden. Man kommt also zu der Schlussfolgerung, dass zweisprachige Erziehung sich nicht generell positiv oder negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirkt. Offensichtlich gibt es Rahmenbedingungen aber auch intrinsische Bedingungen, die entscheidend Einfluss auf die Resultate bilingualer Erziehung haben.
Mithin kann auch nicht von einer einzigen bilingualen Erziehung schlechthin gesprochen werden, sondern es ist zu fragen: Unter welchen Bedingungen kann die Zweisprachigkeit positive, neutrale oder negative Auswirkungen haben? Einige Wissenschaftler versuchten theoretisch auf diese Frage einzugehen und dadurch den unterschiedlichen Forschungsergebnissen eine Erklärung geben zu können. Eine der bekanntesten Theorie ist die Schwellenhypothese. Demnach hängen die positiven oder negativen Konsequenzen der Zweisprachigkeit von einer intervenierenden Variable, dem Kompetenzniveau, das das bilinguale Kind in seinen beiden Sprachen erreicht hat, ab. Ob sich eine zweisprachige Erziehung positiv oder negativ auf die kognitive kindliche Entwicklung auswirkt, hängt also von dem Sprachentwicklungsniveau ab, das ein Kind in beiden Sprachen erreichen konnte.
Dabei wird angenommen, dass es verschiedene Schwellen in der bilingualen Sprachkompetenz gibt, wobei zwischen zwei Schwellenniveaus unterschieden wird: Das untere Schwellenniveau muss das bilinguale Kind überschreiten, damit keine negativen Auswirkungen in seiner Entwicklung eintreten werden. Das obere Schwellenniveau muss überschritten werden, um die positiven Auswirkungen des Bilingualismus erfahren zu können. In letzterem Fall spricht man von der Ausbildung einer kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit, die auf die gesamte Entwicklung des Kindes positiv wirkt. Hier handelt es sich um einen sogenannten additiven Bilingualismus, der meistens bei Majoritätenkindern mit stabiler Muttersprache und anerkanntem soziokulturellen Status anzutreffen ist. Bei bilingualen Kindern, deren Sprachkompetenz die untere Schwelle überschreitet, jedoch die obere Schwelle nicht erreicht, dominiert meistens eine Sprache und sie erfahren weder positive noch negative Auswirkungen. Es kommt aber auch vor, dass es dem bilingualen Kind in beiden Sprachen nicht gelingt, das untere Schwellenniveau zu überschreiten. Es erreicht in beiden Sprachen nur eine relativ geringe Sprachkompetenz und es sind negative Auswirkungen auf seine Entwicklung zu befürchten. In diesen Fällen spricht man von subtraktivem Bilingualismus, der vor allem bei Minoritätenkindern mit geringem sozialem und sprachlichem Prestige zu finden ist.
Bei diesen Konzeptionen ist noch folgende Annahme von Bedeutung, die als Interdependenzhypothese bekannt wurde und für die sprachliche Erziehung und Bildung von Migrantenkindern bedeutsam ist: Der Erwerb der Zweitsprache steht in direkter Abhängigkeit vom Kompetenzniveau, das die Erstsprache am Beginn des Zweitsprachenerwerbs aufwies. Deshalb wird als wichtiges Erziehungsprinzip für Migrantenkinder vorgeschlagen, die zweisprachige Erziehung erst dann einzusetzen, wenn ihre instabile Muttersprache die erste Schwelle der Sprachkompetenz erreicht hat. Die Schwellenhypothese kann zusammen mit der Interdependenzhypothese eine Erklärung geben, warum die zweisprachigen Minoritätenkinder, die in der Majoritätssprache unterrichtet werden, in ihrer Sprachkompetenz (besonders in ihrer kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit) Probleme aufweisen und ihre schulischen Leistungen unter der Klassennorm liegen.
Als eines der wichtigsten Probleme dieser Theorie wird angesehen, dass das linguistische Niveau der oberen oder auch unteren Schwellen nicht klar dargestellt wurde. Weiterhin wird kritisiert, dass der theoretische Gesamtansatz auf rein linguistischen und kognitiven Faktoren basiert. Es ist jedoch nicht anzuzweifeln und wurde in vielen Untersuchungen festgestellt, dass auch soziale (soziale Schicht, Ausbildung der Eltern, Kontakt mit Gleichaltrigen), personale (sprachliche Begabung) und emotionale Komponenten (Motivation, Gefühle und Einstellungen gegenüber Sprache und Kultur) mit berücksichtigt werden müssen, um erklären zu können, warum manche Kinder von der Zweisprachigkeit profitieren und andere nicht.
Zusammenfassend kommt man zum dem Schluss, dass die eingangs gestellte Frage differenziert beantwortet werden muss. Die zweisprachige Erziehung allein kann weder als Gefahr noch als Chance für die kindliche Entwicklung angesehen werden. In dem gesamten Faktorensystem, das für die Entwicklung des Kindes verantwortlich ist, spielt die Zweisprachigkeit eher die Rolle eines „Multiplikators“. Mit anderen Worten, wenn einige von den intrinsischen oder externen Bedingungen, welche die kognitive, sprachliche und emotionaler Entwicklung eines Kindes beeinflussen, problematisch sind, werden Schwierigkeiten oder auch Störungen in diesen Entwicklungsbereichen auftreten. Dann ist zu erwarten, dass das Erscheinungsbild dieser Schwierigkeiten und Störungen durch den Faktor Zweisprachigkeit noch mehr verschlechtert werden kann. Im Gegensatz dazu wird, wenn die Entwicklung eines zweisprachigen Kindes ohne Probleme verläuft, weil die meisten der verantwortlichen Faktoren positiv geprägt sind, höchstwahrscheinlich durch die Zweisprachigkeit eine Intensivierung des positiven Entwicklungsverlaufs in den meisten Entwicklungsbereichen festzustellen sein.
Prinzipien der mehrsprachigen Erziehung
Abschließend möchte ich auf zwei der wichtigsten Faktoren bzw. Prinzipien einer mehrsprachigen Erziehung eingehen, die für einen erfolgreichen Spracherwerb große Bedeutung haben. Dabei möchte ich auch auf mögliche Gefahren aufmerksam machen.
Das in der Literatur als „one person, one language“ bekannte Prinzip wurde bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts als sehr wichtig erachtet. Dieses Erziehungsprinzip besagt, dass jeder Elternteil mit dem Kind immer seine Erstsprache spricht. Für Einwandererfamilien bedeutet das, dass in der Familie die Sprache der Familie und nicht die Sprache der Umgebung gesprochen werden sollte. Dadurch kann jede Sprache mit einer Person oder mit bestimmten Situationen gebunden werden („funktionale Sprachtrennung“), was wiederum eine klare Unterscheidung der Sprachsysteme bewirkt. Dies ermöglicht dem Kind, die unterschiedlichen phonologischen Inventare, Lexika und Regelsysteme zu differenzieren und sie auf diese Art und Weise simultan zu erwerben. Mischungen der Sprachen während der Kommunikation führen zu verstärkten Erscheinungen von Sprachmischungen in der kindlichen Sprache, sowie zu Interferenzen, die nicht innerhalb einer normalen entwicklungsbedingten Zeitspanne überwunden werden könnten. Sicherlich darf man nicht behaupten, dass die funktionale Sprachtrennung der einzige und entscheidende Faktor des simultanen zweisprachigen Spracherwerbs ist. Ebenso wichtig sind die Fähigkeiten des Kindes und die Sprachlernstrategien, die es dabei anwendet.
Ein weiterer wichtiger Faktor einer zweisprachigen Erziehung ist der Status, d.h. der soziale Wert, den die einzelne Sprache für das bilinguale Kind hat. Wir wissen, dass der Status einer Sprache unter anderem auch vom sprachlichen Vorbild beeinflusst wird. Die Qualität dieses Einflusses hängt wiederum von der Intensität der sprachlichen Zuwendung ab, die beide Elternteile beiden Sprachen entgegenbringen. Dabei ist die emotionale Zuwendung, die dem Kind in der einzelnen Sprache entgegengebracht wird, sehr wichtig. Es ist in mehreren Untersuchungen bewiesen, dass die affektive Bindung, die ein Kind zu einer Person seiner Umgebung hat, sich stark auf den Erwerb von dessen Sprache auswirkt. Eine negative emotionale Bindung kann bis hin zu einer Sprachverweigerung führen. Weiterhin sind die Gelegenheiten der Übung, die das Kind in jeder Sprache hat, für den relativen Status, den eine Sprache bekommen kann, wichtig. Wird eine der beiden Sprachen untergewichtet und damit kommunikativ zu wenig geübt, bilden sich längerfristig beim Kind in dieser Sprache eingeschränkte Sprachfertigkeiten aus, die vom Kind unbewusst oder auch bewusst wahrgenommen werden. Die daraus resultierende verminderte sprachliche Kompetenz in der Kommunikation baut Barrieren auf und trägt dazu bei, dass der Status dieser Sprache rapide sinken wird. Hierbei besteht die Gefahr, dass das Kind diese Sprache zunehmend vermeidet, was wiederum bewirkt, dass das Kind immer weniger Übung bekommt. Es entsteht ein negativer Kreislauf, der bald nur noch schwer zu durchbrechen ist. Auch die objektive Nützlichkeit für Verständigungszwecke wirkt sich auf den Status der jeweiligen Sprache aus. Wenn das Kind erfährt, dass es sich in der einen Sprache überall verständigen kann, verringert sich die Motivation, die andere zu gebrauchen. Dies ist wiederum gerade für die schwächere Sprache eine große Gefahr. Zum Erwachsenenalter hin gewinnt die Funktion an Bedeutung, die eine Sprache für das soziale Fortkommen hat. Dies ist eng mit dem Sprachprestige, die eine Sprache in einer Gesellschaft hat, verbunden. Auch der literarisch-kulturelle Wert, den eine Sprache hat, kann auf den relativen Status der Sprache Einfluss nehmen. Sicherlich sollten die Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen, ein individuelles Gespür dafür entwickeln, was für ihr Kind wichtig und notwendig ist, um den Status jeder Sprache so weit zu festigen, dass das Kind jede der beiden Sprachen als eines seiner Kommunikationsmittel ansieht.
Die zwei hier vorgestellten Aspekte der mehrsprachigen Erziehung, die funktionale Trennung der Sprachen und die Förderung des gleichen Status für beide Sprachen, die als grundlegende Prinzipien einer mehrsprachigen Erziehung gelten können, sind sowohl für Eltern mehrsprachiger Kinder als auch für Pädagogen, die mit ihnen täglich in Kontakt kommen, von Bedeutung. Die Berücksichtigung dieser Prinzipien kann sicherlich nicht allein den Erfolg einer mehrsprachigen Erziehung garantieren, trägt aber wesentlich zu einer positiven Beeinflussung sowohl der sprachlichen, als auch der emotionalen kindlichen Entwicklung bei.
Der vollständige Beitrag einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. Vassilia Triarchi-Herrmann ist Dozentin der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen und Lehrbeauftragte der Ludwig-Maximilians-Universität München
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