12 Aug fK 6/03 Reportage
Wenn ich im Kindergarten bin, dann lache ich auf Deutsch
Zweisprachigkeit als Ressource
von Jörg Maywald
Berlin Bülowstraße, dort wo die Hauptstadt besonders bunt ist. Am Schnittpunkt der Bezirke Kreuzberg, Schöneberg und Tiergarten wohnen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten auf engem Raum zusammen. Draußen auf der Straße ist es laut und hektisch, drinnen in den Wohnungen kann es gemütlich und gastfreundlich sein. So wie bei Familie Senocak. Das Gespräch mit den beiden jungen Eltern ist auch deshalb so interessant, weil sie nicht in die bestehenden Klischees passen, die sich – zumeist unhinterfragt – mit Türken verbinden, die in Deutschland leben.
Herr Senocak ist Anfang dreißig und in Deutschland geboren. Seine Eltern kamen 1968 als Gastarbeiter nach Berlin, das sich dann allmählich – nicht zuletzt durch die Geburt und das Aufwachsen der Kinder – für sie zur neuen Heimat entwickelt hat. Bis heute wird im elterlichen Haus ausschließlich türkisch gesprochen. Da er schon mit zwei Jahren den Kindergarten besuchte, ist Herr Senocak parallel in die deutsche Sprache hineingewachsen. Heute ist es für ihn schwierig, eine der beiden Sprachen als seine Muttersprache zu bezeichnen: „Bei mir sind beide Sprachen gleichermaßen stark ausgeprägt.“
Zumindest für den deutschen Teil kann das sein deutschsprechender Gesprächspartner sofort bestätigen. Herr Senocak spricht ein akzentfreies und nuanciertes Deutsch, allenfalls ein leichter Berliner Tonfall ist auszumachen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass er seine Sprachfertigkeiten mittlerweile zum Beruf macht: er befindet sich in der Ausbildung zum Logopäden, mit dem Ziel, deutsche und türkische Kinder bei Sprachproblemen zu unterstützen. „Nach Jahren der Suche habe ich meinen Traumberuf gefunden“, kommentiert er diese Entscheidung.
Frau Senocak gehört ebenfalls zur zweiten Generation der in Deutschland lebenden Türken. Wie ihr Mann wurde sie Anfang der 1970er Jahre in Berlin geboren. Das Abitur machte sie in der Türkei, kam dann nach Deutschland zurück, um Sozialpädagogik zu studieren. Zur Zeit arbeitet sie in einer Zufluchtsstätte für misshandelte Frauen und studiert Germanistik. Von sich sagt sie, dass ihr Leben auf zwei Beinen ruht: „Ich habe nie zwischen zwei Kulturen gelebt, sondern immer mit zwei Kulturen.“
In beiden Sprachen kann Frau Senocak sich bestens ausdrücken. Aber es gibt Unterschiede in der Bewertung: „An der türkischen Sprache liebe ich das Poetische. Ich kann darin sehr schön Emotionen beschreiben. In bestimmten Lebensbereichen kann ich mich einfacher in der deutschen Sprache bewegen, weil sie mir alltäglicher ist. In anderen Lebensbereichen kann ich mich besser in der türkischen Sprache bewegen. Bezogen auf meine Arbeit haben immer beide Sprachen eine Rolle gespielt.“
Gute Vorsätze und die Realität des Alltags
Als 1998 die Tochter Tanyel geboren wurde, nahmen sich Herr und Frau Senocak vor, ihr Kind zweisprachig aufwachsen zu lassen. „Wir haben uns extra einen Namen für sie ausgesucht, der so ein bisschen kompatibel ist im Deutschen“, erläutert der Vater. Tanyel ist ein türkischer Mädchenname, zusammengesetzt aus Tan (Horizont) und Yel (Brise), der auch für deutsche Zungen leicht auszusprechen ist.
Anfangs wollten die Eltern beide Sprachen unter sich aufteilen, so wie sie es aus Büchern entnommen hatten. Der Vater sollte für Deutsch, die Mutter für Türkisch zuständig sein. Dieser Vorsatz aber hat nicht lange gehalten. Herr Senocak: „Nun war es aber so, dass wir nach der Geburt unserer Tochter in einer ganz anderen Welt steckten. Türkisch ist eine Sprache, da sind gewisse Floskeln schwer ins Deutsche zu übersetzen. Da ist alles sehr viel gefühlsbetonter, kitschiger könnte man sagen. Und das war auch genau so die Welt, in der wir steckten. Da fiel es mir schwer, meine neugeborene Tochter auf Deutsch zu kosen. Ich habe vielleicht eine Woche versucht, mit ihr Deutsch zu sprechen und dann habe ich gesagt, ich mach nicht mit, das kann ich einfach nicht. Türkisch war für mich auf jeden Fall gefühlsbetonter, das war das Ausschlaggebende, warum ich das nicht durchhalten konnte. Da war der Einfluss der türkischen Sprache stärker, in den ersten Jahren.“
Die Wende kam zweieinhalb Jahre später, als Tanyel in den Kindergarten ging. Schnell passte sie sich ihrer Umgebung an und lernte die deutsche Sprache. Und sie begann Fragen zu stellen, zum Beispiel nach ihrer Herkunft und Zugehörigkeit: „In ihrem kleinen Kopf herrschte damals eine Art Identitätskrise, dass sie dann nach Hause gekommen ist und sagte: «Mama, wie ist das jetzt, ich kann ja jetzt Deutsch, und wenn ich im Kindergarten bin und Deutsch spreche, bin ich dann eine Deutsche?» «Nein, du bist eine Türkin und das wird auch immer so bleiben, weil Mama und Papa Türkisch sind und du dann auch». «Aber wenn ich im Kindergarten lache, dann lache ich doch Deutsch!» Das hat ganz schön gerattert in ihrem Kopf. Das war für sie gar nicht so einfach zu verstehen, warum wir dann in Deutschland leben und nicht in der Türkei“, erinnern sich die Eltern.
Als Tanyel so schnelle Fortschritte im Deutschen machte, schwenkten auch die Eltern um. Das Türkische rückte in den Hintergrund. „Das wird auch deutlich, wenn sie jetzt phasenweise Türkisch spricht. Dann macht sie das mit deutschem Akzent, dann färbt die stärkere Sprache ab. Und wenn wir in die Türkei zu Verwandten fahren, erkennen sie, dass Tanyel aus Berlin kommt, wegen des deutschen Akzents. Es fehlen ihr auch Vokabeln, Worte lockeren kindlichen Sprechens“, berichtet Herr Senocak. Und seine Frau ergänzt: „Also sie versteht wirklich alles, was ich auf Türkisch sage, und manchmal antwortet sie dann auf Türkisch, aber ich merke schon, dass es ihr sehr viel einfacher fällt, auf Deutsch zu antworten.“ Nur bei den Großeltern wird konsequent Türkisch gesprochen: „Meine Eltern haben von mir die Order, mit ihr Türkisch zu sprechen. Weil sie nach wie vor auch nach dreißig Jahren kein korrektes Deutsch sprechen. Und sie antwortet ganz einfach auf Deutsch. Manchmal antwortet sie auch auf Türkisch“, erzählt der Vater.
Wir sind hier in Deutschland, also wird hier Deutsch geredet!
So selbstverständlich wie zu Hause werden nicht überall zwei Sprachen akzeptiert. Als Tanyel eines Tages aus dem Kindergarten kommt und von einer Erzieherin berichtet, die den Kindern ihre Muttersprache mit dem Hinweis verboten habe, schließlich seien wir hier in Deutschland, also werde auch deutsch geredet, reagiert Frau Senocak entsetzt: „Da habe ich gemerkt, wie sich mir meine Nackenhaare gesträubt haben. Denn ich musste Sätze wie diese lange genug hören. Mich hat nie jemand gefragt, sprichst du eigentlich auch Türkisch, wenn du so gut Deutsch sprichst. Interessant war nur, dass man mir natürlich ansieht, dass ich Ausländerin bin, Nicht-Deutsche oder Nicht-Muttersprachlich-Deutsche und dass ich gut Deutsch spreche. Aber meine eigentliche, meine Muttersprache, stand nie im Vordergrund. Das war nie von Interesse. Und mein Kind soll nicht mit diesem Satz aufwachsen. Sondern sie soll genauso viel Spaß an der deutschen Sprache haben wie an der türkischen Sprache. Ich bin eine strenge Vertreterin davon, dass Zweisprachigkeit als Ressource gesehen wird. Und das vermittele ich auch meinem Kind, und natürlich auch meiner Umgebung.“
Sie spricht den Vorfall auf der nächsten Elternversammlung an und bittet die Erzieherinnen, die Kinder mit der Sprache wertzuschätzen, mit der sie in den Kindergarten kommen und dann darauf mit der deutschen Sprache aufzubauen. Anderen Eltern in derselben Situation rät sie, in den ersten Jahren des Kindes vor allem die Muttersprache zu pflegen: „Ich würde schon sagen, dass auf jeden Fall erst die Muttersprache stabil werden soll. Und dann sollen die Eltern die deutsche Sprache natürlich auch selbst erlernen. Wenn die Muttersprache zu Hause gesprochen wird, dann ist es sicherlich nicht falsch, wenn draußen in bestimmten Situationen mit dem Kind Deutsch gesprochen wird. Und wenn das Kind dann mit zwei Jahren, was ich für ein gutes Alter halte, in den Kindergarten kommt, dass es dann auch mit der deutschen Sprache aufwächst.“
Frau Senocak beklagt aber auch, dass viele Eltern sich nicht ausreichend bewusst sind, wie wichtig Sprache für ihre Kinder ist: „Kinder können ja nur so gut die Sprache lernen, wie der Input ist. Wie stark sich die Eltern mit ihren Kindern beschäftigen oder wie stark sich die Eltern den Kopf darüber zerbrechen, in welche Einrichtung die Kinder kommen, in Kindergarten oder Schule. Das sind, glaube ich, einfach diese fehlenden Informationen, dass Eltern teilweise nicht das Bewusstsein haben, bis zu welchem Alter die Muttersprache sitzen sollte. Und auch, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass ihr Kind plötzlich eine Weile nur Deutsch spricht, was nicht heißt, dass die Muttersprache völlig verloren ist. Auch, dass sie sich nicht nur darauf verlassen, ja, ich gebe das Kind eben in den Kindergarten und das reicht. Oder auch, dass die Kinder relativ spät in den Kindergarten kommen, wenn überhaupt. Viele türkische Kinder gehen ja gar nicht in den Kindergarten, weil die Mutter zu Hause ist. Und wir wissen, dass es in Berlin Schulen gibt, welche die Quote nicht beherzigen und der Entwicklung hinterherhinken, weil einfach der Ausländeranteil zu hoch ist. Wichtig ist auch der Kontakt zu Gleichaltrigen, egal welcher Sprache. Kinder lernen eben vor allem im Spiel. Es gibt doch dieses Sprichwort: Çocuk çocukdan alir (Ein Kind nimmt von einem Kind eher als von einem Erwachsenen).“
Unser Ziel ist, aus ihr einen Weltmenschen zu machen
Für die Zukunft ihrer Tochter wünschen sich beide Eltern vor allem, dass sie ein selbstbewusster Mensch wird. Frau Senocak: „Wir haben immer einen Traum, dass wir ihr so viele Kulturen wie möglich nahe bringen können. Dass sie im Einklang mit ihrer Muttersprache und Mutterkultur lebt und mit der Kultur, in der sie hier lebt und dass sie genauso auch mit anderen Kulturen respektvoll umgehen kann, tolerant umgehen kann. Und dadurch, dass man respektvoll anderen Kulturen gegenüber umgehen kann, entwickelt man auch einen Respekt anderen Sprachen gegenüber. Und diese Offenheit macht dann auch, dass man zugänglicher für anderen Sprachen wird.“
Und sie hofft, dass Tanyel weniger als sie selbst mit Vorurteilen zu kämpfen hat: „Oft spüre ich das Erstaunen, vor allem mir gegenüber als türkischer Frau. Du studierst, du kannst nachts lange weg bleiben, sprichst hervorragend Deutsch, und das alles als türkische Frau, wo ich immer denke, welches Bild besteht eigentlich von einer türkischen Frau, und dass dieses Bild oft sehr einseitig ist.“
Ihr Mann pflichtet ihr bei: „Oftmals gibt es diese Klischees, dass dann nur noch die Frage fehlt: Und deine Frau, trägt sie dir auch die Aldi-Tüten hinterher? Woher habt ihr dieses Bild? Das ist sehr, sehr anstrengend. Das Bild wird aber auch irgendwie geschaffen und es wird zu wenig dagegen getan, um dieses Bild zu entkräften. Unser Ziel ist, dass wir aus ihr so einen Weltmenschen machen. Das hängt natürlich sehr von den Finanzen ab.“
Während des Gesprächs mit den Eltern kommt Tanyel immer wieder einmal hinzu, wirft ein paar deutsche Sätze ein, hört sich die Antworten der Eltern auf Deutsch oder Türkisch an. Ein Stück der von ihrem Vater gewünschten Weltläufigkeit hat sie auch ohne viele Mittel bereits verwirklicht: ihre Puppen heißen Lucy, Ayse und Hasi. Lucy ist eine schwarze Puppe, Ayse eine strohblonde Puppe mit blauen Augen und Hasi ist einfach ein Hase.
Dr. Jörg Maywald ist Soziologe und Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind
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