25 Jun fK 5/09 Schoenfelder
Interkulturelle Familienberatung: Lernen für alle Beteiligten
Die interkulturelle Familienberatung des Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. in Berlin
von Christian Schoenfelder
Eltern und Lehrer(innen) gründeten 1946 in Berlin den Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. (ANE). Ihre Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren ihnen noch ganz gegenwärtig und sie wollten dem erzieherischen Gedankengut der Diktatur ein neues, partnerschaftliches Konzept vom Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen entgegensetzen. Ihr Demokratieverständnis – gegenseitige Achtung und Toleranz, Interessenausgleich und Konfliktregulierung – prägt unsere Arbeit bis heute: Wir unterstützen Eltern dabei, ihre Kinder zu selbstbewussten und wachen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft zu erziehen, die ihr Gegenüber respektieren und bereit sind, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Unsere Ansprechpartner sind alle Eltern, unabhängig von ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft.
Ein Angebot ist die interkulturelle Familienberatung. Für Familien mit Migrationserfahrung bieten wir Beratung in verschiedenen Sprachen an, die von Berater(inne)n durchgeführt wird, die selbst einen Migrationshintergrund haben oder die – ohne Migrationserfahrung – über die erforderlichen Sprach- und Kulturkenntnisse verfügen. Für den Beratungsprozess ist dadurch von vornherein eine Schranke genommen: die Klient(inn)en müssen sich weniger mit ihren kommunikativen Fähigkeiten und ihrem kulturellen Hintergrund der „Minderheitenkultur” auseinandersetzen, sondern können davon ausgehen, als Migrant(inn)en akzeptiert und verstanden zu werden. Insofern stellt Interkulturalität ein bedeutsames schwellensenkendes Moment für eine unserer Zielgruppen dar.
Für Klient(inn)en deutscher kultureller Herkunft bedeutet die interkulturelle Kompetenz der Berater(innen) – insbesondere, wenn diese selbst aus einer anderen Kultur stammen – einen Zugewinn an neuen Fragestellungen und Blickwinkeln und damit neue Erlebens- und Lösungsoptionen.
Co-Beratung von nicht-deutsch/deutschen Berater(inne)n in der Paar- und Familienberatung bietet als spezielle Form von Beratung ein außerordentlich wichtiges Lernfeld. Dabei machen alle Beteiligten praktische Erfahrungen in der Akzeptanz des Anderen oder des als fremd Erscheinenden beim Gegenüber, werden sensibel für interkulturelle Themen und den sprachlichen Umgang damit. Die Berater(innen) entwickeln eine „interkulturelle beraterische Haltung”. Die bisherigen Erfahrungen und daraus resultierenden Erwartungen, die sich aus der jeweiligen Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Mehr- bzw. Minderheit ergeben haben, werden in dieser Arbeitskonstellation gespiegelt: Die Klient(inn)en können beobachten, wie Integration im positiven Sinne machbar ist und gegebenenfalls davon lernen, so wie auch die Berater(innen) sich mit den Klient(inn)en in einem Lernprozess befinden.
Gerade bi-kulturelle Paare profitieren von diesem Beratungssetting, da besonders bei ihnen die kulturellen Unterschiede und deren sprachlicher Ausdruck zu Missverständnissen führen und die Nichtakzeptanz von Fremdheit und Anderssein des Partners zu manifesten Partnerkonflikten führen können. Eine wesentliche Aufgabe der Paarberatung ist es, die Kommunikation wieder in Fluss zu bringen und gegenseitige Wertschätzung zu fördern.
Grundlagen der Arbeit der interkulturelle Familienberatung sind:
– umfassendes Wissen über Geschichte und Ursachen von Migration und über die aktuelle soziale Situation der Migrant(inn)en;
– Berücksichtigung der Heterogenität der Migrationspopulation;
– fundierte Kenntnisse der gesellschaftlichen, familiendynamischen und psychologischen Begleitprozesse von Migration;
– Kenntnisse über die religiösen, kulturellen und politischen Hintergründe der Einstellungen und Erziehungsvorstellungen der Migrant(inn)en sowie deren kritische Reflexion;
– Angebot muttersprachlicher und fremdsprachlicher Information und Beratung;
– Angebot von Beratung durch Fachkräfte nicht-deutscher Herkunft;
– Offenheit und Respekt der beratenden Fachkräfte und der Institution den Migrant(inn)en gegenüber;
– Verteilung von Aufgaben im Team nach fachlicher Kompetenz und unter fachlichen Gesichtspunkten;
– interkulturelle Kompetenz als integraler Bestandteil der Qualitätssicherung.
Die aufgeführten Punkte sind keineswegs als schon abschließend umgesetzt anzusehen, sondern gelten für uns als Zielorientierung und permanente Herausforderung.
Interkultureller Ansatz: Beispiele
Beispiel 1
Eine deutsche Beraterin arbeitet mit einem arabisch/deutschen Paar: Es ist Fastenzeit, und der nächste vorher vereinbarte Termin fällt genau auf den Zeitpunkt des abendlichen Fastenendes. Die Beraterin weiß Bescheid – hungrig ist nicht gut reden – und der Termin wird auf einen anderen Zeitpunkt verlegt.
Beispiel 2
Eine Beraterin türkischer Herkunft arbeitet mit einer deutschen Klientin. Die Klientin gerät ins Stocken, als es um die Erfahrungen mit ihrem Vater geht, der im Deutschland der Nachkriegszeit aufgewachsen ist. Es wird gemeinsam herausgearbeitet, dass die Klientin befürchtet, die Beraterin zu verletzen, wenn sie von zumindest subtil fremdenfeindlichen väterlichen Aktivitäten berichtet und dass sie sich schämt, weil sie denkt, dass sich die Beraterin mit den derzeitigen rassistischen Ereignissen auseinandersetzen muss. Die Beraterin greift diese verzwickte Situation in der Beratung auf und erreicht dadurch sowohl eine Enttabuisierung der Thematik als auch eine Intensivierung der gegenseitigen Wahrnehmung.
Beispiel 3
Ein türkisch/deutsches Beratungspaar arbeitet mit einem türkisch/deutschen Paar. Das Beraterduo ist nicht nur kulturell unterschiedlicher Herkunft, sondern auch multiprofessionell besetzt (z. B. ein deutscher Psychologe und eine Familientherapeutin türkischer Herkunft). Der türkisch sprechende Klient kann sich nach seiner eigenen Einschätzung nicht in jeder Situation in der deutschen Sprache präzise genug artikulieren, so dass einige Sequenzen der Beratung in türkischer Sprache geführt werden. Diese werden nicht übersetzt. Der deutsche Kollege konzentriert sich während dieser Passagen auf die nonverbale Ebene und hält die Situation des verbalen Nichtverstehens aus. In der Nachbesprechung der Beratungssitzung sagt der Psychologe, er habe zeitweise das Gefühl gehabt „in einem anderen Film gewesen zu sein” – und die Familientherapeutin fragt sich, ob sie während der türkischsprachigen Dialoge ihrem Kollegen gegenüber loyal genug gewesen sei. Ein konstruktiver und kritischer Fachdisput beginnt und setzt gemeinsame Lernprozesse in Gang.
Der interkulturelle Beratungsansatz ist eine Bereicherung sowohl für die Klient(inn)en als auch für die Berater(innen): Die Klient(inn)en profitieren von der doppelten Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit sowie von der interkulturellen Herangehens- und Denkweise. Die Berater(innen) gewinnen eine zusätzliche Qualifikation, indem sie interkulturell denken und arbeiten lernen.
Interkulturelle Angebote des Arbeitskreis Neue Erziehung e.V.
• – Extrabriefe zur Sprachentwicklung und Sprachförderung in Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Serbisch und Türkisch
• – Türkisch-Deutsche Elternbriefe
• – Interkulturelle Familienberatung
• – Datenbankservice „BerlinerElternNetz (BEN)“ mit interkulturellen Angeboten
• – Türkisch-Deutsche Schulinfos
• – Extrabrief „Kinder unterwegs“ zur Mobilität in türkischer Sprache
• Weitere Informationen unter www.ane.de
Christian Schoenfelder ist Leiter der Interkulturellen Familienberatung des Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. in Berlin.
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