25 Juni fK 5/09 Editorial
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Zuwanderungsgeschichte, rund vier Millionen sind muslimischen Glaubens. In wenigen Jahren wird jedes zweite Kind im Kindergarten aus einer Familie mit Migrationshintergrund kommen, das heißt mindestens ein Eltern- oder Großelternteil ist nach Deutschland eingewandert. Die multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft ist längst eine soziale Tatsache.
Damit das Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft gelingt, sind Anpassungsleistungen sowohl bei den Zugewanderten als auch bei den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft notwendig. Hierzu gehört die Einigung auf ein gemeinsames Wertefundament. In einer sich globalisierenden Welt kann dies nur der Bezug auf die Allgemeinen Menschenrechte sein, deren Kernelemente auch Bestandteil des Grundgesetzes und der EU-Grundrechtecharta sind. Der Verweis allein auf so genannte traditionelle Werte reicht demgegenüber als Wertebezug nicht aus.
Eine Kultur des Respekts vor Unterschieden, die nicht durch falsche Beliebigkeit gekennzeichnet sein darf, muss früh erfahren und eingeübt werden. Als Übungsfeld interkulturellen Verstehens kommt dem Kindergarten hierbei eine zentrale Bedeutung zu. Nicht nur als Katalysator der Sprachentwicklung, sondern vor allem als Ort, an dem individuelle, soziale und kulturelle Verschiedenheit geachtet sowie Gemeinschaft gelebt und Solidarität gefördert werden.
Eine „Pädagogik der Vielfalt“ verlangt von den Erzieher(inne)n ganz neue Balancierungsfähigkeiten: weder Gleichmacherei oder die Leugnung von Unterschieden noch das Zuschreiben angeblich „typischer“ kulturbedingter Merkmale sind hilfreich. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz und damit verbunden die Fähigkeit, die kulturelle Verwurzelung des eigenen Fühlens und Denkens zu erkennen, muss zur Basisausstattung pädagogischer Ausbildungen gehören. Hilfreich ist auch, wenn das pädagogische Personal mehr als bisher über Zuwanderungserfahrungen verfügt.
Entscheidend für den Erfolg einer multikulturellen Gesellschaft wird sein, die Erfahrung der Migration nicht nur als Belastung oder gar Problem, sondern ebenso als Ressource zu verstehen. Viel zu lange hat sich die Debatte über Integration einseitig an Defiziten orientiert. Zugewanderte und deren Kinder sind aber nicht nur Nehmende, sondern auch Gebende. Die großen Potentiale gerade der jungen Migrant(inn)en zu nutzen, bereichert die Gesellschaft insgesamt. Voraussetzung dafür allerdings ist die Herstellung dessen, woran es noch allzu oft gravierend mangelt: Chancengerechtigkeit für alle!
Mit herzlichen Grüßen
Prof. Dr. Franz Resch, Präsident der Deutschen Liga für das Kind
Dr. Jörg Maywald, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind
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