30 Jun fK 5/08 Kauffmann
Flüchtlingskinder – Leben unter Vorbehalt
von Heiko Kauffmann
Im Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert sie wirklich sind. Daran gemessen, verletzt die deutsche Politik – 15 Jahre nach der gravierenden Änderung des Asylrechts und mehr als 16 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) in Deutschland – massiv die Lebenschancen und Rechte von Flüchtlingskindern und ignoriert ihre völkerrechtlichen und besonderen staatlichen Schutz- und Fürsorgepflichten ihnen gegenüber.
Sie kommen aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus dem Libanon, Irak, Kosovo, Rumänien, aus Angola oder Iran. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst oder Verfolgung, vor Hunger, Kinderhandel, Kinderarbeit, Prostitution, vor sexueller Diskriminierung wie Genitalbeschneidung oder Zwangsverheiratung, vor Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen. Es geht um Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind, so genannte UMF’s, wie es in der deutschen Behördensprache heißt: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl dieser in Deutschland ohne ihre Eltern lebenden Flüchtlingskinder geschätzt. Doch gerade diejenigen, die am meisten Schutz bedürfen, sind in der Bundesrepublik durch eine so genannte Vorbehaltserklärung von den in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Rechten ausgeschlossen. In der Erklärung heißt es u. a.: Die Bundesrepublik Deutschland erklärt „dass das Übereinkommen innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung findet“. Keine Bestimmung der UN-Kinderrechtskonvention könne dahin ausgelegt werden, „dass sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“.
In der Praxis führt die Vorbehaltserklärung zu einer rechtlichen Blockade mit der Folge, dass internationale Völkerrechtsstandards für Flüchtlingskinder in Deutschland nicht gelten. Sie werden mit 16 Jahren (anstatt mit 18 Jahren, wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht) als verfahrensmündig angesehen, unterliegen dem restriktiven Asylbewerberleistungsgesetz sowie einem faktischen Ausbildungs- und Arbeitsverbot. Sie können in Abschiebungshaft genommen und ohne Begleitung abgeschoben werden. Täglich haben Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingsräte mit jungen Flüchtlingen zu tun, die nach erfolgreichem Abschluss der Schule an die engen Grenzen der ausländerrechtlichen Auflagen stoßen, was die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums erheblich erschwert.
Wenn ein Staat offen erklären würde, er behalte sich das Recht vor, „Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“, also Menschen aufgrund ihrer Herkunft anders und schlechter behandeln zu können, würde er zu Recht öffentlich als Apartheid-System angeprangert und sein Verhalten als diskriminierend gebrandmarkt werden. Genau dieses Recht aber nimmt sich die Bundesregierung mit der so genannten Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention. Sie unterscheidet zwischen Kindern deutscher und anderer Herkunft. Völlig zu Recht hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages daher diese Erklärung als „nicht mit Ziel und Zweck der Konvention vereinbar“ bewertet.
Auch der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes in Genf – der schon bei Vorlage des ersten deutschen Staatenberichts 1995 heftige Kritik geübt und wesentliche Schutzbestimmungen für Flüchtlingskinder als „offensichtlich nicht gewährleistet“ angesehen hatte – bekräftigte in den Verhandlungen über den zweiten deutschen Staatenbericht am 30. Januar 2004 und in den abschließenden „Concluding Observations“ seine Kritik und seine Besorgnisse wegen der deutschen Praxis.
Wegen der grundlegenden Bedeutung für die Einhaltung der Rechte von Flüchtlingskindern hat der Ausschuss 2005 einen „General Comment“ verfasst („Allgemeine Bemerkung Nr. 6 – Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes“). Diese von den Menschenrechtsausschüssen zu noch offenen oder strittigen Problemen verfassten Kommentare dienen dazu, unbestrittene Staatenverpflichtungen in zentralen Fragen umfassend zu interpretieren, mit Anwendungshinweisen zu versehen und rechtlich weiterzuentwickeln. Der „General Comment“ Nr. 6 unterstreicht, dass die deutsche (Vorbehalts-)Erklärung niemanden, weder den Staat noch seine Behörden, entbindet, jedes Kind gleich welcher Herkunft und unabhängig davon, ob es nach politischen Zielvorstellungen willkommen ist oder nicht, entsprechend den im Übereinkommen vereinbarten Rechten zu behandeln. Insbesondere geht es um die Verpflichtung, das Wohl des Kindes als vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt einzubeziehen (Artikel 3), auf seine Stimme bei der Suche nach Lösungen zu hören (Artikel 12) und ihm den Schutz und die Förderung zu gewähren, die jedem Kind zustehen (Artikel 2). Der deutsche Vertreter im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, Prof. Dr. Lothar Krappmann, hat wiederholt darauf hingewiesen, dass diese „Allgemeinen Bemerkungen“ über die Behandlung von Flüchtlingskindern hierzulande zum Umdenken und zu einer neuen Praxis führen müssen.
Der Völkerrechtler Prof. Christian Tomuschat sieht in einem Gutachten für PRO ASYL den Vorbehalt als „gegen das Herzstück des menschenrechtlichen Schutzsystems gerichtet, indem es eine Scheidelinie zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen aufrichtet“. Und: „Es ist die zentrale Leitlinie aller Menschenrechtsabkommen, dass eigene und fremde Staatsangehörige im Grundsatz gleichgestellt sein sollen. (…) Wenn indes ein genereller Vorbehalt gemacht wird, wird die Axt an einen Grundpfeiler des Menschenrechtsschutzes gelegt. Wie im 19. Jahrhundert werden die Grundrechte auf Rechte der Bürger des eigenen Staates reduziert.“
Trotz dieser schwerwiegenden Kritik und der eindeutigen und mit höchster Dringlichkeit versehenen Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages vom 26.9.2001, trotz wiederholter Beschlüsse des Bundestages zur Rücknahme der Erklärung und trotz des jahrelangen Einsatzes zahlreicher Organisationen aus dem Kinder- und Menschenrechtsbereich sowie von Wohlfahrtsverbänden und Kirchen und zunehmend auch von Schulen und Jugendinitiativen geht auch das seit dem 1.1.2005 geltende Zuwanderungsgesetz nicht angemessen und mit der notwendigen Angemessenheit auf die Situation von Kinderflüchtlingen ein. Darauf hatten Politiker aller Parteien im Vorfeld der Neuregelung aber immer wieder hingewiesen.
Auch im Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union wird weder im Aufenthaltsgesetz, noch im Asylbewerberleistungsgesetz oder im Asylverfahrensgesetz – trotz klarer Vorgaben in den Richtlinien – das Prinzip des Vorrangs des Kindeswohls gesetzlich verankert. Es enthält im Gegenteil eine Vielzahl drastischer zusätzlicher Verschärfungen. Inzwischen kommt es – im Rahmen von Dublin II – immer häufiger zu rechtswidrigen Rücküberstellungen von Kindern ohne definitive Prüfung der Zuständigkeit und zur Inhaftierung von Minderjährigen im Dublin II-Verfahren.
Es sind solche Erfahrungen im Umgang mit Behörden, die immer mehr Schüler(innen) und andere Jugendliche an der Politik zweifeln lassen. Schüler einer Gesamtschule, deren Freundin abgeschoben wurde, schrieben an ihre Regierungspräsidentin: „Was können wir noch tun, was müssen wir noch tun? Langsam bekommen wir Angst vor diesem Staat, der für uns immer Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Würde des Menschen gewährleistet hat.“
Am 5.4.2008 war die Kinderrechtskonvention in Deutschland 16 Jahre in Kraft. Es muss gefragt werden, worin der Wert dieser Rechte besteht, wenn die Diskrepanz zwischen den verbürgten Rechten und der Realität für Flüchtlingskinder immer größer wird.
Bei Betroffenen, Menschenrechtlern und anderen Bürgerinnen und Bürgern wächst die Sorge über die Entwicklung unserer Demokratie. Wie sollen Jugendliche sich mit diesem Staat identifizieren können, wenn nun schon fast eine Generation von Betroffenen die Handlungsunfähigkeit bzw. Untätigkeit der Politik und damit den ständigen Widerspruch zwischen Integrationsrhetorik und praktischer Integrationspolitik in für sie lebenswichtigen Fragen erfährt? Wie müssen von Abschiebung aus Deutschland bedrohte Kinder und Jugendliche fühlen und empfinden? Wie aber werden auch deutschen Kindern und Jugendlichen Wert, Würde und Gleichheit einer Person in einem demokratischen Verfassungsstaat vermittelt? Werden nicht auch ihnen mit dieser „Unterscheidung von Staats wegen“ Ressentiments in die Wiege gelegt, die eine verhängnisvolle Wirkung entfalten können? Der Staat mitverantwortlich für fremdenfeindliches Verhalten?
Die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention wurde 1992 im Parlament als „Sternstunde“ für alle Kinder gefeiert; 16 Jahre später ist die Zivilgesellschaft mehr denn je gefordert zu verhindern, dass diese Sternstunde für Flüchtlingskinder als „Sternschnuppe“ verglüht.
Heiko Kauffmannist Vorstandsmitglied von PRO ASYL.
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